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Tondokumente zu Schriften der Goethezeit

Johann Wolfgang von Goethe
»Das Märchen« (Teil 1)

Lesung mit Hans-Jürgen Schatz

An dem großen Flusse, der eben von einem starken Regen geschwollen und übergetreten war, lag in seiner kleinen Hütte, müde von der Anstrengung des Tages, der alte Fährmann und schlief. Mitten in der Nacht weckten ihn einige laute Stimmen; er hörte, daß Reisende übergesetzt sein wollten.

Als er vor die Tür hinaustrat, sah er zwei große Irrlichter über dem angebundenen Kahne schweben, die ihm versicherten, daß sie große Eile hätten und schon an jenem Ufer zu sein wünschten. Der Alte säumte nicht, stieß ab und fuhr mit seiner gewöhnlichen Geschicklichkeit quer über den Strom, indes die Fremden in einer unbekannten, sehr behenden Sprache gegeneinander zischten und mitunter in ein lautes Gelächter ausbrachen, indem sie bald auf den Rändern und Bänken, bald auf dem Boden des Kahns hin und wider hüpften.

„Der Kahn schwankt!“ rief der Alte; „und wenn ihr so unruhig seid, kann er umschlagen; setzt euch, ihr Lichter!“

Sie brachen über die Zumutung in ein großes Gelächter aus, verspotteten den Alten und waren noch unruhiger als vorher. Er trug ihre Unarten mit Geduld und stieß bald am jenseitigen Ufer an.

„Hier ist für Eure Mühe!“ riefen die Reisenden, und es fielen, indem sie sich schüttelten, viele glänzende Goldstücke in den feuchten Kahn. „Ums Himmels willen, was macht ihr?“ rief der Alte. „Ihr bringt mich ins größte Unglück! Wäre ein Goldstück ins Wasser gefallen, so würde der Strom, der dies Metall nicht leiden kann, sich in entsetzliche Wellen erhoben, das Schiff und mich verschlungen haben. Und wer weiß, wie es euch gegangen sein würde! Nehmt euer Geld wieder zu euch!“

„Wir können nichts wieder zu uns nehmen, was wir abgeschüttelt haben,“ versetzten jene.

„So macht ihr mir noch die Mühe,“ sagte der Alte, indem er sich bückte und die Goldstücke in seine Mütze las, „daß ich sie zusammensuchen, ans Land tragen und vergraben muß.“

Die Irrlichter waren aus dem Kahne gesprungen, und der Alte rief: „Wo bleibt nun mein Lohn?“

„Wer kein Gold nimmt, mag umsonst arbeiten!“ riefen die Irrlichter. -  „Ihr müßt wissen, daß man mich nur mit Früchten der Erde bezahlen kann.“ -  „Mit Früchten der Erde? Wir verschmähen sie und haben sie nie genossen.“ -  „Und doch kann ich euch nicht loslassen, bis ihr mir versprecht, daß ihr mir drei Kohlhäupter, drei Artischocken und drei große Zwiebeln liefert.“

Die Irrlichter wollten scherzend davonschlüpfen, allein sie fühlten sich auf eine unbegreifliche Weise an den Boden gefesselt; es war die unangenehmste Empfindung, die sie jemals gehabt hatten. Sie versprachen, seine Forderung nächstens zu befriedigen; er entließ sie und stieß ab. Er war schon weit hinweg, als sie ihm nachriefen: „Alter! hört, Alter! wir haben das Wichtigste vergessen!“ Er war fort und hörte sie nicht. Er hatte sich an derselben Seite den Fluß hinabtreiben lassen, wo er in einer gebirgigten Gegend, die das Wasser niemals erreichen konnte, das gefährliche Gold verscharren wollte. Dort fand er zwischen hohen Felsen eine ungeheure Kluft, schüttete es hinein und fuhr nach seiner Hütte zurück.

 

 

 

Johann Wolfgang von Goethe
»Das Märchen« (Teil 1)

Lesung mit Hans-Jürgen Schatz

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