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Jutta Assel | Georg Jäger

Bernardin de Saint-Pierre

»Paul und Virginie«

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Eben hatte die Familie am andern Morgen ihre gewöhnliche gemeinschaftliche Andacht verrichtet, die dem Frühstück vorherzugehen pflegte, als Domingo die Nachricht brachte, ein vornehmer Herr zu Pferde, gefolgt von zwei Sklaven, komme auf die Wohnung zu. Es war Herr von Labourdonnais. Er trat in die Hütte und traf die ganze Familie am Tische. Virginie hatte so eben nach der Sitte des Landes Kaffee, in Wasser gekochten Reiß, warme Kartoffeln und frische Bananas aufgetragen. Statt der Gefäße bedienten sie sich halber Kürbißschalen, die Stelle des Tischtuches vertraten Bananasblätter. Der Gouverneur bezeigte zuerst einiges Erstaunen über die Dürftigkeit dieser Wohnung, dann wandte er sich an Frau von Latour und sagte zu ihr, die allgemeine Geschäfte hindern ihn manchmal, an die besondern zu denken; im Uebrigen stehe er jetzt ganz zu ihren Diensten. "Sie haben," setzte er hinzu, "eine sehr reiche und angesehene Tante in Paris, die Ihnen ihr Vermögen zugedacht hat und Sie erwartet." Frau von Latour antwortete dem Gouverneur, ihre zerrüttete Gesundheit erlaube ihr nicht, eine so weite Reise zu unternehmen. "Aber," fuhr Herr von Labourdonnais fort, "dann können Sie wenigstens ihrer jungen und liebenswürdigen Fräulein Tochter eine so große Erbschaft nicht entziehen, ohne unbillig zu handeln. Ich verhehle Ihnen nicht, daß Ihre Tante sich an die Behörden gewendet hat, um sie zu sich kommen zu lassen. Ich habe amtlichen Befehl, nötigenfalls Gewalt zu brauchen; da ich indessen gewohnt bin, diese nur zum Glücke der Bewohner unserer Kolonie auszuüben, so erwarte ich von Ihrer eigenen Einsicht dieses Opfer von einigen Jahren, von dem das Glück Ihrer Tochter und das Wohl Ihres ganzen Lebens abhängt. Warum kommt man denn auf die Inseln, außer um hier sein Glück zu machen? Ist es nicht weit angenehmer, es im Vaterlande zu finden?"

(Übersetzung: G. Fink, 1840)

 

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