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Intermedialität und Synästhesie in der Literatur der Romantik

Zeichensuche und Bezeichnungsprozesse in Wilhelm Müllers "Winterreise"

Wilhelm Müller entwirft den Antitypus der bisherigen Wanderlieder, heißt es bei Bosse/Neumeyer. Der Wanderer der "Winterreise" ist im Frühling bei der Geliebten angekommen und bricht in den Winter auf, die traditionelle Situierung von Aufbruch und Einkehr ist verkehrt. Müller interessiert sich nicht für eine Zyklik des Wanderns, noch für eine der Jahreszeiten, sondern konzentriert sich ganz auf die Wanderschaft durch den Winter. Er entlässt seinen Wanderer aber nicht nur in den Winter, sondern auch in die Nacht, und damit gleich doppelt in eine Zeit der Melancholie. Es ist ebenso auffällig, dass in der "Winterreise" keine konkrete Begründung für diesen Aufbruch vorkommt. "Von einem Muss ist gar nicht die Rede, stattdessen werden dem Leser permanent Motivierungsangebote unterbreitet".(1) Indem die Vorgeschichte im Dunkeln bleibt, sich kein individuelles Erlebnis als Auslöser dieser Wanderung anbietet, rückt das Sprechen über die Schmerzen in den Vordergrund. In Müllers "Winterreise" begegnet dem Leser eine "anfanglose, also endlose Leidrede der Melancholie".(2) Dieser unspezifische  Erlebnishintergrund der Gedichte weist darauf hin, dass es Müller um den Ausdruck und die Beschreibung eines unindividuellen Typus des Erlebens geht. Die Verallgemeinerung des Erlebnisses wird auch durch den immer größer werdenden Abstand zu der Geliebten angedeutet. Bereits im Aufbruchslied wird die Distanz zwischen den Geliebten deutlich. Der Aufbruch wird nur als ein im Gesang erinnerter dargestellt, die räumliche Nähe zur Geliebten ist bereits aufgehoben, und Müllers Wanderer muss auf das Zeichen der Schrift zurückgreifen, um sie überhaupt noch erreichen zu können. Der Wanderer, der in der Winterlandschaft umherschweift, begibt sich auf Spurensuche, er sucht nach Zeichen, die im ihm von der Geliebten zeugen. In den Gedichten "Erstarrung" und "Auf dem Flusse" werden Bezeichnungsprozesse und Zeichensuche besonders deutlich. "Der Wanderer bei Müller steht von Anfang an vor dem Problem, wie sich in einer Schneelandschaft überhaupt noch Zeichen der Liebesbeziehung finden lassen. Die eine Möglichkeit besteht, wie bisher entwickelt, im Lied selbst, die andere offenbar in der Beschriftung der Natur." (3)

Im Verlaufe des Gedichtzyklus verschwimmen die Züge der Geliebten immer mehr, bis sie in den letzten Gedichten dann ganz verschwinden. Immer weniger geht es um die "Fortschreibung" der Liebesbeziehung. In den Vordergrund rückt vielmehr die Erstellung eines Schriftbildes der Melancholie. Der kalte und starre Winter wird zum Spiegelbild des Herzens. Müllers Wanderer erscheint dabei zunehmend isolierter und von der Wirklichkeit abgewandter.

 

 

Der Winter als Spiegel der Seele „Erstarrung“

Der Wanderer in der „Winterreise“ ist ein Reisender ohne Ziel und ohne Hoffnung. Er bereist eine Winterlandschaft, die metonymisch für seine Gemütszustand steht, sie ist jetzt nicht mehr nur eine äußere Erscheinung, sondern vielmehr eine Projektionsfläche für seine Gefühle. Äußere Wahrnehmungen werden zu eigenen Empfindungen, das heißt., die Erscheinungen des Winters werden nach innen genommen.
 

Der Wanderer ist vermutlich auf der Suche nach seiner Geliebten, aber „[z]wischen Gegenwart und Vergangenheit hat sich [...] der Winter als Spurentilger geschoben“(4). Der Winter wird auf der einen Seite zum Feind für den Wanderer, weil er ihn daran hindert ein „Andenken“ von seiner Geliebten mitzunehmen, auf der anderen Seite ist der Winter aber wie ein „weißes Blatt Papier“(5), auf dem er seine Zeichen hinterlassen kann. So wird der Erzähler von zwei Ängsten getrieben, die nach der Unmöglichkeit, die Spuren seiner Geliebten lesen zu können und die nach der Vergänglichkeit seiner Zeichen. Er projiziert seine Schwermut und Ausweglosigkeit auf die Natur, die zu dieser Jahreszeit undurchdringbar ist. Aber auch der Frühling  symbolisiert dieses Wechselspiel der Gefühle, da zwar durch ihn das Leblose wieder zum Leben erwachen kann, aber „Schmilzt je das Herz mir wieder, fließt auch ihr Bild dahin!“ Er ist demnach auch auf den Winter angewiesen, damit die Erinnerung fortbestehen kann. Es bleibt "nur die Möglichkeit, den Wunsch nach Zeichen, ein letztes Mal zu verschieben, und zwar von außen nach innen, um jetzt in den Schmerzen die Macht zu finden, die Reden macht und Zeichen hervorzubringen vermag“(6). Die Schrift ist etwas Vergängliches, nur im Winter kann die Natur beschriftet werden und nur dann kann sie „zum Spiegelbild des Herzens“(7) werden, während das Lied unabhängig von den Jahreszeiten bleibt.

