goethe


Timo John

Adam Friedrich Oeser 1717-1799
Studie über einen Künstler der Empfindsamkeit

IV. Oeser, der geistige Vater Winckelmanns?

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Wie bereits in der Einleitung angedeutet, liegen große Bereiche von Oesers Zeit von vor 1764 im Dunkeln. Vieles ist Spekulation, Vermutung und Wunschdenken. Dies gilt besonders für die Bekanntschaft zwischen Oeser und Winckelmann, zu der es kaum kunst­historisch verwertbares Quellenmaterial gibt. Dennoch ist Oesers Name untrennbar mit dem Winckelmanns verbunden. Oeser und Winckelmann hatten ihre erste Begegnung in Nöthnitz über den Reichsgrafen Heinrich von Bünau, bei dem Winckelmann von 1748-1754 als Bibliothekar arbeitete. In den Jahren 1754-55 teilten sie sich dann bis zur Abreise Winckelmanns nach Italien ein gemeinsames Quartier in Dresden. Die Bekanntschaft der beiden Männer sollte für ihre spätere Beurteilung in ihrer gegenseitigen Einflußnahme bestimmend sein. Oeser vor allem wird eine tiefgreifende Einflußnahme auf Winckelmanns Erstlingsschrift „Gedanken über die Nachahmung der Griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst“ von 1755 zugeschrieben. Im Folgenden soll der Weg der Legenden­bildung um die Freundschaft Oeser-Winckelmann in der Kunstgeschichtsschreibung aufge­zeigt werden.

 

 

1.    Das Verhältnis zwischen Winckelmann und Oeser

Die persönliche Beziehung zwischen Oeser und Winckelmann wird laut gesicherten zeit­genössischer Quellen beiderseits als freundschaftlich bezeichnet. Winckelmann schreibt 1754 an Hieronymus Dietrich Berendis (1720-1783) „Herr Oeser ist hier mein einziger Freund und wird es bleiben.“[1] Kurz nach seiner Abreise aus Dresden nennt er Oeser einen „ewigen Freund,[2] und fast zehn Jahre später empfindet er in Rom nach wie vor die gleiche tiefe Verbundenheit gegenüber seinem Dresdener Freund, an den er schreibt:

„Ich bin ein Freund der Freunde, und sonderlich der wenigen jenseits der Gebürge unter welchen Sie der vertrauteste waren, und in Absicht Ihres Talents und Ihrer Kunst ist der Name meines Oesers bey hundert Gelegenheiten mit Ruhm in Rom genennet.“[3] 

  

Wohl kurz darauf wendet er sich erneut an Oeser und Winckelmann schreibt:

„Aber mein Freund sie sind zu gelehrt in ihrer Kunst: Wer kann Ihnen Regeln geben. [...] Wie wünschte ich, daß ich Sie bei mir hätte.“[4]

Wie Oeser sein persönliches Verhältnis zu Winckelmann sah, wurde von der Forschung bisher nur aus Äußerungen Dritter hergeleitet. Inzwischen wurde ein bislang unbekanntes Briefkonzept von Oeser an den Wiener Akademiedirektor Friedrich Justus Riedel (1742-1785) gefunden, das genaueren Aufschluß über seine Einstellung zu Winckelmann gibt. Das Kon­zept bezieht sich als Antwortschreiben auf einen unbekannten Brief Riedels, in dem er Oeser wissen ließ, daß er eine Neuausgabe von Wickelmanns „Geschichte der Kunst“ plane und er hierfür einige Angaben zu ihrer gemeinsamen Zeit in Dresden erbat.[5] Der Entwurf für das Antwortschreiben auf Riedels Anfrage kann als bislang einziges bekanntes Selbstzeugnis Oesers über Winckelmann gelten.

Oeser schildert Winckelmann als „vertrauten Freund“ und fährt bei dessen Charakteri­sierung in seinem Text weiter fort:

„Ich kann wohl sagen, daß ich unter den Menschenkindern seinesgleichen nicht gefunden habe, der zur Gesellschaft, wo Verstand und Einsicht erfordert wurde begabter war als er, und, wo Scherz und Freude nöthig, war er der alleruntauglichste und sich selbst zur Last. Bey seinem fürtreflichen Hertzen wußte er gar nicht, was Mißtrauen war, sich zu verstellen war ihm gantz unmöglich.“ [6]

Aufschlußreich ist es zu beobachten, wie sich Winckelmann, der sich gegenüber seinem Freund stets herzlich und wohlgesonnen äußert, sich gegenüber Dritten in seinem kunsthistorischen Urteil über Oeser ausläßt. 1763 schreibt er aus Rom an Caspar Füssli:

