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Tondokumente zu Schriften der Goethezeit

Johann Wolfgang von Goethe
»Ein Mann von funfzig Jahren« (Teil 8)

Lesung mit Hans-Jürgen Schatz

Der schönen Witwe machte unser Major einen Morgenbesuch, um Abschied zu nehmen und, wenn es möglich wäre, die Absicht seines Sohnes mit Schicklichkeit zu fördern. Er fand Sie in zierlichster Morgenkleidung in Gesellschaft einer ältern Dame, die durch ein höchst gesittetes, freundliches Wesen ihn alsobald einnahm. Die Anmut der Jüngern, der Anstand der Älteren setzten das Paar in das wünschenswerteste Gleichgewicht, auch schien ihr wechselseitiges Betragen durchaus dafür zu sprechen, daß sie einander angehörten.
Die Jüngere schien eine fleißig gearbeitete, uns von gestern schon bekannte Brieftasche soeben vollendet zu haben; denn nach den gewöhnlichen Empfangsbegrüßungen und verbindlichen Worten eines willkommenen Erscheinens wendete sie sich zur Freundin und reichte das künstliche Werk hin, gleichsam ein unterbrochenes Gespräch wieder anknüpfend: „Sie sehen also, daß ich doch fertig geworden bin, wenn es gleich wegen manchen Zögerns und Säumens den Anschein nicht hatte.“
„Sie kommen eben recht, Herr Major“, sagte die Ältere, „unsern Streit zu entscheiden oder wenigstens sich für eine oder die andere Partei zu erklären; ich behaupte, man fängt eine solche weitschichtige Arbeit nicht an, ohne einer Person zu gedenken, der man sie bestimmt hat, man vollendet sie nicht ohne einen solchen Gedanken. Beschauen Sie selbst das Kunstwerk, denn so nenn’ ich es billig, ob dergleichen so ganz ohne Zweck unternommen werden könne.“
Unser Major mußte der Arbeit freilich allen Beifall zusprechen. Teils geflochten, teils gestickt, erregte sie zugleich mit der Bewunderung das Verlangen, zu erfahren, wie sie gemacht sei. Die bunte Seide waltete vor, doch war auch das Gold nicht verschmäht, genug, man wußte nicht, ob man Pracht oder Geschmack mehr bewundern sollte.
„Es ist doch noch einiges daran zu tun“, versetzte die Schöne, indem sie die Schleife des umgeschlungenen Bandes wieder aufzog und sich mit dem Innern beschäftigte. „Ich will nicht streiten“, fuhr sie fort, „aber erzählen will ich, wie mir bei solchem Geschäft zumute ist. Als junge Mädchen werden wir gewöhnt, mit den Fingern zu tifteln (1) und mit den Gedanken umherzuschweifen; beides bleibt uns, indem wir nach und nach die schwersten und zierlichsten Arbeiten verfertigen lernen, und ich leugne nicht, daß ich an jede Arbeit dieser Art immer Gedanken angeknüpft habe, an Personen, an Zustände, an Freud und Leid. Und so ward mir das Angefangene wert und das Vollendete, ich darf wohl sagen, kostbar. Als ein solches nun durft’ ich das Geringste für etwas halten, die leichteste Arbeit gewann einen Wert, und die schwierigste doch auch nur dadurch, daß die Erinnerung dabei reicher und vollständiger war. Freunden und Liebenden, ehrwürdigen und hohen Personen glaubt’ ich daher dergleichen immer anbieten zu können; sie erkannten es auch und wußten, daß ich ihnen etwas von meinem Eigensten überreichte, das, vielfach und unaussprechlich, doch zuletzt zu einer angenehmen Gabe vereinigt, immer wie ein freundlicher Gruß wohlgefällig aufgenommen ward.“
