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Tondokumente zu Schriften der Goethezeit

Johann Wolfgang von Goethe
»Ein Mann von funfzig Jahren« (Teil 19)

Lesung mit Hans-Jürgen Schatz

Nun aber können wir kaum unsern Lesern zumuten, aus diesen ergreifenden inneren Zuständen in das Äußere überzugehen, worauf doch jetzt so viel ankam. Indes die Baronin ihrer Tochter alle Freiheit ließ, mit Musik und Gesang, mit Zeichnen und Sticken ihre Tage angenehm zu verbringen, auch mit Lesen und Vorlesen sich und die Mutter zu unterhalten, so beschäftigte sich der Major bei eintretendem Frühjahr, die Familien-angelegenheiten in Ordnung zu bringen; der Sohn, der sich in der Folge als einen reichen Besitzer und, wie er gar nicht zweifeln konnte, als glücklichen Gatten Hilariens erblickte, fühlte nun erst ein militärisches Bestreben nach Ruhm und Rang, wenn der androhende Krieg hereinbrechen sollte. Und so glaubte man in augenblicklicher Beruhigung als gewiß vorauszusehen, daß dieses Rätsel, welches nur noch an eine Grille geknüpft schien, sich bald aufhellen und auseinanderlegen würde.
Leider aber war in dieser anscheinenden Ruhe keine Beruhigung zu finden. Die Baronin wartete tagtäglich, aber vergebens, auf die Sinnesänderung ihrer Tochter, die zwar mit Bescheidenheit und selten, aber doch, bei entscheidendem Anlaß, mit Sicherheit zu erkennen gab, sie bleibe so fest bei ihrer Überzeugung, als nur einer sein kann, dem etwas innerlich wahr geworden, es möge nun mit der ihn umgebenden Welt in Einklang stehen oder nicht. Der Major empfand sich zwiespältig; er würde sich immer verletzt fühlen, wenn Hilarie sich wirklich für den Sohn entschiede; entschiede sie sich aber für ihn selbst, so war er ebenso überzeugt, daß er ihre Hand ausschlagen müsse.
Bedauern wir den guten Mann, dem diese Sorgen, diese Qualen wie ein beweglicher Nebel unablässig vorschwebten, bald als Hintergrund, auf welchem sich die Wirklichkeiten und Beschäftigungen des dringenden Tages hervorhoben, bald herantretend und alles Gegenwärtige bedeckend. Ein solches Wanken und Schweben bewegte sich vor den Augen seines Geistes; und wenn ihn der fordernde Tag zu rascher, wirksamer Tätigkeit aufbot, so war es bei nächtlichem Erwachen, wo alles Widerwärtige, gestaltet und immer umgestaltet, im unerfreulichsten Kreis sich in seinem Innern umwälzte. Dies ewig wiederkehrende Unabweisbare brachte ihn in einen Zustand, den wir fast Verzweiflung nennen dürften, weil Handeln und Schaffen, die sich sonst als Heilmittel für solche Lagen am sichersten bewährten, hier kaum lindernd, geschweige denn befriedigend wirken wollten.

 

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