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Jutta Assel | Georg Jäger

Bernardin de Saint-Pierre

»Paul und Virginie«

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Auf diese Worte schloß sie Paul in seine Arme, drückte sie fest an seine Brust und rief mit schrecklicher Stimme: "Ich reise mit Dir, nichts soll mich von Dir trennen!" Wir liefen Alle hinzu, und Frau von Latour sagte zu ihm: "Mein Sohn! wenn Du uns verlässest, was soll aus uns werden?"

Ich sah ihn zittern, als er die Worte wiederholte. "Mein Sohn... Mein Sohn... Sie meine Mutter!" sagte er, "Sie, die Sie den Bruder von der Schwester trennen! Wir haben alle Beide Ihre Milch getrunken, wir sind Beide auf Ihrem Schooße groß gewachsen und haben von Ihnen uns lieben gelernt; wir haben es uns Beide tausendmal gesagt, und jetzt entfernen Sie sie von mir! Sie schicken sie nach Europa, in dieses Barbarenland, das Ihnen einen Zufluchtsort versagte, zu grausamen Verwandten, die Sie hülflos gelassen haben! Sie werden zu mir sagen: Du hast keine Rechte mehr an sie, sie ist nicht deine Schwester. Ach! sie ist mein Alles, sie ist mein Reichthum, meine Familie, mein Stand und all mein Gut. Ich kenne kein anderes, als sie! Wir hatten Ein Dach und Eine Wiege, wir wollen auch nur Ein Grab haben. Wenn sie abreist, so muß ich ihr folgen. Kann mich der Gouverneur daran hindern, wenn ich mich in's Meer stürze? Ich werde ihr schwimmend folgen; das Meer kann mir nicht unheilvoller seyn, als das Land. Wenn ich hier nicht bei ihr leben kann, so will ich wenigstens fern von Ihnen unter ihren Augen sterben. Grausame Mutter! Mitleidlose Frau! Möge der Ocean, dem Sie sie Preis geben, sie Ihnen nie wieder bringen! Mögen die Wellen, die Ihnen meine Leiche vor die Füße spielen, sie mit der ihrigen in den Sand des Ufers begraben und Ihnen durch den Verlust Ihrer beiden Kinder ewigen Schmerz bereiten!"  

(Übersetzung: G. Fink, 1840)

 

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