Auf ein so liebenswürdiges Bekenntnis war freilich kaum eine Erwiderung möglich; doch wußte die Freundin dagegen etwas in wohlklingende Worte zu fügen. Der Major aber, von jeher gewohnt, die anmutige Weisheit römischer Schriftsteller und Dichter zu schätzen und ihre leuchtenden Ausdrücke dem Gedächtnis einzuprägen, erinnerte sich einiger hierher gar wohl passender Verse, hütete sich aber, um nicht als Pedant zu erscheinen, sie auszusprechen oder auch ihrer nur zu erwähnen; versuchte jedoch, um nicht stumm und geistlos zu erscheinen, aus dem Stegreif eine prosaische Paraphrase (2), die aber nicht recht gelingen wollte, wodurch das Gespräch beinahe ins Stocken geraten wäre.
Die ältere Dame griff deshalb nach einem bei dem Eintritt des Freundes niedergelegten Buche; es war eine Sammlung von Poesien, welche soeben die Aufmerksamkeit der Freundinnen beschäftigte; dies gab Gelegenheit, von Dichtkunst überhaupt zu sprechen, doch blieb die Unterhaltung nicht lange im Allgemeinen, denn gar bald bekannten die Frauenzimmer zutraulich, daß sie von dem poetischen Talent des Majors unterrichtet seien. Ihnen hatte der Sohn, der selbst auf den Ehrentitel eines Dichters seine Absichten nicht verbarg, von den Gedichten seines Vaters vorgesprochen, auch einiges rezitiert; im Grunde, um sich mit einer poetischen Herkunft zu schmeicheln und, wie es die Jugend gewohnt ist, sich für einen vorschreitenden, die Fähigkeiten des Vaters steigernden Jüngling bescheidentlich geben zu können. Der Major aber, der sich zurückzuziehen suchte, da er bloß als Literator (3) und Liebhaber gelten wollte, suchte, da ihm kein Ausweg gelassen war, wenigstens auszuweichen, indem er die Dichtart, in der er sich allenfalls geübt habe, für subaltern (4) und fast für unecht wollte angesehen wissen; er konnte nicht leugnen, daß er in demjenigen, was man beschreibend und in einem gewissen Sinne belehrend nennt, einige Versuche gemacht habe.
Die Damen, besonders die jüngere, nahmen sich dieser Dichtart an; sie sagte: „Wenn man vernünftig und ruhig leben will, welches denn doch zuletzt eines jeden Menschen Wunsch und Absicht bleibt, was soll uns da das aufgeregte Wesen, das uns willkürlich anreizt, ohne etwas zu geben, das uns beunruhigt, um uns denn doch zuletzt uns wieder selbst zu überlassen; unendlich viel angenehmer ist mir, da ich doch einmal der Dichtung nicht gern entbehren mag, jene, die mich in heitere Gegenden versetzt, wo ich mich wiederzuerkennen glaube, mir den Grundwert des Einfach-Ländlichen zu Gemüte führt, mich durch buschige Haine zum Wald, unvermerkt auf eine Höhe zum Anblick eines Landsees hinführt, da denn auch wohl gegenüber erst angebaute Hügel, sodann waldgekrönte Höhen emporsteigen und die blauen Berge zum Schluß ein befriedigendes Gemälde bilden. Bringt man mir das in klaren Rhythmen und Reimen, so bin ich auf meinem Sofa dankbar, daß der Dichter ein Bild in meiner Imagination entwickelt hat, an dem ich mich ruhiger erfreuen kann, als wenn ich es, nach ermüdender Wanderschaft, vielleicht unter andern, ungünstigen Umständen vor Augen sehe.“
Der Major, der das vorwaltende Gespräch eigentlich nur als Mittel ansah, seine Zwecke zu befördern, suchte sich wieder nach der lyrischen Dichtkunst hinzuwenden, worin sein Sohn wirklich Löbliches geleistet hatte. Man widersprach ihm nicht geradezu, aber man suchte ihn von dem Wege wegzuscherzen, den er eingeschlagen hatte, besonders da er auf leidenschaftliche Gedichte hinzudeuten schien, womit der Sohn der unvergleichlichen Dame die entschiedene Neigung seines Herzens nicht ohne Kraft und Geschick vorzutragen gesucht hatte. „Lieder der Liebenden“, sagte die schöne Frau, „mag ich weder vorgelesen noch vorgesungen; glücklich Liebende beneidet man, eh’ man sich’s versieht, und die Unglücklichen machen uns immer Langeweile.“