„Oeser ist ein Mann von dem größten Talente zur Kunst, aber er ist faul, und es ist kein öffentlich Werk von demselben vorhanden. Seiner Zeichnung fehlet eine strenge Richtigkeit der Alten und sein Colorit ist nicht reif genug; es ist ein Rubenscher Pinsel, aber deßen Zeichnung ist viel edler. Es ist ein Mann, der einen großen fertigen Verstand hat, und so viel man außer Italien wißen kann, weiß.“[7]

Winckelmann kritisiert in erster Linie formale Aspekte. Er argumentiert inzwischen nach eigener Anschauung aus einer „klassizistischen Position“, ungeachtet, daß nördlich der Alpen in der Kunstbeurteilung weitere Bewertungskriterien hinzukamen, die den reinen Formalismus seiner Bewertungskriterien verdrängten. Die Reise nach Italien war für Winckelmann die Grundvoraussetzung, als Künstler akzeptiert zu werden. Längst vor seiner eigenen Reise schätzte er es, sich mit Künstlern, die bereits in Italien waren und „Rom gesehen“ hatten, zu umgeben. Noch vor der Abfassung seines Erstlingswerkes berichtet Winckelmann 1752 von seinem Umgang mit den „Romfahrern“:

„Hingegen bin ich unter die Mahler gerathen und dieses unter Leute die auch sagen können: Romam vidi. Ein einziger solcher Mahler ist mir lieber als 10 Titel Stutzer. Ich habe Erlaubnis erhalten die Königl. Schildereyen Gallerie so oft ich will zu frequentieren. Mit Anfang Frühling werde ich gewisse Stunden zum Zeichen vor mich aussetzen.“[8]

Mit „Romam vidi“ konnte mit Sicherheit nicht Oeser gemeint sein. Somit waren es andere Künstler, die bereits zu diesem frühen Zeitpunkt „Romfahrer“ gewesen waren , wie z.B. Mengs und Dietrich, die Winckelmann aus eigener Anschauung ihre Eindrücke von der antiken Kunst schildern konnten. Demzufolge stellt Goethe in Bezug auf Winckelmanns Erstlingsschrift treffend fest, daß Winckelmann den Zugang zur Kunst über Künstler vermittelt bekam.[9] Es scheint ganz offensichtlich, daß Goethe hier auch an Oeser denkt, von einer konkreten, weitgreifenden theoretischen Einflußnahme auf das Antiken­bild Winckelmanns ist nicht die Rede. Dies konnte Oeser wohl kaum wesentlich geprägt haben, dafür fehlten ihm die theoretischen und wohl auch die intellektuellen Voraussetzungen. Was Winckelmann von Oeser erfuhr, waren mit Sicherheit seine Ein­drücke und Erfahrungen vom Umgang mit Kunst, vor allem aus seiner Zeit in Wien.[10] Hierzu schreibt er: “Von Donner weiß ich aus Oesers Munde, was ich weiß: denn ich bin nicht in Wien gewesen.“[11] Aller­dings dürfte auch der Bildhauer Georg Raphael Donner (1693-1741) wenig hilfreich bei der Vermittlung eines originären Antikenbildes gewesen sein, denn Winckelmann ging zu diesem Zeitpunkt noch davon aus, daß Donner Italien selbst noch nicht gesehen hatte.[12]

 

 

2.    Der Weg zur Legende: Aus räumlicher Nähe wird geistige Urheberschaft

Während seiner Dresdener Zeit nahm Winckelmann bei Oeser erstmals Zeichen­unterricht.[13] Neben der Einführung in das praktische Arbeiten waren die gemeinsamen eineinhalb Jahre von einem regen gegenseitigen Gedankenaustausch geprägt. Dabei dürfte der Einfluß Winckelmanns auf Oeser ungleich größer gewesen als umgekehrt. Die räumliche Nähe und die miteinander geführten Gespräche der beiden, ließ Johann Gottfried Herder (1744-1803), der ein überzeugter Winckelmannanhänger war, 1781 im „Teutschen Merkur“ eine beträchtliche Beeinflussung Winckelmanns durch Oeser annehmen, worin mitunter auch ein Grund für die Wertschätzung Oesers durch seine Zeitgenossen zu sehen ist. In dem Text Herders heißt es:

