Johann Wolfgang von Goethe
»Novelle«
Den Stoff der „Novelle“ hatte Goethe schon im Jahr 1797 entworfen. Im Anschluss an sein Versepos „Hermann und Dorothea“ plante er, sich in seiner nächsten literarischen Arbeit mit einer Jagd zu beschäftigen, die mit einem entlaufenen Löwen und Tiger konfrontiert wird. Anscheinend jedoch rieten ihm seine Freunde Friedrich Schiller und Wilhelm von Humboldt davon ab. Die Idee eines epischen Gedichts, also einer Hexameter- oder Stanzendichtung, wurde von Goethe fallengelassen. Im Herbst des Jahres 1826 jedoch, im Zuge der Edition seines Briefwechsels mit Schiller und der Arbeit an „Wilhelm Meisters Wanderjahre“, griff er den Stoff wieder auf. Nun aber fasste er ihn als Prosaerzählung, die zunächst als eine Einlage in den Roman gedacht war, dann aber doch eigenständig publiziert wurde. Der Titel „Novelle“ charakterisiert weniger den Inhalt des Textes, als dass er auf den Anspruch des Werks verweist, diese Textsorte mustergültig auszugestalten und gleichzeitig auf deren spezifisches Verständnis zu verweisen.
Goethe hatte sich schon im Zuge der Arbeit an den „Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten“ in den 1790er Jahren mit Boccaccios „Decamerone“ und anderen Novellensammlungen, nicht zuletzt auch den „Märchen aus 1001 Nacht“, beschäftigt. Doch von den dort erzählten Geschichten, sogar vom ebenso nur mit der Gattungsbezeichnung betitelten „Märchen“, unterscheidet sich die „Novelle“ in auffälliger Weise. Sie beginnt quasi realistisch, indem eine Jagdgesellschaft vorgestellt wird, die kurz vor dem Aufbruch steht. Damit knüpft der Text an das zeitgenössische Verständnis einer Novelle an, die eine Neuigkeit vorstellt, wie sie in einer Zeitschrift stehen könnte: Etwas, das zwar wert ist, berichtet zu werden, doch in solcher oder ähnlicher Form immer wieder geschehen kann. Aber schon bei der Vorstellung der Jagdgesellschaft fällt auf, dass der Blick des Lesers geführt und gelenkt wird. Eindrücke, Bilder und die Veränderung der Wahrnehmung durch Fernrohre einerseits, Erzählungen und Erinnerungen andererseits bestimmen nicht nur die Figuren, sondern machen das Prinzip des Textes aus. Und so haben wir am Ende mit dem Bild des Jungen, der dem Löwen die verletzte Tatze verbindet, ein höchst idyllisches Bild vor Augen, das nicht mehr realistisch scheint, sondern an biblische Prophezeiungen erinnert.
Die „unerhörte Begebenheit“, als solche will Goethe die „Novelle“ verstanden wissen, liegt nicht nur darin, dass das Kind das Raubtier mit Gesang und Spiel bändigt, auch nicht im Umschwung der realistischen Erzählung in eine idealistisch-poetische Darstellung, sondern darin, dass es die Kunst vermag, dem einen das Ansehen des anderen zu geben und dieses Vermögen gleichzeitig zu thematisieren.
Was der Junge in der „Arena“ des alten Schlosshofes macht, scheint nichts anderes zu sein, als das, was er täglich in der Vorstellung auf dem Markt tun würde. Nur geschieht es hier nicht vor versammelten und Eintritt bezahlenden Zuschauern, sondern nur vor Mutter und Wärter. Doch durch seine Position im Handlungsverlauf und seine Gestaltung wird aus dem Schauspiel eine symbolische Handlung. Indem die momenthafte und scheinbar spontane Versöhnung von Kind und Löwen, Kunst und Natur als gelingend gezeigt und mit den lyrischen Zeilen des Liedes poetisch gestaltet zum Endpunkt des Textes wird, entsteht ein Plädoyer für Kunst. Sie vermag augenscheinlich diese Versöhnung, sie vermag aber auch die angemessene Darstellung dieser Geschichte. Aus der literarischen Darstellung einer Begebenheit, wie sie in der Zeitung stehen könnte, ist eine poetische Textsorte, ist die literarische Novelle geworden. Es verwundert nicht, dass davon ausgehend gerade die Schriftsteller des 19. Jahrhunderts, die sich zum poetischen Realismus zählen lassen, in der Novelle ihre zentrale Textform finden konnten.
Elisabeth Böhm
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