goethe


Jutta Assel | Georg Jäger

Bernardin de Saint-Pierre

»Paul und Virginie«

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Durch das Schwanken des Schiffes geschah, was man fürchtete. Die vordern Ankertaue rissen, und da es nur noch durch ein einziges gehalten wurde, so ward es auf die eine halbe Kabeltaulänge vom Ufer befindliche Klippe geworfen. Bei diesem Anblick hörte man unter den Zuschauern nur Einen Schrei des Entsetzens. Paul wollte sich in's Meer stürzen, allein ich hielt ihn am Arme zurück. "Mein Sohn," sagte ich, "willst Du denn durchaus umkommen?" – "Ich muß ihr helfen," rief er, "oder sterben!" Da die Verzweiflung ihn zu keinem Nachdenken kommen ließ, so banden Domingo und ich, um ihn retten zu können, ihm ein langes Seil um den Leib, dessen Ende wir festhielten. Auf diese Art strebte Paul dem St. Geran zu, indem er bald schwamm, bald über die Klippen kletterte. Manchmal hatte er Hoffnung, das Schiff zu erreichen, denn das Meer ließ es bei seinen unregelmäßigen Bewegungen hie und da ganz auf dem Trockenen, so daß man zu Fuß hätte hinkommen können; dann aber kam es bald mit neuer Wuth zurück und bedeckte das Schiff mit ungeheuern Wasserwogen, die den ganzen Vordertheil seines Kiels in die Höhe hoben und den unglücklichen Paul mit blutenden Beinen, zerstoßener Brust und halbtodt weit hinweg auf's Ufer zurück schleuderten. Aber kaum hatte der Jüngling wieder einige Kräfte gesammelt, so sprang er auf und eilte mit neuem Eifer dem Schiffe zu, das indessen von den fürchterlichen Stößen des Meeres zu bersten anfing. Die ganze Mannschaft verzweifelte an ihrer Rettung; sie stürzte sich in die Wellen und griff nach Stangen, Brettern. Hühnerkörben, Tischen und Tonnen.

Jetzt zeigte sich ein Anblick, der ewigen Mitleids würdig ist. Ein junges Mädchen erschien auf der Gallerie vom Hintertheil des St. Geran und breitete ihre Arme Dem entgegen, der alle seine Kräfte anstrengte, um zu ihr zu gelangen. Es war Virginie. Sie hatte den Geliebten an seiner Unerschrockenheit erkannt. Der Anblick dieses liebenswürdigen Mädchens, das in solch entsetzlicher Gefahr schwebte, erfüllte uns Alle mit Schmerz und Verzweiflung. Virginie selbst zeigte eine edle sichere Haltung und winkte uns mit der Hand zu, wie wenn sie ein ewiges Lebewohl sagen wollte. Die Matrosen hatten sich Alle in's Meer gestürzt, und nur ein einziger war auf dem Verdecke geblieben. Er hatte seine Kleider abgeworfen und war nervig wie ein Herkules. Ehrerbietig näherte er sich Virginien: wir sahen, wie er sich zu ihren Füßen warf und sie zu überreden suchte, sich ebenfalls zu entkleiden; allein sie wies ihn mit Würde zurück und wandte die Augen von ihm ab. Die Zuschauer riefen Alle, so laut sie konnten: Rette sie, rette sie, verlaß sie nicht! Aber in demselben Augenblick fing sich ein Wasserberg von entsetzlicher Größe zwischen der Insel Ambra und der Küste, und wälzte sich brüllend dem Schiffe zu, das er mit seinen dunkeln Fluten und ihren schäumenden Spitzen bedrohte. Bei diesem fürchterlichen Anblick stürzte sich der Matrose allein in's Meer und Virginie, die den unvermeidlichen Tod vor sich sah, legte die eine Hand auf ihre Kleider, die andere auf's Herz, und indem sie heiter die Augen in die Höhe richtete, erschien sie ein Engel, der seinen Flug gen Himmel nimmt.  

(Übersetzung: G. Fink, 1840)

 

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