“Winckelmanns erste Schrift ward in Oesers Haus geschrieben, und Oesers feiner Geist ist bis auf die hohe Liebe zur Allegorie in ihr bemerkbar. Ein Freund, ein Künstler sollte das Verdienst haben, das kein Begüterter, Satter und Großer sich zu erwerben wußte, den Keim, der in Winckelmann lag und den niemand erst hineinlegen durfte hervorzubringen und zu entfalten.“[14]

Der Dichter Johann Gottfried Seume geht im Todesjahr Oesers 1799 ebenfalls davon aus, daß Oeser einen weitreichenden Einfluß auf den Altertumsforscher hatte. Er sieht, daß Winckel­manns:

[...] ganze Beschreibung von Raphaels Madonna [...] Oeser von dem Munde nachgeschrieben“ ist, weiter vermutet er, „Winckelmann hat vielleicht das meiste, was er nachher in Beziehung auf die Kunst, als Kunst leistete, Oeser zu danken.“[15]

Offenbar konnte das 18. Jahrhundert problemlos einen bedeutenden Bezug zwischen Oeser, dem Künstler, und Winckelmann, dem Theoretiker, herstellen. Wobei diese Theorie mit äußerster Vorsicht zu betrachten ist, denn Herders und Seumes Vermutungen berufen sich auf durchaus schwer zu interpretierendes Quellenmaterial und Tatsachen. Anlaß zu der Annahme gab der 1756 von Winckelmann pathetisch verfaßte Schlußsatz in den „Erläuterungen“ zu sei­nen „Gedanken über die Nachahmung der Griechischen Werke in der Malerei und Bild­hauerkunst“:

„Allein die Kunst ist unerschöpflich, und man muß nicht alles schreiben wollen. Ich suchte mich in der mir vergönnten Muße zu beschäftigen, und die Unterredungen mit meinem Freunde. Herrn Friedrich Oeser, einem wahren Nachfolger des Aristides[16], der die Seele schilderte und für den Verstand malete, gaben zum Theil hierzu die Gelegenheit. Der Name dieses würdigen Künstlers und Freundes soll den Schluß meiner Schrift zieren.“[17]

Der Dank der hier gegenüber Oeser zum Ausdruck gebracht wird, bezieht sich rein auf das praktische Kunsterleben und Kunsterfahrungen. Von einer tiefergehenden kunst­theore­tischen Inspiration ist nicht die Rede.[18]

Sollte dies dennoch der Fall gewesen sein, verwundert es, daß Oeser in dem bereits zitierten Brief an Riedel, die Erstlingschrift Winckelmanns, verschweigt[19]. Oeser wäre eitel genug gewesen, dies Riedel mitzuteilen, wenn er tatsächlich einen so maßgeblichen Anteil an Winckelmanns „Gedanken...“ gehabt hätte, wie es von seinen Zeitgenossen, dem 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhundert behauptet wurde. Es muß davon ausgegangen werden, daß sämtliche weiteren Mutmaßungen über eine Beeinflussung Oesers auf Winckelmann im Bereich der Spekulation anzusiedeln sind.

 

 

3.    Goethe im Zwiespalt?

Großen Anteil an der Legendenbildung um den Einfluß Oesers auf den Altertumskenner hatten die Worte Goethes. Im 8. Buch aus „Dichtung und Wahrheit“ von 1811 schreibt er von einem erhabenen Gefühl das „Evangelium des Schönen“ während des Unterrichts bei Oeser vermittelt bekommen zu haben und „...aus der selben Quelle zu schöpfen aus der Winckelmann seinen ersten Durst gestillt hatte“ [20]. An den Leipziger Verleger Reich schrieb er 1770 den folgenschweren Satz: „Sein Unterricht wird mein ganzes Leben Folgen haben. Er lehrte mich, das Ideal der Schönheit sei Einfalt und Stille.“[21] Die von Goethe benutzte Programmformel von der „edlen Einfalt und stillen Größe“ gehörte seit der Ver­öffentlichung von Winckelmanns Schriften zum allgemeinen Sprachgebrauch. Goethe unter­nahm allerdings niemals den Versuch einer Klärung über deren Urheberschaft. Im 8. Buch aus „Dichtung und Wahrheit“ von 1811, gab er zwar noch immer vor, von der Einfluß­nahme Oesers auf Winckelmann überzeugt zu sein. Die Programm­formel, die er in seinem Brief an Reich über vierzig Jahre zuvor noch benutzte, verwendete er in „Dichtung und Wahrheit“ allerdings nicht mehr. War sich Goethe inzwischen unsicher, wie weit der Einfluß Oesers auf Winckelmann wirklich reichte? Zumal er auch von den künstle­rischen Arbeiten seines früheren Zeichenlehrers zu diesem Zeitpunkt weniger begeistert war, und er sich in seinem Lebensrückblick von seiner anfänglichen Faszination gegenüber Winckelmanns Dresdener Schriften ebenfalls distanzierte, da dieser zu dem Zeitpunkt ihres Entstehens noch nicht in Italien gewesen war. Und so kam er zu dem Urteil:

