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Tondokumente zu Schriften der Goethezeit

Johann Wolfgang von Goethe
»Ein Mann von funfzig Jahren« (Teil 20)

Lesung mit Hans-Jürgen Schatz

In solcher Lage erhielt unser Freund von unbekannter Hand ein Schreiben mit Einladung in das Posthaus des nahe gelegenen Städtchens, wo ein eilig Durchreisender ihn dringend zu sprechen wünschte. Er, bei seinen vielfachen Geschäfts- und Weltverhältnissen an dergleichen gewöhnt, säumte um so weniger, als ihm die freie, flüchtige Hand einigermaßen erinnerlich schien. Ruhig und gefaßt nach seiner Art begab er sich an den bezeichneten Ort, als in der bekannten, fast bäuerischen Oberstube die schöne Witwe ihm entgegentrat, schöner und anmutiger, als er sie verlassen hatte. War es, daß unsere Einbildungskraft nicht fähig ist, das Vorzüglichste festzuhalten und völlig wieder zu vergegenwärtigen, oder hatte wirklich ein bewegterer Zustand ihr mehreren Reiz gegeben, genug, es bedurfte doppelter Fassung, sein Erstaunen, seine Verwirrung unter dem Schein allgemeinster Höflichkeit zu verbergen; er grüßte sie verbindlich mit verlegener Kälte.
„Nicht so, mein Bester!“ rief sie aus, „keineswegs hab’ ich Sie dazu zwischen diese geweißten Wände, in diese höchst unedle Umgebung berufen; ein so schlechter Hausrat fordert nicht auf, sich höfisch zu unterhalten. Ich befreie meine Brust von einer schweren Last, indem ich sage, bekenne: in Ihrem Hause hab’ ich viel Unheil angerichtet.“ -  Der Major trat stutzend zurück. -  „Ich weiß alles“, fuhr sie fort, „wir brauchen uns nicht zu erklären; Sie und Hilarien, Hilarien und Flavio, Ihre gute Schwester, Sie alle bedaure ich.“ Die Sprache schien ihr zu stocken, die herrlichsten Augenwimpern konnten hervorquellende Tränen nicht zurückhalten, ihre Wange rötete sich, sie war schöner als jemals. In äußerster Verwirrung stand der edle Mann vor ihr, ihn durchdrang eine unbekannte Rührung. „Setzen wir uns“, sagte, die Augen trocknend, das allerliebste Wesen. „Verzeihen Sie mir, bedauern Sie mich, Sie sehen, wie ich bestraft bin.“ Sie hielt ihr gesticktes Tuch abermals vor die Augen und verbarg, wie bitterlich sie weinte.
„Klären Sie mich auf, meine Gnädige“, sprach er mit Hast. -  „Nichts von gnädig!“ entgegnete sie himmlisch lächelnd, „nennen Sie mich Ihre Freundin, Sie haben keine treuere. Und also, mein Freund, ich weiß alles, ich .kenne die Lage der ganzen Familie genau, aller Gesinnungen und Leiden bin ich vertraut.“ -  „Was konnte Sie bis auf diesen Grad unterrichten?“ -  „Selbstbekenntnisse. Diese Hand wird Ihnen nicht fremd sein.“ Sie wies ihm einige entfaltete Briefe hin. -  „Die Hand meiner Schwester, Briefe, mehrere, der nachlässigen Schrift nach vertraute! Haben Sie je mit ihr in Verhältnis gestanden?“ -  „Unmittelbar nicht, mittelbar seit einiger Zeit; hier die Aufschrift: ,An ***.‘“ -  „Ein neues Rätsel: An Makarien, die schweigsamste aller Frauen.“ -  „Deshalb aber auch die Vertraute, der Beichtiger aller bedrängten Seelen, aller derer, die sich selbst verloren haben, sich wiederzufinden wünschten und nicht wissen wo.“ -  „Gott sei Dank!“ rief er aus, „daß sich eine solche Vermittlung gefunden hat, mir wollt’ es nicht ziemen, sie anzuflehen, ich segne meine Schwester, daß sie es tat; denn auch mir sind Beispiele bekannt, daß jene Treffliche, im Vorhalten eines sittlich-magischen Spiegels, durch die äußere verworrene Gestalt irgendeinem Unglücklichen sein rein schönes Innere gewiesen und ihn auf einmal erst mit sich selbst befriedigt und zu einem neuen Leben aufgefordert hat.“ - 
„Diese Wohltat erzeigte sie auch mir“, versetzte die Schöne; und in diesem Augenblick fühlte unser Freund, wenn es ihm auch nicht klar wurde, dennoch entschieden, daß aus dieser sonst in ihrer Eigenheit abgeschlossenen merkwürdigen Person sich ein sittlich-schönes, teilnehmendes und teilgebendes Wesen hervortat. -  „Ich war nicht unglücklich, aber unruhig“, fuhr sie fort, „ich gehörte mir selbst nicht recht mehr an, und das heißt denn doch am Ende nicht glücklich sein. Ich gefiel mir selbst nicht mehr, ich mochte mich vor dem Spiegel zurechtrücken, wie ich wollte, es schien mir immer, als wenn ich mich zu einem Maskenball herausputzte; aber seitdem sie mir ihren Spiegel vorhielt, seit ich gewahr wurde, wie man sich von innen selbst schmücken könne, komm’ ich mir wieder recht schön vor.“ Sie sagte das zwischen Lächeln und Weinen und war, man mußte es zugeben, mehr als liebenswürdig. Sie erschien achtungswert und wert einer ewigen treuen Anhänglichkeit.
„Und nun, mein Freund, fassen wir uns kurz: hier sind die Briefe! sie zu lesen und wieder zu lesen, sich zu bedenken, sich zu bereiten, bedürften Sie allenfalls einer Stunde, mehr, wenn Sie wollen; alsdann werden mit wenigen Worten unsere Zustände sich entscheiden lassen.“
Sie verließ ihn, um in dem Garten auf und ab zu gehen; er entfaltete nun einen Briefwechsel der Baronin mit Makarien, dessen Inhalt wir summarisch andeuten. Jene beklagt sich über die schöne Witwe. Wie eine Frau die andere ansieht und scharf beurteilt, geht hervor. Eigentlich ist nur vom Äußern und von Äußerungen die Rede, nach dem Innern wird nicht gefragt.
Hierauf von seiten Makariens eine mildere Beurteilung. Schilderung eines solchen Wesens von innen heraus. Das Äußere erscheint als Folge von Zufälligkeiten, kaum zu tadeln, vielleicht zu entschuldigen. Nun berichtet die Baronin von der Raserei und Tollheit des Sohns, der wachsenden Neigung des jungen Paars, von der Ankunft des Vaters, der entschiedenen Weigerung Hilariens. Überall finden sich Erwiderungen Makariens von reiner Billigkeit, die aus der gründlichen Überzeugung stammt, daß hieraus eine sittliche Besserung entstehen müsse. Sie übersendet zuletzt den ganzen Briefwechsel der schönen Frau, deren himmelschönes Innere nun hervortritt und das Äußere zu verherrlichen beginnt. Das Ganze schließt mit einer dankbaren Erwiderung an Makarien.

 

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