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Tondokumente zu Schriften der Goethezeit

Johann Wolfgang von Goethe
»Das Märchen« (Teil 9)

Lesung mit Hans-Jürgen Schatz

Ungeduldig hatte die gute Frau diesem Gesange zugehört, den die schöne Lilie mit den angenehmen Tönen ihrer Harfe begleitete und der jeden andern entzückt hätte. Eben wollte sie sich beurlauben, als sie durch die Ankunft der grünen Schlange abermals abgehalten wurde. Diese hatte die letzten Zeilen des Liedes gehört und sprach deshalb der schönen Lilie sogleich zuversichtlich Mut ein.

„Die Weissagung von der Brücke ist erfüllt!“ rief sie aus; „fragt nur diese gute Frau, wie herrlich der Bogen gegenwärtig erscheint. Was sonst undurchsichtiger Jaspis, was nur Prasem war, durch den das Licht höchstens auf den Kanten durchschimmerte, ist nun durchsichtiger Edelstein geworden. ein Beryll (1) ist so klar und kein Smaragd so schönfarbig.“

„Ich wünsche Euch Glück dazu,“ sagte Lilie; „allein verzeihet mir, wenn ich die Weissagung noch nicht erfüllt glaube. Über den hohen Bogen Eurer Brücke können nur Fußgänger hinüberschreiten, und es ist uns versprochen, daß Pferde und Wagen und Reisende aller Art zu gleicher Zeit über die Brücke herüber- und hinüberwandern sollen. Ist nicht von den großen Pfeilern geweissagt, die aus dem Flusse selbst heraussteigen werden?“

Die Alte hatte ihre Augen immer auf die Hand geheftet, unterbrach hier das Gespräch und empfahl sich. „Verweilt noch einen Augenblick“, sagte die schöne Lilie, „und nehmt meinen armen Kanarienvogel mit! Bittet die Lampe, daß sie ihn in einen schönen Topas (2) verwandle; ich will ihn durch meine Berührung beleben, und er, mit Eurem guten Mops, soll mein bester Zeitvertreib sein; aber eilt, was Ihr könnt! denn mit Sonnenuntergang ergreift unleidliche Fäulnis das arme Tier und zerreißt den schönen Zusammenhang seiner Gestalt auf ewig.“

Die Alte legte den kleinen Leichnam zwischen zarte Blätter in den Korb und eilte davon.

„Wie dem auch sei,“ sagte die Schlange, indem sie das abgebrochene Gespräch fortsetzte, „der Tempel ist erbauet.“

„Er steht aber noch nicht am Flusse,“ versetzte die Schöne.

„Noch ruht er in den Tiefen der Erde,“ sagte die Schlange; „ich habe die Könige gesehen und gesprochen.“

„Aber wann werden sie aufstehn?“ fragte Lilie.

Die Schlange versetzte: „Ich hörte die großen Worte im Tempel ertönen: ,Es ist an der Zeit’.“

Eine angenehme Heiterkeit verbreitete sich über das Angesicht der Schönen.

Höre ich doch“, sagte sie, „die glücklichen Worte schon heute zum zweitenmal; wann wird der Tag kommen, an dem ich sie dreimal höre?“

 

(1) Mineral, klar und durchsichtig, mehrfarbig vorkommend.

(2) Mineral, als Schmuckstein beliebt.

 

 

 

Johann Wolfgang von Goethe
»Das Märchen« (Teil 1)

Lesung mit Hans-Jürgen Schatz

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