[...] sind sie doch, sowohl dem Stoff als der Form nach, dergestalt barock und wunderlich, daß man ihnen wohl vergebens durchaus einen Sinn abzugewinnen suchen möchte.[...]; weshalb diese Schriften für die Nachwelt ein verschlossenes Buch bleiben werden.“[22]

In einem späteren Aufsatz über Winckelmann schreibt Goethe demzufolge:

„Lippert, Hagedorn, Oeser, Diterich, Heinecke, Oesterreich, liebten, trieben, beförderten die Kunst jeder auf seine Weise. Ihre Zwecke waren beschränkt, ihre Maxime einseitig, ja öfters wunderlich [...]. Aus solchen Elementen ent­standen jene Schriften Winckelmanns, der diese Arbeit gar bald selbst unzu­länglich fand, wie er es denn auch seinen Freunden nicht verhehlte“[23]

Vielleicht zeigt sich hier in Goethes Beurteilung der Winckelmannschriften auch der Zwiespalt in der Mißbilligung Oesers. Ein weiteres Indiz hierfür könnte die von Goethe 1804 verfaßte Schrift  „Winckelmann und sein Jahrhundert“ sein, in der, wie das Allgemeine Künstler­lexikon der Schweiz von 1810 bemerkte, der Name Oesers „mit keinem Wort Erwähnung geschiehet“.[24]

 

 

4.    Das 19. Jahrhundert setzt die Legende fort

Es ist bemerkenswert festzustellen, wie der spätere Winckelmannbiograph Carl Justi an der Legendenbildung im 19. Jahrhundert mitwirkte und sie weiter ausbaute. Indem er nämlich den Bildhauer Raphael Donner, den in der Bildhauerkunst handwerklichen Lehrmeister Oesers,[25] zum gedanklichen Urheber des epocheprägenden Leitsatzes von der „edlen Ein­falt und stillen Größe“ machte. Nach Justis Auffassung waren Winckel­mann und Goethe, die beiden ersten, die diese Programmformel aus Oesers Mund zu hören bekamen. Mit dieser Behauptung trug Justi entschieden zur Glaubhaftigkeit der Legende von dem überragenden Einfluß Oesers auf Winckelmann bei. Offensichtlich greift er bei seinen Ausführungen sogar auf die Wortwahl Goethes in „Dichtung und Wahrheit“ zurück (s. o.). Justi konstruiert demzufolge:

„Das „Evangelium des Schönen“, jenes Wort von der edlen Einfalt und stillen Größe, hörte Winckelmann, wie später Goethe, wahrscheinlich zuerst aus Oesers Munde. In Oeser aber waren solche Ideen ehemals in der Schule Raphael Donners lebendig geworden, der in seinen Werken im Gegensatz zu dem allgemein herrschenden leidenschaftlich pathetischen Charakter, zuerst wieder auf Einfachheit, Natürlichkeit und Ruhe zurückgegangen war, [...][26]

Ob Justi den bereits zitierten Brief Goethes an Reich (s.o.) kannte, ist nur zu vermuten, mit Sicherheit aber kannte er das 1779 von Oeser selbst herausgegebene „Schreiben an Herrn von Hagedorn“.[27] Hier beschreibt Oeser einen „Christuskopf“ von Guido Reni (1575-1642) aus der Sammlung Schwalbe in Hamburg. In dem Text taucht zum ersten Mal bei Oeser die Formu­lierung von der „stillen Größe“ und „edlen Einfalt“ auf:

[...] Die stille Größe in allen Zügen; das ruhige, weisheitsvolle Auge; der zum Sprechen bereit scheinende Mund; die edle Einfalt des über die Schultern herabrollenden Haares; [...][28]

Ungeachtet, daß die Programmformel auch für Oeser zum allgemeinen Wortschatz des 18. Jahrhunderts gehörte und sich als polemische Spitze, gegen den gerade noch in Sachsen vorherrschenden Barock richtete, war es für Justi der Beweis, daß die Formel für den Klas­sizismus tatsächlich von Oeser ausging. Der Grund, weswegen Justi Donner eine solch ent­scheidende Rolle zuweist, hängt wohl mit der allgemeinen negativen Kritik des 19. Jahrhun­derts gegenüber Oeser als Künstler zusammen, die Justi bekannt war. Somit mußte er ihn im Theoretischen, unter den prägenden Einfluß eines von allen Kritikern und auch von Winckelmann anerkannten Bildhauers stellen. Im Grunde genommen geschah dies, um so die gängige Theorie des 18. Jahrhunderts von dem bestimmenden Einfluß Oesers auf Winckelmann, zu stützen.

