goethe


Tondokumente zu Schriften der Goethezeit

Johann Wolfgang von Goethe
»Ein Mann von funfzig Jahren« (Teil 2)

Lesung mit Hans-Jürgen Schatz

So verging ihnen der Tag zusammen; alle häuslichen Epochen wurden mit der größten Gemütlichkeit durchlebt; abends nach Tisch setzte sich Hilarie wieder ans Klavier; der Major hörte mit andern Ohren als heute früh; eine Melodie schlang sich in die andere, ein Lied schloß sich ans andere, und kaum vermochte die Mitternacht die kleine Gesellschaft zu trennen.
Als der Major auf seinem Zimmer ankam, fand er alles nach seiner alten, gewohnten Bequemlichkeit eingerichtet; sogar einige Kupferstiche, bei denen er gern verweilte, waren aus andern Zimmern herübergehängt; und da er einmal aufmerksam geworden war, so sah er sich bis auf jeden einzelnen kleinen Umstand versorgt und geschmeichelt.
Nur wenig Stunden Schlaf bedurfte er diesmal; seine Lebensgeister waren früh aufgeregt. Aber nun merkte er auf einmal, daß eine neue Ordnung der Dinge manches Unbequeme nach sich ziehe. Er hatte seinem alten Reitknecht, der zugleich die Stelle des Bedienten und Kammerdieners vertrat, seit mehreren Jahren kein böses Wort gegeben: denn alles ging in der strengsten Ordnung seinen gewöhnlichen Gang; die Pferde waren versorgt und die Kleidungsstücke zu rechter Stunde gereinigt; aber der Herr war früher aufgestanden, und nichts wollte passen.
Sodann gesellte sich noch ein anderer Umstand hinzu, um die Ungeduld und eine Art böser Laune des Majors zu vermehren. Sonst war ihm alles an sich und seinem Diener recht gewesen; nun aber fand er sich, als er vor den Spiegel trat, nicht so, wie er zu sein wünschte. Einige graue Haare konnte er nicht leugnen, und von Runzeln schien sich auch etwas eingefunden zu haben. Er wischte und puderte mehr als sonst und mußte es doch zuletzt lassen, wie es sein konnte. Auch mit der Kleidung und ihrer Sauberkeit war er nicht zufrieden. Da sollten sich immer noch Fasern auf dem Rock und noch Staub auf den Stiefeln finden. Der Alte wußte nicht, was er sagen sollte, und war erstaunt, einen so veränderten Herrn vor sich zu sehen.
Ungeachtet aller dieser Hindernisse war der Major schon früh genug im Garten. Hilarien, die er zu finden hoffte, fand er wirklich. Sie brachte ihm einen Blumenstrauß entgegen, und er hatte nicht den Mut, sie wie sonst zu küssen und an sein Herz zu drücken. Er befand sich in der angenehmsten Verlegenheit von der Welt und überließ sich seinen Gefühlen, ohne zu denken, wohin das führen könne.
Die Baronin gleichfalls säumte nicht lange zu erscheinen, und indem sie ihrem Bruder ein Billet wies, das ihr eben ein Bote gebracht hatte, rief sie aus: „Du rätst nicht, wen uns dieses Blatt anzumelden kommt.“ -  „So entdecke es nur bald!“ versetzte der Major; und er erfuhr, daß ein alter theatralischer (1) Freund nicht weit von dem Gute vorbeireise und für einen Augenblick einzukehren gedenke. „Ich bin neugierig, ihn wiederzusehen“, sagte der Major; „er ist kein Jüngling mehr, und ich höre, daß er noch immer die jungen Rollen spielt.“ -  „Er muß um zehn Jahre älter sein als du“, versetzte die Baronin. -  „Ganz gewiß“, erwiderte der Major, „nach allem, was ich mich erinnere.“
Es währte nicht lange, so trat ein munterer, wohlgebauter, gefälliger Mann herzu. Man stutzte einen Augenblick, als man sich wiedersah. Doch sehr bald erkannten sich die Freunde, und Erinnerungen aller Art belebten das Gespräch. Hierauf ging man zu Erzählungen, zu Fragen und zu Rechenschaft über; man machte sich wechselsweise mit den gegenwärtigen Lagen bekannt und fühlte sich bald, als wäre man nie getrennt gewesen.
Die geheime Geschichte sagt uns, daß dieser Mann in früherer Zeit, als ein sehr schöner und angenehmer Jüngling, einer vornehmen Dame zu gefallen das Glück oder Unglück gehabt habe; daß er dadurch in große Verlegenheit und Gefahr geraten, woraus ihn der Major eben im Augenblick, als ihn das traurigste Schicksal bedrohte, glücklich herausriß. Ewig blieb er dankbar, dem Bruder sowohl als der Schwester; denn diese hatte durch zeitige Warnung zur Vorsicht Anlaß gegeben.

 

(1) Am Theater beschäftigt, zum Theater gehörend.

 

Teil 01 | Teil 02 | Teil 03 | Teil 04 | Teil 05 | Teil 06 | Teil 07 | Teil 08 | Teil 09 | Teil 10
Teil 11 | Teil 12 | Teil 13 | Teil 14 | Teil 15 | Teil 16 | Teil 17 | Teil 18 | Teil 19 | Teil 20

Das Fach- und Kulturportal der Goethezeit