 

Erstarrung  

Ich such im Schnee vergebens
Nach ihrer Tritte Spur,
Wo sie an meinem Arme
Durchstrich  die grüne Flur.

Ich will den Boden küssen,
Durchdringen Eis und Schnee
Mit meinen heißen Tränen,
Bis ich die Erde seh.

Wo find ich eine Blüte,
Wo find ich grünes Gras?
Die Blumen sind erstorben,
Der Rasen sieht so blaß.

Soll denn kein Angedenken
Ich nehmen mit von hier?
Wenn meine Schmerzen schweigen,
Wer sagt mir dann von ihr?

Mein Herz ist wie erfroren,
Kalt starrt ihr Bild darin:
Schmilzt je das Herz mir wieder,
Fließt auch das Bild dahin.

 

 

 

Auf dem Flusse

Im Gedicht "Auf dem Flusse" steht Müllers Wanderer vor derselben Ausgangssituation wie in "Erstarrung". Auf dem von einer starren Eisdecke überzogenen Fluss lassen sich keinerlei Zeichen finden, die von der Geliebten zeugen könnten. Doch er sucht nicht, wie zuvor in "Erstarrung", unter der spurentilgenden Oberfläche nach Zeichen des Lebens und der Beziehung, sondern will das Eis selbst beschriften. "Müllers Wanderer nähert sich der Winterlandschaft als Semiologe uns unternimmt es, in diese Welt der Erstarrung Zeichen der Liebe hinein zu graben."(8)

Das Eis wird mit dem Namen der Geliebten und den Beziehungsdaten beschriftet. Der Empfänger dieser Beschriftung ist das Herz des Wanderers, wie in der letzten Strophe deutlich wird.

Mein Herz in diesem Bache                                                                                       erkennst du nun dein Bild?

Es geht hier also weniger um die Suche nach einem Angedenken der Geliebten, als vielmehr um die Erstellung eines Spiegelbildes des Herzens, um die Eingrabung der eigenen Schmerzensgeschichte in die winterliche Natur. In "Auf dem Flusse" vollzieht sich also ein bemerkenswerter Wandel. Die Suche nach Zeichen der Liebesbeziehung wird abgelöst durch die Erstellung eines Schriftbildes der Melancholie. Das bedeutet für Müllers Wanderer auch eine Bejahung des Winters, denn nur diese Jahreszeit besitzt die Qualitäten "kalt" und "starr" und kann beschriftet und so zum Abbild des Herzens werden.

 

Auf dem Flusse

Der du so lustig rauschtest,   
Du heller, wilder Fluss,         
Wie still bist du geworden,    
Gibst keinen Scheidegruß!

Mit harter, starrer Rinde   
Hast du dich überdeckt,
Liegst kalt und unbeweglich
Im Sande ausgestreckt.   
 
In deine Decke grab ich
Mit einem spitzen Stein   
Den Namen meiner Liebsten
Und Stund und Tag hinein:    

Den Tag des ersten Grußes,
Den Tag, an dem ich ging;   
Um Nam und Zahlen windet Sich ein zerbrochener Ring.

Mein Herz, in diesem Bache Erkennst du nun dein Bild? -  
Ob´s unter seiner Rinde  
Wohl auch so reißend schwillt? 

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(1) Bosse/Neumeyer: "Da blüht der Winter schön". Musensohn und Wanderlied um 1800. Freiburg im Breisgau 1995. S. 131.

(2) Bosse/Neumeyer, S. 131.

(3) Bosse/Neumeyer, S. 131.

(4) Bosse/Neumeyer, S.134

(5) Bosse/Neumeyer, S.135

(6) Bosse/Neumeyer, S.135

(7) Bosse/Neumeyer, S.139

(8) Bosse/Neumeyer, S. 137


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Sarah Klumpp und Anna Falkenberg: Musik über Worte. 22.02.2003.

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