Donner als Vorbild für Winckelmann zu stilisieren, hängt mit seiner Sonderstellung zusam­men, die er innerhalb der Barockplastik einnahm.

„Der offenbar gezielte Rückgriff auf ältere, traditionsreiche Vorbilder könnte die auffällige Sonderposition begründet haben, die für Raphael Donner inner­halb der Barockplastik seit eh und je in Anspruch genommen worden ist. Denn im Unterschied zum ausgeprägten Illusionismus seiner Zeitgenossen trat Don­ner, anscheinend unvermittelt, mit Bildwerken klarer Konturierung und orga­nischer Bewegung auf, mit Figuren, die allseits nachvollziehbar ihren Umraum einbegreifen, mit Körpern, deren detaillierte Modellierung die Gewandführung hervorhebt. Diese klassischen Elemente und ihre manierierte Verfeinerung kennzeichnen Donners Plastik und entfernen sich von Tendenzen seiner Zeit­genossen so entscheidend, daß die Kunstgeschichte sie mit dem Begriff „Barockklassizismus“ belegte.“[29]

Das Neue in Donners Arbeiten erkannte auch Justi, und somit lassen sich die Theorien Winckelmanns stärker untermauern und legitimieren. Wobei Oeser hier nur noch als Mittler der Donnerschen Lehre zu sehen wäre.

Winckelmann konnte weder von Oeser noch von Donner für die Antike begeistert werden, erstens, weil die Faszination für die Antike bei Winckelmann längst vorhan­den war und zweitens, da Donner weniger als hundert Jahre alte Bronzeplastiken bereits als antik ansah. Erst die archäologische Sichtweise differenziert zwischen „antik“ und „antikisierend“, um eine „reine“ Betrachtungsweise antiker Kunst und der damit verbundenen ethischen Programmatik zu gewinnen.[30] Mit anderen Worten, es war doch gerade Winckelmann, der diese Grundsätze als einer der ersten in Deutschland in seinen Schriften propagierte, allerdings erst nachdem er selbst in Italien war und die Antike vor Ort in Original studieren konnte.

Die scheinbar von Oeser übermittelten Donnerschen Leitgedanken waren aber wohl kaum dafür geeignet, denn Donner ebenso wie Oeser konnten laut Winckelmann nur so viel von der Antike wissen, wie „man außer Italien wißen kann“.[31]

 

 

5.    Die Rezeption der Legende im 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts

Alphons Dürr greift für seine Oesermonographie ganz offensichtlich auf die Thesen Justis zurück und geht ebenfalls davon aus, daß „Die Gedanken...“ zur Hälfte auf die „geistige Urheberschaft“ Oesers zurückgehen.[32] Oeser allein kam als erstem die Ehre zu, „das große Lösungswort des Jahrhundert“[33] aus der Lehre Donners, nämlich „die Lehre von der edelen Einfalt und stillen Größe, [Winckelmann] zuerst verkündet zu haben“[34]. Weiter schreibt Dürr:

„An theoretischen Anschauungen war beiden damals alles gemeinsam, Winckelmann nahm Gedanken und Maximen von Oeser in sich auf, und dieser wieder bereicherte sein Wissen durch die schätzenswerthen antiquarischen Kenntnisse seines Freundes. Winckelmann ließ Oesers Wesen ganz in sich walten, [...][35]

In die Reihe von Justi und Dürr ordnet sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vorbehaltlos 1914 Kurzwelly ein:

„Oesers Verdienst ist es daher, daß die Kunst wieder der Antike zugeführt wurde; es ist sein Werk, daß die Donnerschen Lehren der Menschheit über­liefert wurden.“[36]

In ähnlicher Weise äußert sich 1930 auch Benyovszky, der davon ausgeht, daß ein Viertel der Winckelmannschen Schrift sich auf Oeser stützt:

„Die zuerst von Winckelmann öffentlich ausgesprochene Lehre von der edlen Einfalt und stillen Größe der Antike, die zum Schlagwort des Klassizismus wurde, hat ihre Urheimat in Donners Geist und wurde von diesem in Oesers empfänglicher Seele eingepflanzt.“[37]

