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Tondokumente zu Schriften der Goethezeit

Johann Wolfgang von Goethe
»Das Märchen« (Teil 13)

Lesung mit Hans-Jürgen Schatz

Sie waren nicht lange gegangen, als der Zug sich vor einem großen, ehernen Tore befand, dessen Flügel mit einem goldenen Schloß verschlossen waren. Der Alte rief sogleich die Irrlichter herbei, die sich nicht lange aufmuntern ließen, sondern geschäftig mit ihren spitzesten Flammen Schloß und Riegel aufzehrten.

Laut tönte das Erz, als die Pforten schnell aufsprangen und im Heiligtum die würdigen Bilder der Könige, durch die hereintretenden Lichter beleuchtet, erschienen. Jeder neigte sich vor den ehrwürdigen Herrschern, besonders ließen es die Irrlichter an krausen Verbeugungen nicht fehlen.

Nach einiger Pause fragte der goldne König: „Woher kommt ihr?“ -  „Aus der Welt,“ antwortete der Alte. „Wohin geht ihr?“ fragte der silberne König. „In die Welt,“ sagte der Alte. „Was wollt ihr bei uns?“ fragte der eherne König. „Euch begleiten,“ sagte der Alte.

Der gemischte König wollte eben zu reden anfangen, als der goldne zu den Irrlichtern, die ihm zu nahe gekommen waren, sprach: „Hebet euch weg von mir; mein Gold ist nicht für euren Gaum!“ Sie wandten sich darauf zum silbernen und schmiegten sich an ihn; sein Gewand glänzte schön von ihrem gelblichen Widerschein. „Ihr seid mir willkommen,“ sagte er, „aber ich kann euch nicht ernähren; sättiget euch auswärts und bringt mir euer Licht!“ Sie entfernten sich und schlichen bei dem ehernen vorbei, der sie nicht zu bemerken schien, auf den zusammengesetzten los. „Wer wird die Welt beherrschen?“ rief dieser mit stotternder Stimme. „Wer auf seinen Füßen steht.“ antwortete der Alte. „Das bin ich!“ sagte der gemischte König. „Es wird sich offenbaren,“ sagte der Alte; „denn es ist an der Zeit.“

Die schöne Lilie fiel dem Alten um den Hals und küßte ihn aufs herzlichste. „Heiliger Vater,“ sagte sie, „tausendmal dank ich dir, denn ich höre das ahnungsvolle Wort zum drittenmal.“ Sie hatte kaum ausgeredet, als sie sich noch fester an den Alten anhielt, denn der Boden fing unter ihnen an zu schwanken; die Alte und der Jüngling hielten sich auch aneinander, nur die beweglichen Irrlichter merkten nichts.

 

 

 

Johann Wolfgang von Goethe
»Das Märchen« (Teil 1)

Lesung mit Hans-Jürgen Schatz

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