goethe


Tondokumente zu Schriften der Goethezeit

Johann Wolfgang von Goethe
»Novelle«

Goethe über seine „Novelle“


Wilhelm von Humboldt berichtet Goethe am 22. Oktober 1826 davon, dass er den alten Stoff wieder aufgegriffen und als Prosatext gestaltet hat:

„[…] Ich habe den ganzen Sommer zu Hause zugebracht und ungestört an der Ausgabe meiner Werke fortgearbeitet. […]

Sie erinnern sich wohl noch eines epischen Gedichts, das ich gleich nach Beendigung von Herrmann und Dorothea im Sinn hatte: Bey einer modernen Jagd kamen Tiger und Löwe mit in's Spiel; damals riethen Sie mir die Bearbeitung ab, und ich unterließ sie; jetzt, bey'm Untersuchen alter Papiere, finde ich den Plan wieder und enthalte mich nicht, ihn prosaisch auszuführen, da es denn für eine Novelle gelten mag, eine Rubrik, unter welcher gar vieles wunderliche Zeug cursirt.
[…] In treulichster Theilnahme
                       Goethe.“

 

Christoph Friedrich Ludwig Schultz  gegenüber gesteht Goethe am 10. Januar 1829, dass er sich nach langer Zeit des alten Stoffes angenommen hat und sich deswegen umso mehr über positive Resonanz freut:

„Indeß gereicht es mir zur angenehmsten Empfindung, daß die Novelle freundlich aufgenommen wird; man fühlt es ihr an, daß sie sich vom tiefsten Grunde meines Wesens losgelöst hat. Die Conception ist über dreyßig Jahre alt; es müssen sich Spuren davon in der Correspondenz finden.“

 

Johann Peter Eckermann  kam 1823 nach Weimar und wurde schnell zu einem Vertrauten Goethes. Die Gespräche der beiden, die oft um die Arbeit Goethes kreisten, protokollierte Eckermann und gab sie 1836, also vier Jahre nach dessen Tod, heraus. In den Passagen zur „Novelle“ findet sich nicht nur Goethes Definition der Textsorte als „unerhörte Begebenheit“, der Dichter gewährt hier auch Einblicke in seine Arbeitsweise.