 

 

6.    Versuch einer Richtigstellung

Seit Carl Justis Grundlagenwerk über Winckelmann und der Monographie zu Oeser von Alphons Dürr, ist es zum Allgemeinplatz geworden, daß Oeser die Grundansichten in Winckelmanns Erstlingsschrift der „Gedanken...“ und ihren beiden Zusätzen (den „Erläuterungen“ und dem „Sendschreiben“) entscheidend beeinflußt hat. Baumecker hat in seiner Arbeit „Winckelmann in seinen Dresdner Schriften“ von 1933 erstmals nach­gewiesen, daß die von Justi und Dürr aufgestellte Behauptung, aufgrund der Quellen­lage nicht stichhaltig zu begründen ist.[38] Bis heute hat die Arbeit Baumeckers ihre unbestrittene Gültigkeit bewahrt. Sie zeigt, daß Winckelmanns kunsttheoretische Quellen für seine Dres­dener Arbeiten auf den theoretischen Erkenntnissen seiner Vorgänger wie Shaftesbury, Jean de Labruyère (1644-1696), Jonathan Richardson (1665-1745), Roger de Piles (1635-1709), André Félibien (1619-1695) basieren.[39]

Erst das spätere 20. Jahrhundert kommt in der Beurteilung der Einflußnahme Oesers auf Winckelmann zu einem differenzierteren Urteil als das 19. Jahrhundert. Kunze beschreibt die theoriebildende Einflußnahme Oesers auf Winckelmann als anekdotisch.[40] Für ihn gilt der Einfluß Oesers lediglich auf das praktische Kunsterfahren und Kunsterleben.[41] Auch Marx ist der Auffassung, daß Winckelmann bei Oeser allein die künstlerische Praxis erlernte. Große Bedeutung kommt ihm allerdings als Akademie­direktor bei der Verbreitung der Lehren Winckelmanns vor allem in Sachsen zu.[42]


 

[1] zit. nach: Karpf, Michael und Almut, Georg Raphael Donner - Adam Friedrich Oeser - Johann Joachim Winckelmann: Edle Einfalt und stille Größe; in: Kat. Georg Raphael Donner 1693-1741, Hrsg. Österreichische Galerie Wien, Wien, 1993, S. 25

[2] Brief Winckelmanns vom 15. Mai 1758 aus Italien an Oeser; in: Hrsg. Uhde-Bernays, Hermann, Unbekannte Briefe Winckelmanns; in: Jahrbuch der Sammlung Kippenberg, Bd. I, o. O., 1921,
S. 55

[3] Brief Winckelmanns vom 24.Februar 1767 aus Italien an Oeser; in: Uhde-Bernays, 1921, S. 55

[4] Brief Winckelmanns o.D. aus Italien an Oeser in: Uhde-Bernays, 1921, S. 50. Die bereits mehrfach zitierten Freundschaftsbekundungen und der damit verbundene sprachliche Pathos, muß vor dem Hintergrund des für die Zeit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts so typischen Freundschaftskultes gesehen werden. Sympathie wurde gleichgesetzt mit Seelenverwandschaft. Der Sprachgebrauch des 18. Jahrhunderts wurde vielfach bereits im 19. Jahrhundert nicht mehr verstanden und führte wohl zu weit überzogenen Interpretationen.

[5] Oeser berichtet am 26. Februar 1773 über die Anfrage Riedels an Hagedorn: „Es war eine recht erfreuliche Nachricht, daß Riedel die Winckelmannische Geschichte der Kunst herausgeben will. Er begehrt von mir Beiträge zum Lebenslauf des Winckelmanns. [...] Ich habe noch keinen Gelehrten gefunden, der den Plan von Winckelmann eingesehen hätte. Wahrlich der Mann hat uns viel Ehre angethan, daß er uns sein classisches Werk deutsch hat liefern wollen. Es ist etwas klägliches mit den Zurechtweisungen der Gelehrten. Und doch schreiet man über die Undankbarkeit Winckelmanns gegen seine Landsleute. Die Unkenntlichen!“; zit. nach: Baden, 1797, S. 290

