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Tondokumente zu Schriften der Goethezeit

Johann Wolfgang von Goethe
»Ein Mann von funfzig Jahren« (Teil 7)

Lesung mit Hans-Jürgen Schatz

Mit diesen und andern dringenden Worten ließ der Sohn den Vater, der manche Bedenklichkeiten einstreuen wollte, nicht Raum gewinnen, sondern eilte mit ihm zur schönen Witwe, welche sie in einem großen, wohleingerichteten Hause, umgeben von einer zwar nicht zahlreichen, aber ausgesuchten Gesellschaft, in heiterer Unterhaltung antrafen. Sie war eins von den weiblichen Wesen, denen kein Mann entgeht. Mit unglaublicher Gewandtheit wußte sie den Major zum Helden dieses Abends zu machen. Die übrige Gesellschaft schien ihre Familie, der Major allein der Gast zu sein. Sie kannte seine Verhältnisse recht gut, und doch wußte sie darnach zu fragen, als wenn sie alles erst von ihm recht erfahren wollte; und so mußte auch jedes von der Gesellschaft schon irgendeinen Anteil an dem Neuangekommenen zeigen. Der eine mußte seinen Bruder, der andere seine Güter und der Dritte sonst wieder etwas gekannt haben, so daß der Major bei einem lebhaften Gespräch sich immer als den Mittelpunkt fühlte. Auch saß er zunächst bei der Schönen; ihre Augen waren auf ihn, ihr Lächeln an ihn gerichtet; genug, er fand sich so behaglich, daß er beinahe die Ursache vergaß, warum er gekommen war. Auch erwähnte sie seines Sohnes kaum mit einem Worte, obgleich der junge Mann lebhaft mitsprach; er schien für sie, wie die übrigen alle, heute nur um des Vaters willen gegenwärtig.
Frauenzimmerliche Handarbeiten, in Gesellschaft unternommen und scheinbar gleichgültig fortgesetzt, erhalten durch Klugheit und Anmut oft eine wichtige Bedeutung. Unbefangen und emsig fortgesetzt, geben solche Bemühungen einer Schönen das Ansehen völliger Unaufmerksamkeit auf die Umgebung und erregen in derselben ein stilles Mißgefühl. Dann aber, gleichsam wie beim Erwachen, ein Wort, ein Blick versetzt die Abwesende wieder mitten in die Gesellschaft, sie erscheint als neu willkommen; legt sie aber gar die Arbeit in den Schoß nieder, zeigt sie Aufmerksamkeit auf eine Erzählung, einen belehrenden Vortrag, in welchem sich die Männer so gern ergehen, dies wird demjenigen höchst schmeichelhaft, den sie dergestalt begünstigt.
Unsere schöne Witwe arbeitete auf diese Weise an einer so prächtigen als geschmackvollen Brieftasche, die sich noch überdies durch ein größeres Format auszeichnete. Diese ward nun eben von der Gesellschaft besprochen, von dem nächsten Nachbar aufgenommen, unter großen Lobpreisungen der Reihe nach herumgegeben, indessen die Künstlerin sich mit dem Major von ernsten Gegenständen besprach; ein alter Hausfreund rühmte das beinahe fertige Werk mit Übertreibung, doch als solches an den Major kam, schien sie es als seiner Aufmerksamkeit nicht wert von ihm ablehnen zu wollen, wogegen er auf eine verbindliche Weise die Verdienste der Arbeit anzuerkennen verstand, inzwischen der Hausfreund darin ein penelopeisch zauderhaftes Werk (1) zu sehen glaubte.
Man ging in den Zimmern auf und ab und gesellte sich zufällig zusammen. Der Lieutenant trat zu der Schönen und fragte: „Was sagen Sie zu meinem Vater?“ Lächelnd versetzte sie: „Mich deucht, daß Sie ihn wohl zum Muster nehmen könnten. Sehn Sie nur, wie nett er angezogen ist! Ob er sich nicht besser trägt und hält als sein lieber Sohn!“ So fuhr sie fort, den Vater auf Unkosten des Sohnes zu beschreien und zu loben und eine sehr gemischte Empfindung von Zufriedenheit und Eifersucht in dem Herzen des jungen Mannes hervorzubringen.
Nicht lange, so gesellte sich der Sohn zum Vater und erzählte ihm alles haarklein wieder. Der Vater betrug sich nur desto freundlicher gegen die Witwe, und sie setzte sich gegen ihn schon auf einen lebhafteren, vertraulichern Ton. Kurz, man kann sagen, daß, als es zum Scheiden ging, der Major so gut als die übrigen alle ihr und ihrem Kreise schon angehörte.
Ein stark einfallender Regen hinderte die Gesellschaft, auf die Weise nach Hause zu kehren, wie sie gekommen war. Einige Equipagen (2) fuhren vor, in welche man die Fußgänger verteilte; nur der Lieutenant, unter dem Vorwande, man sitze ohnehin schon zu enge, ließ den Vater fortfahren und blieb zurück.
Der Major, als er in sein Zimmer trat, fühlte sich wirklich in einer Art von Taumel, von Unsicherheit seiner selbst, wie es denen geht, die schnell aus einem Zustande in den entgegengesetzten übertreten. Die Erde scheint sich für den zu bewegen, der aus dem Schiffe steigt, und das Licht zittert noch im Auge dessen, der auf einmal ins Finstere tritt. So fühlte sich der Major noch von der Gegenwart des schönen Wesens umgeben. Er wünschte, sie noch zu sehen, zu hören, sie wieder zu sehen, wieder zu hören; und nach einiger Besinnung verzieh er seinem Sohne, ja er pries ihn glücklich, daß er Ansprüche machen dürfe, so viel Vorzüge zu besitzen.
