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Jutta Assel | Georg Jäger

Bernardin de Saint-Pierre

»Paul und Virginie«

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Trug etwas zum Glück ihrer Vereinigung bei, so war es die gemeinsame Ausübung natürlicher Pflichten. Ihre gegenseitige Freundschaft verdoppelte sich bei dem Anblick ihrer Kinder, der Frucht einer gleich unglücklichen Liebe. Sie machten sich ein Vergnügen daraus, sie zusammen in dasselbe Bad zu setzen und in dieselbe Wiege zu legen. Oft nahm die Eine das Kind der Andern an die Brust, um es zu stillen. "Meine Freundin!" sagte Frau von Latour, "jede von uns soll zwei Kinder, und jedes von unsern Kindern zwei Mütter haben." Wie zwei Knospen, welche an zwei Bäumen von gleicher Gattung übrig bleiben, nachdem der Sturm alle Aeste derselben zerbrochen hat, süßere Früchte treiben, wenn jede von ihnen von dem Mutterstamm weggenommen und auf den Nachbarstamm gepfropft wird, so erfüllte sich das Gemüth dieser beiden aller ihrer sonstigen Verwandten beraubten kleinen Kinder mit zärtlicheren Gefühlen, als denen von Sohn und Tochter, Bruder und Schwester, wenn sie von den beiden Freundinnen, die ihnen das Leben gegeben hatten, wechselsweise an die Brust gelegt wurden. Schon an ihren Wiegen sprachen ihre Mütter von ihrer Heirath; und diese Aussicht auf eheliches Glück, durch welche sie ihre eigenen Leiden versüßten, endigte sehr oft damit, daß sie weinen mußten: die Eine, wenn ihr einfiel, ihr Unglück rühre daher, daß sie das Eheband verscherzt habe, und die Andere, daß sie es eingegangen; die Eine, daß sie sich über ihren Stand erhoben, und die Andere, daß sie sich unter denselben herunterbegeben habe; allein sie trösteten sich mit dem Gedanken, daß eines Tages ihre Kinder, glücklicher als sie, fern von Europas grausamen Vorurtheilen, zugleich die Wonne der Liebe und das Glück der Gleichheit genießen würden.

(Übersetzung: G. Fink, 1840)

 

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