[6] Brief Oesers. o. O., o. D., (vermutl. 1775/75), an Friedrich Justus Riedel. Der Originalbrief konnte nicht gefunden werden, jedoch das Konzept von Oesers Hand, UBL Rep. VI 25 zh 2,
s. Quellentext Nr. 2; hier erstmals veröffentlicht. Die Abschrift des Textes befindet sich im Deutschen Literaturarchiv, Marbach a. N., Cotta-Archiv, Sammlung Wüstmann. Riedel gab 1776 Winckelmanns „Geschichte der Kunst“ neu heraus; Winckelmann, Johann Joachim, Geschichte der Kunst des Altertums, Nachdr., Darmstadt, 1993

[7] Winckelmann, Johann Joachim, Briefe, Hrsg. Rehm, Walter, 2. Bd., Berlin, 1952-57, S. 307

[8] Winckelmann, Briefe, Hrsg. Rehm, Bd. 1, 1952-57, S. 110

[9][...] allein zu Benutzung, zu Beurteilung derselben bedurfte er noch der Künstler als Mittelpersonen.“;W. A., Bd. 53, Abth. 1, Bd. 46, S. 34

[10] J.J. Winckelmann 1952-57, Bd. 1, S. 158; Kunze, Max, Winckelmann und Oeser; in: Johann Joachim Winckelmann und Adam Friedrich Oeser, Hrsg. Kunze, Max, Stendal, 1977, S. 9ff.

[11] Winckelmann, Briefe, Hrsg. Rehm, Bd. 2, 1952-57, S. 307

[12] Karpf, 1993, S. 24

[13] Geyser, G. W., Geschichte der Malerei in Leipzig von frühester Zeit bis zu dem Jahre 1813, Leipzig, 1858, S. 65. G. W. Geyser war ein Enkel Oesers. Er ging aus der Ehe zwischen Oesers Tochter Wilhelmine (1755-1813) und dem Leipziger Kupferstecher Christian Gottlieb Geyser (1742-1803) hervor.

[14] Teutscher Merkur, 1781, 3.u. 4. Vierteljahr, S. 199

[15] Seume, 1799, S. 152-159

[16] Griechischer Maler aus Theben, Begründer der Spätklassik, 4. Jhdt. v. Chr.

[17] Winckelmann, Erläuterungen, 1756, S. 173

[18] Vielmehr wäre hier die Frage zu stellen, inwieweit solche Vermutungen wie sie Seume und Herder nach dem Motto: „das Genie des Künstlers inspiriert den Geist des Theoretikers“ aufstellten, Tradition in der Legendenbildung um Künstlerbiographien haben. Anlaß zu dieser Vermutung gibt der geschichtliche Versuch von Kris und Kurz über „Die Legende vom Künstler“, die verschiedene stereotype Formeln in Künstlerbiographien nachgewiesen haben, die als Topoi von der Antike bis weit in das 19. Jahrhundert durchgehend auftreten. Allerdings wird eine ähnliche Beziehung, wie sie zwischen Oeser und Winckelmann bestand, nicht beschrieben. Dennoch wäre es lohnenswert, einmal an anderer Stelle den Traditionen solcher „Künstler-Gelehrten“ Konstellationen und ihrer gegenseitigen Beeinflussung nachzugehen, s. Kris, Ernst; Kurz, Otto, Die Legende vom Künstler, Frankfurt/M., 1995

[19] s. Quellentext Nr. 2

[20] W. A., Bd. 31, Abth. 1, Bd. 27, S. 161f.

[21] Brief Goethes vom 20. Februar 1770 an Philipp Erasmus Reich; in: Jahn, Otto, Goethes Briefe an Leipziger Freunde, Leipzig, 18672, S. 266.

[22] W. A., Winckelmann, Bd. 53, Abth. 1, Bd. 64, S. 35

[23] W. A., Winckelmann, Bd. 53, Abth. 1, Bd. 64, S. 35. Karl Heinrich von Heineken (1706-1791), Mathäus Österreich (1726-1778)

[24] Allgem. Künstlerlexikon, Orell/Füßli, Bd. 2, Zürich, MDCCCX, S. 984f.