Aus diesen Empfindungen riß ihn der Sohn, der mit einer lebhaften Entzückung zur Türe hereinstürzte, den Vater umarmte und ausrief: „Ich bin der glücklichste Mensch von der Welt!“ Nach solchen und ähnlichen Ausrufen kam es endlich unter beiden zur Aufklärung. Der Vater bemerkte, daß die schöne Frau im Gespräch gegen ihn des Sohnes auch nicht mit einer Silbe erwähnt habe. -  „Das ist eben ihre zarte, schweigende, halb schweigende, halb andeutende Manier, wodurch man seiner Wünsche gewiß wird und sich doch immer des Zweifels nicht ganz erwehren kann. So war sie bisher gegen mich; aber Ihre Gegenwart, mein Vater; hat Wunder getan. Ich gestehe es gern, daß ich zurückblieb, um sie noch einen Augenblick zu sehen. Ich fand sie in ihren erleuchteten Zimmern auf und ab gehen; denn ich weiß wohl, es ist ihre Gewohnheit: wenn die Gesellschaft weg ist; darf kein Licht ausgelöscht werden. Sie geht allein in ihren Zaubersälen auf und ab, wenn die Geister entlassen sind, die sie hergebannt hat. Sie ließ den Vorwand gelten, unter dessen Schutz ich zurückkam. Sie sprach anmutig, doch von gleichgültigen Dingen. Wir gingen hin und wider durch die offenen Türen die ganze Reihe der Zimmer durch. Wir waren schon einigemale bis ans Ende gelangt, in das kleine Kabinett, das nur von einer trüben Lampe erhellt ist. War sie schön, wenn sie sich unter den Kronleuchtern her bewegte, so war sie es noch unendlich mehr, beleuchtet von dem sanften Schein der Lampe. Wir waren wieder dahin gekommen und standen beim Umkehren einen Augenblick still. Ich weiß nicht, was mir die Verwegenheit abnötigte, ich weiß nicht, wie ich es wagen konnte, mitten im gleichgültigsten Gespräch auf einmal ihre Hand zu fassen, diese zarte Hand zu küssen, sie an mein Herz zu drücken. Man zog sie nicht weg. ,Himmlisches Wesen‘, rief ich, ,verbirg dich nicht länger vor mir. Wenn in diesem schönen Herzen eine Neigung wohnt für den Glücklichen, der vor dir steht, so verhülle sie nicht länger, offenbare sie, gestehe sie! es ist die! schönste, es ist die höchste Zeit. Verbanne mich oder nimm mich in deinen Armen auf!‘
Ich weiß nicht, was ich alles sagte, ich weiß nicht, wie ich mich gebärdete. Sie entfernte sich nicht, sie widerstrebte nicht, sie antwortete nicht. Ich wagte es, sie in meine Arme zu fassen, sie zu fragen, ob sie die Meinige sein wolle. Ich küßte sie mit Ungestüm; sie drängte mich weg. -  ,Ja doch, ja!‘ oder so etwas sagte sie halblaut und wie verworren. Ich entfernte mich und rief: ,Ich sende meinen Vater, der soll für mich reden!‘ -  ,Kein Wort mit ihm darüber!‘ versetzte sie, indem sie mir einige Schritte nachfolgte. ,Entfernen Sie sich, vergessen Sie, was geschehen ist.‘“
Was der Major dachte, wollen wir nicht entwickeln. Er sagte jedoch zum Sohne: „Was glaubst du nun, was zu tun sei? Die Sache ist, dächt’ ich, aus dem Stegreife gut genug eingeleitet, daß wir nun etwas förmlicher zu Werke gehen können, daß es vielleicht sehr schicklich ist, wenn ich mich morgen dort melde und für dich anhalte.“ -  „Um Gottes willen, mein Vater!“ rief er aus, „das hieße die ganze Sache verderben. Jenes Betragen, jener Ton will durch keine Förmlichkeit gestört und verstimmt sein. Es ist genug, mein Vater, daß Ihre Gegenwart diese Verbindung beschleunigt, ohne daß Sie ein Wort aussprechen. Ja, Sie sind es, dem ich mein Glück schuldig bin! Die Achtung meiner Geliebten für Sie hat jeden Zweifel besiegt, und niemals würde der Sohn einen so glücklichen Augenblick gefunden haben, wenn ihn der Vater nicht vorbereitet hätte.“
Solche und ähnliche Mitteilungen unterhielten sie bis tief in die Nacht. Sie vereinigten sich wechselseitig über ihre Plane; der Major wollte bei der schönen Witwe nur noch der Form wegen einen Abschiedsbesuch machen und sodann seiner Verbindung mit Hilarien entgegengehen; der Sohn sollte die seinige befördern und beschleunigen, wie es möglich wäre.

 

(1) Penelope, die Frau des Odysseus, wurde während dessen Abwesenheit von zahlreichen Freiern bedrängt. Sie wollte sich aber erst für einen neuen Gatten entscheiden, wenn sie das Leichentuch für ihren Schwiegervater gewebt habe. Entsprechend webte sie täglich und schlich sich nachts heimlich zum Webstuhl, um ihre Arbeit wieder aufzutrennen, so dass sie bis zur Entdeckung dieses Vorgehens nicht fertig werden konnte.
(2) Kutschen.

 

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