Johann Wolfgang von Goethe
(1749-1832)
»Götz von Berlichingen«
Kurzbeschreibung von »Götz von Berlichingen«
Im November und Dezember 1771 schreibt Goethe – wie Shakespeare angeblich ohne "Entwurf oder Plan" (Dichtung und Wahrheit), gleichsam in der Manier des Raritätenkastens Szene an Szene reihend - in ganzen sechs Wochen seine ursprünglich so genannte Geschichte Gottfriedens von Berlichingen mit der eisernen Hand nieder. Diese in einem förmlichen Schreibrausch verfertigte Urfassung des Götz von Berlichingen bricht mit allen dramatischen Konventionen, an die Goethe sich bis dahin noch gehalten hatte. Die Szenenfolge des zeitlich weitgestreckten, von Episoden überquellenden dramatischen Epos mit seinen über fünfzig Schauplätzen, die vom Hofstaat des Kaisers bis zum Zigeunerlager einen Querschnitt durch alle Stände und Schichten der Gesellschaft bieten, sprengte völlig den Rahmen der an die klassizistischen >Regeln< gewohnten Dramatik der Zeit.
Selbst Herder ging dieser Aufstand gegen die Konvention im Namen des von ihm wie Goethe vergötterten Shakespeare zu weit. Goethe bemühte sich daraufhin, das ausufernde Drama in geregeltere Bahnen zu lenken, aber auch in der Druckfassung, die 1773 als anonymer Privatdruck erschien, wurde das Stück vom zeitgenössischen Publikum als literarische Revolution empfunden. Besonders die bald durch die Parole des >Sturm und Drang< zusammengehaltene junge literarische Generation fand in Götz von Berlichingen eine neue Ästhetik des Dramas verwirklicht. Was die Stürmer und Dränger vor allem begeisterte, war der sprachlich wie dramaturgisch kühne Rückgriff auf die Geschichte. Mit Fug und Recht darf man dieses Schauspiel als das erste echte Geschichtsdrama der Weltliteratur bezeichnen. (Walter Scott, der Begründer des historischen Romans, hat es bezeichnenderweise 1799 ins Englische übersetzt.)
Das Neuartige liegt vor allem in dem Versuch, durch die teilweise drastische Sprache (siehe das berüchtigte Götz-Zitat) - ihre Abtönung nach Stand, Milieu und Schauplatz - die Atmosphäre geschichtlicher Vergangenheit zu beschwören. So sehr das die junge literarische Generation begeisterte, so empfindlich verletzte es den Geschmack der an den höfischen Anstandsregeln und den ihnen korrespondierenden poetischen Normen orientierten Generation. Berühmt geworden ist das abfällige Urteil Friedrichs des Großen in seiner Schrift De la littérature allemande (1780), wo Götz als "imitation détestable de ces mauvaises pièces anglaises" (abscheuliche Nachahmung dieser schlimmen englischen Stücke - natürlich vor allem Shakespeares) verurteilt wird.
Der revolutionäre Gestus und spontane Impuls, aus denen das Schauspiel über Götz von Berlichingen hervorgegangen scheint, die unfaßbare Geschwindigkeit, mit der Goethe es zu Papier gebracht hat, können freilich nicht darüber hinwegtäuschen, wie sehr es das Produkt intensiver Vorarbeit ist. Zumal gingen (während der Straßburger Studienzeit) rechtsgeschichtliche und sonstige Quellen-Studien voraus, über die Goethe im dritten Teil von Dichtung und Wahrheit eingehend berichtet hat. Wirklich hat er trotz aller Poetisierung der Geschichte und der Idealisierung der durchaus problematischen Titelgestalt den historischen Wendepunkt, an dem er sein Drama ansiedelt, recht genau getroffen. "Du hast dich selbst überlebt", sagt Götz am Schluß des Schauspiels zu sich selber. Das auf seiner Selbständigkeit beharrende Rittertum wird durch den absolutistischen Zentralstaat, der gegenüber dem ritterlichen „Faustrecht“, d.h. Fehderecht auf sein Gewaltmonopol pocht, unwiderruflich zum Anachronismus. "Die Zeit des Götz und Sickingen ist die interessante Epoche", so exakt pointierend Hegel in seiner Ästhetik, "in welcher das Rittertum mit der adligen Selbständigkeit seiner Individuen durch eine neuentstehende objektive Ordnung und Gesetzlichkeit ihren Untergang findet. Diese Berührung und Kollision der mittelaltrigen Heroenzeit und des gesetzlichen modernen Lebens zum ersten Thema gewählt zu haben, bekundet Goethes großen Sinn."
Prof. Dr. Dieter Borchmeyer: »Sturm und Drang: Straßburg – Frankfurt – Wetzlar«
Auszug aus dem DUMONT Schnellkurs Goethe (2005)
URL: http://www.goethezeitportal.de/index.php?id=803