Aus dem Gespräch vom 15. Januar 1827

    „Vor mehrern Wochen hörte ich von seinem Secretär [John], daß er an einer neuen Novelle arbeite; ich hielt mich daher abends von Besuchen zurück und begnügte mich, ihn bloß alle acht Tage bei Tische zu sehen.
    Diese Novelle war nun seit einiger Zeit vollendet, und er legte mir diesen Abend die ersten Bogen zur Ansicht vor.
    Ich war beglückt und las bis zu der bedeutenden Stelle, wo alle um den todten Tiger herumstehen und der Wärtel die Nachricht bringt, daß der Löwe oben an der Ruine sich in die Sonne gelegt habe.
    Während des Lesens hatte ich die außerordentliche Deutlichkeit zu bewundern, womit alle Gegenstände bis auf die kleinste Localität vor die Augen gebracht waren. Der Auszug zur Jagd, die Zeichnungen der alten Schloßruine, der Jahrmarkt, der Feldweg zur Ruine, alles trat entschieden vor die Anschauung, sodaß man genöthigt war, sich das Dargestellte gerade so zu denken wie der Dichter es gewollt hatte. Zugleich war alles mit einer solchen Sicherheit, Besonnenheit und Herrschaft geschrieben, daß man vom Künftigen nichts vorausahnen und keine Zeile weiter blicken konnte als man las.
    »Euer Excellenz,« sagte ich, »müssen nach einem sehr bestimmten Schema gearbeitet haben.«
    »Allerdings habe ich das,« antwortete Goethe; »ich wollte das Sujet schon vor dreißig Jahren ausführen, und seit der Zeit trage ich es im Kopfe. Nun ging es mir mit der Arbeit wunderlich. Damals, gleich nach 'Hermann und Dorothea', wollte ich den Gegenstand in epischer Form und Hexametern behandeln und hatte auch zu diesem Zwecke ein ausführliches Schema entworfen. Als ich nun jetzt das Sujet wieder vornehme, um es zu schreiben, kann ich jenes alte Schema nicht finden und bin also genöthigt, ein neues zu machen und zwar ganz gemäß der veränderten Form, die ich jetzt dem Gegenstande zu geben willens war.
Nun aber nach vollendeter Arbeit findet sich jenes ältere Schema wieder, und ich freue mich nun, daß ich es nicht früher in Händen gehabt, denn es würde mich nur verwirrt haben. Die Handlung und der Gang der Entwickelung war zwar unverändert, allein im Detail war es doch ein ganz anderes; es war ganz für eine epische Behandlung in Hexametern gedacht und würde also für diese prosaische Darstellung gar nicht anwendbar gewesen sein.«
Das Gespräch lenkte sich auf den Inhalt. »Eine schöne Situation,« sagte ich, »ist die, wo Honorio der Fürstin gegenüber am todt ausgestreckten Tiger steht, die klagende, weinende Frau mit dem Knaben herzugekommen ist, und auch der Fürst mit dem Jagdgefolge zu der seltsamen Gruppe soeben herbeieilt. Das müßte ein treffliches Bild machen, und ich möchte es gemalt sehen.«
    »Gewiß,« sagte Goethe, »das wäre ein schönes Bild; - doch,« fuhr er nach einigem Bedenken fort, »der Gegenstand wäre fast zu reich und der Figuren zu viele, sodaß die Gruppirung und Vertheilung von Licht und Schatten dem Künstler sehr schwer werden würde. Allein den frühern Moment, wo Honorio auf dem Tiger kniet und die Fürstin am Pferde gegenübersteht, habe ich mir wohl als Bild gedacht; und das wäre zu machen.«
Ich empfand, daß Goethe recht hatte, und fügte hinzu, daß ja dieser Moment auch eigentlich der Kern der ganzen Situation sei, worauf alles ankomme. […]
    »Nun bin ich neugierig zu erfahren,« sagte ich, »wie man sich des Löwen bemeistern wird; daß dieses auf eine ganz andere Weise geschehen werde, ahne ich fast, doch das Wie ist mir gänzlich verborgen.« - »Es wäre auch nicht gut, wenn Sie es ahnten,« sagte Goethe, »und ich will es Ihnen heute nicht verrathen. Donnerstag Abend gebe ich Ihnen das Ende; bis dahin liegt der Löwe in der Sonne.«“


