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Tondokumente zu Schriften der Goethezeit

Johann Wolfgang von Goethe
»Ein Mann von funfzig Jahren« (Teil 9)

Lesung mit Hans-Jürgen Schatz

Also fand er sich zuletzt nicht ohne Verlegenheit in ein angenehmes Verhältnis verflochten; er hatte zu senden, zu schreiben zugesagt, sich verpflichtet, und wenn ihm die Veranlassung einigermaßen unangenehm fiel, so mußte er es doch für ein Glück schätzen, auf eine heitere Weise mit dem Frauenzimmer in Verhältnis zu bleiben, das bei ihren großen Vorzügen ihm so nah angehören sollte. Er schied also nicht ohne eine gewisse innere Zufriedenheit; denn wie sollte der Dichter eine solche Aufmunterung nicht empfinden, dessen treufleißiger Arbeit, die so lange unbeachtet geruht, nun ganz unerwartet eine liebenswürdige Aufmerksamkeit zuteil wird.
Gleich nach seiner Rückkehr ins Quartier setzte der Major sich nieder, zu schreiben, seiner guten Schwester alles zu berichten, und da war nichts natürlicher, als daß in seiner Darstellung eine gewisse Exaltation (1) sich hervortat, wie er sie selbst empfand, die aber durch das Einreden seines von Zeit zu Zeit störenden Sohns noch mehr gesteigert wurde.
Auf die Baronin machte dieser Brief einen sehr gemischten Eindruck; denn wenn auch der Umstand, wodurch die Verbindung des Bruders mit Hilarien befördert und beschleunigt werden konnte, geeignet war, sie ganz zufriedenzustellen, so wollte ihr doch die schöne Witwe nicht gefallen, ohne daß sie sich deswegen Rechenschaft zu geben gedacht hätte. Wir machen bei dieser Gelegenheit folgende Bemerkung.
Den Enthusiasmus für irgendeine Frau muß man einer andern niemals anvertrauen; sie kennen sich untereinander zu gut, um sich einer solchen ausschließlichen Verehrung würdig zu halten. Die Männer kommen ihnen vor wie Käufer im Laden, wo der Handelsmann mit seinen Waren, die er kennt, im Vorteil steht, auch sie in dem besten Lichte vorzuzeigen die Gelegenheit wahrnehmen kann; dahingegen der Käufer immer mit einer Art Unschuld hereintritt, er bedarf der Ware, will und wünscht sie und versteht gar selten, sie mit Kenneraugen zu betrachten. Jener weiß recht gut, was er gibt, dieser nicht immer, was er empfängt. Aber es ist einmal im menschlichen Leben und Umgang nicht zu ändern, ja so löblich als notwendig, denn alles Begehren und Freien, alles Kaufen und Tauschen beruht darauf.

In Gefolge solches Empfindens mehr als Betrachtens konnte die Baronesse weder mit der Leidenschaft des Sohns noch mit der günstigen Schilderung des Vaters völlig zufrieden sein; sie fand sich überrascht von der glücklichen Wendung der Sache, doch ließ eine Ahnung wegen doppelter Ungleichheit des Alters sich nicht abweisen. Hilarie ist ihr zu jung für den Bruder, die Witwe für den Sohn nicht jung genug; indessen hat die Sache ihren Gang genommen, der nicht aufzuhalten scheint. Ein frommer Wunsch, daß alles gut gehen möge, stieg mit einem leisen Seufzer empor. Um ihr Herz zu erleichtern, nahm sie die Feder und schrieb an jene menschenkennende Freundin , indem sie nach einem geschichtlichen Eingang also fortfuhr.
„Die Art dieser jungen, verführerischen Witwe ist mir nicht unbekannt; weiblichen Umgang scheint sie abzulehnen und nur eine Frau um sich zu leiden, die ihr keinen Eintrag tut, ihr schmeichelt und, wenn ihre stummen Vorzüge sich nicht klar genug dartäten, sie noch mit Worten und geschickter Behandlung der Aufmerksamkeit zu empfehlen weiß. Zuschauer, Teilnehmer an einer solchen Repräsentation müssen Männer sein, daher entsteht die Notwendigkeit, sie anzuziehen, sie festzuhalten. Ich denke nichts Übles von der schönen Frau, sie scheint anständig und behutsam genug, aber eine solche lüsterne Eitelkeit opfert den Umständen auch wohl etwas auf, und, was ich für das Schlimmste halte: nicht alles ist reflektiert und vorsätzlich, eingewisses glückliches Naturell leitet und beschützt sie, und nichts ist gefährlicher an so einer gebornen Kokette als eine aus der Unschuld entspringende Verwegenheit.“

 

(1) Aufgeregtheit.

 

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