Hierauf nahm die ältere Dame, zu ihrer holden Freundin gewendet, das Wort auf und sagte: „Warum machen wir solche Umschweife, verlieren die Zeit in Umständlichkeiten gegen einen Mann, den wir verehren und lieben? Sollen wir ihm nicht vertrauen, daß wir sein anmutiges Gedicht, worin er die wackere Leidenschaft zur Jagd in allen ihren Einzelheiten vorträgt, schon teilweise zu kennen das Vergnügen haben, und nunmehr ihn bitten, auch das Ganze nicht vorzuenthalten? Ihr Sohn“, fuhr sie fort, „hat uns einige Stellen mit Lebhaftigkeit aus dem Gedächtnis vorgetragen und uns neugierig gemacht, den Zusammenhang zu sehen.“ Als nun der Vater abermals auf die Talente des Sohns zurückkehren und diese hervorheben wollte, ließen es die Damen nicht gelten, indem sie es für eine offenbare Ausflucht ansprachen, um die Erfüllung ihrer Wünsche indirekt abzulehnen. Er kam nicht los, bis er unbewunden versprochen hatte, das Gedicht zu senden, sodann aber nahm das Gespräch eine Wendung, die ihn hinderte, zugunsten des Sohnes weiter etwas vorzubringen, besonders da ihm dieser alle Zudringlichkeit abgeraten hatte.
Da es nun Zeit schien, sich zu beurlauben, und der Freund auch deshalb einige Bewegung machte, sprach die Schöne mit einer Art von Verlegenheit, wodurch sie nur noch schöner ward, indem sie die frisch geknüpfte Schleife der Brieftasche sorgfältig zurechtzupfte: „Dichter und Liebhaber sind längst schon leider im Ruf, daß ihren Versprechen und Zusagen nicht viel zu trauen sei; verzeihen Sie daher, wenn ich das Wort eines Ehrenmannes in Zweifel zu ziehen wage und deshalb ein Pfand, einen Treupfennig (5) nicht verlange, sondern gebe. Nehmen Sie diese Brieftasche, sie hat etwas Ähnliches von Ihrem Jagdgedicht, viel Erinnerungen sind daran geknüpft, manche Zeit verging unter der Arbeit, endlich ist sie fertig; bedienen Sie sich derselben als eines Boten, uns Ihre liebliche Arbeit zu überbringen.“
Bei solch unerwartetem Anerbieten fühlte sich der Major wirklich betroffen; die zierliche Pracht dieser Gabe hatte so gar kein Verhältnis zu dem, was ihn gewöhnlich umgab, zu dem übrigen, dessen er sich bediente, daß er sie sich, obgleich dargereicht, kaum zueignen konnte; doch nahm er sich zusammen, und wie seinem Erinnern ein überliefertes Gute niemals versagte, so trat eine klassische Stelle alsbald ihm ins Gedächtnis. Nur wäre es pedantisch gewesen, sie anzuführen, doch regte sie einen heitern Gedanken bei ihm auf, daß er aus dem Stegreife mit artiger Paraphrase  einen freundlichen Dank und ein zierliches Kompliment entgegenzubringen im Falle war; und so schloß sich denn diese Szene auf eine befriedigende Weise für die sämtlichen Unterredenden.

 

(1) Tüfteln, also eine komplizierte, große Geschicklichkeit erfordernde Handarbeit ausführen. 

(2) Übertragung, Reformulierung das Gedichtes in Prosa.

(3) Gelegenheitsschriftsteller.

(4) Untergeordnet.

(5) Zeichen der Verlässlichkeit und Treue.

 

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