Aus dem Gespräch vom 18. Januar 1827

    „Auf diesen Abend hatte Goethe mir den Schluß der Novelle versprochen. Ich ging halb sieben Uhr zu ihm und fand ihn in der traulichen Arbeitsstube allein. Ich setzte mich zu ihm an den Tisch, und nachdem wir die nächsten Tagesereignisse besprochen hatten, stand Goethe auf und gab mir die erwünschten letzten Bogen. »Da lesen Sie den Schluß,« sagte er. Ich begann. Goethe ging derweile im Zimmer auf und ab und stand abwechselnd am Ofen. Ich las wie gewöhnlich leise für mich.
    Nicht ohne Rührung hatte ich die Handlung des Schlusses lesen können. Doch wußte ich nicht, was ich sagen sollte, ich war überrascht, aber nicht befriedigt. Es war mir als wäre der Ausgang zu einsam, zu ideal, zu lyrisch, und als hätten wenigstens einige der übrigen Figuren wieder hervortreten und, das Ganze abschließend, dem Ende mehr Breite geben sollen.
    Goethe merkte, daß ich einen Zweifel im Herzen hatte, und suchte mich ins Gleiche zu bringen. »Hätte ich,« sagte er, »einige der übrigen Figuren am Ende wieder hervortreten lassen, so wäre der Schluß prosaisch geworden. Und was sollten sie handeln und sagen, da alles abgethan war? Der Fürst mit den Seinigen ist in die Stadt geritten, wo seine Hilfe nöthig sein wird; Honorio, sobald er hört, daß der Löwe oben in Sicherheit ist, wird mit seinen Jägern folgen; der Mann aber wird sehr bald mit dem eisernen Käfig aus der Stadt da sein und den Löwen darin zurückführen. Dieses sind alles Dinge, die man voraussieht und die deshalb nicht gesagt und ausgeführt werden müssen. Thäte man es, so würde man prosaisch werden. Aber ein ideeller, ja lyrischer Schluß war nöthig und mußte folgen; denn nach der pathetischen Rede des Mannes, die schon poetische Prosa ist, mußte eine Steigerung kommen, ich mußte zur lyrischen Poesie, ja zum Liede selbst übergehen.
    Um für den Gang dieser Novelle ein Gleichniß zu haben,« fuhr Goethe fort, »so denken Sie sich aus der Wurzel hervorschießend ein grünes Gewächs, das eine Weile aus einem starken Stengel kräftige grüne Blätter nach den Seiten austreibt und zuletzt mit einer Blume endet. Die Blume war unerwartet, überraschend, aber sie mußte kommen; ja das grüne Blätterwerk war nur für sie da und wäre ohne sie nicht der Mühe werth gewesen.« […]
Goethe fuhr fort: »Zu zeigen, wie das Unbändige, Unüberwindliche oft besser durch Liebe und Frömmigkeit als durch Gewalt bezwungen werde, war die Aufgabe dieser Novelle, und dieses schöne Ziel, welches sich im Kinde und Löwen darstellt, reizte mich zur Ausführung. Dies ist das Ideelle, dies die Blume. Und das grüne Blätterwerk der durchaus realen Exposition ist nur dieserwegen da und nur dieserwegen etwas werth.
Denn was soll das Reale an sich? Wir haben Freude daran, wenn es mit Wahrheit dargestellt ist, ja es kann uns auch von gewissen Dingen eine deutlichere Erkenntniß geben; aber der eigentliche Gewinn für unsere höhere Natur liegt doch allein im Idealen, das aus dem Herzen des Dichters hervorging.« […]
    »Es ist mir lieb,« sagte Goethe, »wenn Sie zufrieden sind, und ich freue mich nun selbst, daß ich einen Gegenstand, den ich seit dreißig Jahren in mir herumgetragen, nun endlich los bin. Schiller und Humboldt, denen ich damals mein Vorhaben mittheilte, riethen mir ab, weil sie nicht wissen konnten, was in der Sache lag, und weil nur der Dichter allein weiß, welche Reize er seinem Gegenstande zu geben fähig ist. Man soll daher nie jemand fragen, wenn man etwas schreiben will. Hätte Schiller mich vor seinem 'Wallenstein' gefragt, ob er ihn schreiben solle, ich hätte ihm sicherlich abgerathen; denn ich hätte nie denken können, daß aus solchem Gegenstande überall ein so treffliches Theaterstück wäre zu machen gewesen. Schiller war gegen eine Behandlung meines Gegenstandes in Hexametern, wie ich es damals gleich nach 'Hermann und Dorothea' willens war; er rieth zu achtzeiligen Stanzen. Sie sehen aber wohl, daß ich mit der Prosa letzt am besten gefahren bin. Denn es kam auf sehr genaue Zeichnung der Localität an, wobei man doch in solchen Reimen wäre genirt gewesen. Und dann ließ sich auch der anfänglich ganz reale und am Schluß ganz ideelle Character der Novelle in Prosa am besten geben, sowie sich auch die Liederchen jetzt gar hübsch ausnehmen, welches doch so wenig in Hexametern als in achtzeiligen Reimen möglich gewesen wäre.«“


Aus dem Gespräch vom 29. Januar 1827, an dem auch Friedrich Soret, ein Genfer Gelehrter, der als Erzieher des Prinzen Karl Alexander in Weimar war, teilnahm:

„[…]»Nun,« fuhr Goethe fort, »wie steht es mit der Novelle?« - »Ich habe sie mitgebracht,« sagte ich.
    Es kam sodann zur Sprache, welchen Titel man der Novelle geben solle; wir thaten manche Vorschläge, einige waren gut für den Anfang, andere gut für das Ende, doch fand sich keiner, der für das Ganze passend und also der rechte gewesen wäre. »Wissen Sie was,« sagte Goethe, »wir wollen es die 'Novelle' nennen; denn was ist eine Novelle anders als eine sich ereignete unerhörte Begebenheit. Dies ist der eigentliche Begriff, und so vieles, was in Deutschland unter dem Titel Novelle geht, ist gar keine Novelle, sondern bloß Erzählung oder was Sie sonst wollen.«“

 

 

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