[25] Hagedorn beschreibt Oeser als einen Schüler von Raphael Donner „Parmi les Peintres, Rossier [...] & Fréderic Oeser, connu par dievers sujets historiques qu´il a peints à Dresde, sont gloire d´avoir été disciples de Raphael Donner. Le dernier naquit à Presbourg en 1717. Fréquenta pendant le cours de sept années l´Academie de Peinture à Vienne, & y remporta le prix á l´âge de dix-huit ans.En sortant de l´Academie , il semit encore deux ans chez Donner, pour allier au talent de la Peinture, celui de bien modéler & l´étude du Costume & de l´Antique. Il s´établit à Dresde en 1739.“; Hagedorn, 1755, S. 330f.. Seume berichtet in seinem Nekrolog von 1799: „Einer seiner vertrautesten Freunde in Wien war Rafael Donner, von dem er bis an sein Ende mit wahrhaft zärtlicher Rührung sprach, vorzüglich wenn er das Bildnis seines ehemaligen Freundes betrachtete, oder es andern wie einen Heiligen in der Hauskapelle vorzeigte.“; Seume, 1799, S. 154; Der Oeser Enkel Geyser bemerkt über die Lehrjahre bei Donner: [...] der erfahrene Medailleur und Bildhauer [Donner] unterwies den noch jugendlichen Maler in der Führung des Meißels, und stand nicht an, von diesem Unterricht zu empfangen im Gebrauch von Pinsel und Palette, welche er, wiederholten Äußerungen zufolge, mit Eisen zu vertauschen geneigt war.“; Geyser, 1858, S. 63.

[26] Justi, Bd. I, Leipzig, 1866, S. 410. Justi geht ferner davon aus, „daß die von Oeser gepredigten Lehren, mit welchen die Anfänge unseres Helden [Winckelmann] eng verwebt sind, ihre letzte Quelle in dem Atelier des bescheidenen und zu seiner Zeit schlecht erkannten und belohnten österreichischen Bildhauers [Donner] haben.“; ebd., S. 250. In den Bemerkungen Goethes über seinen früheren Zeichenlehrer taucht in diesem Zusammenhang der Name Donners niemals auf.

[27] Oeser, Adam Friedrich, „Schreiben an Herrn von Hagedorn“, Leipzig, 1779

[28] Oeser, 1779, S. 16; vgl. Christuskopf (Abb. 22)

[29] Beck, Herbert, Aspekte der Stilbildung bei Georg Raphael Donner (1693-1741),in: Kat. Frankfurt/M., Liebighaus, 1993, S. 6; Wenzel, 1999, S.18f.

[30] Beck, 1993, S. 17, Wenzel, 1999, S.19f.

[31] Winckelmann, Briefe, Hrsg. Rehm, Bd. 2, 1952-57, S. 307

[32] Dürr, 1879, S. 53

[33] Dürr, 1879, S. 56

[34] Dürr, 1879, S. 57

[35] Dürr, 1879, S. 52

[36] Kurzwelly, Albrecht, Die Leipziger Akademie unter Adam Friedrich Oeser und ihre ersten Schüler; in: Leipziger Kalender, Bd. XI, Leipzig, 1914, S. 42

[37] Benyovszky; 1930, S. 77

[38] Baumecker, Gottfried, Winckelmann in seinen Dresdner Schriften. Die Entstehung von Winckelmanns Kunstanschauung und ihr Verhältnis zur vorhergehenden Kunsttheoretik mit Benutzung der Pariser Manuskripte Winckelmanns dargestellt, Berlin, 1933, Einleitung, S. 1ff.

[39] Baumecker, 1933, S. 57-68; vgl. Kunze, 1977, S. 9ff.; Winckelmann, J.J., Kleine Schriften, Weimar, 1960, S. 387; Wenzel, 1999, S. 86. Wenig kritisch geht Gisold Lammel mit der kunsttheoretischen Geschichtsschreibung um. Für ihn steht nach wie vor fest, daß das programmatische Losungswort von der „edlen Einfalt und stillen Größe“ auf Oeser zurück geht, ferner sieht er, ohne dies zu begründen, zahlreiche gedankliche Einflüsse Oesers auf Winckelmann; vgl. Lammel, 1986, S. 39f.

[40] Kunze, Max, 1977, S. 9ff.; vgl. Baumecker, 1933, S. 4ff.. Käfer weist ebenfalls darauf hin, daß Winckelmann “in seiner Kenntnis der kunsttheoretischen, historischen Schriften und naturwissenschaftlichen Literatur Oeser weit überlegen gewesen“ ist; Käfer, Markus, Winckelmanns hermeneutische Prinzipien; in: Heidelberger Forschungen, H.27, Heidelberg, 1986, S. 132-136; vgl. ebenso Uhlig, Ludwig, S. 152; in: Winckelmann, Johann Joachim, Erläuterungen der Gedanken von der Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst, Sendschreiben, Erläuterungen, Nachdr., Hrsg. Uhlig, Ludwig, Stuttgart, 1991

[41] In gleicher Weise schränkt Willy Handrick (Leipzig, 1957) Oesers Einfluß auf Winckelmann auf die Fragen künstlerischer Praxis ein, S. 177

[42] Marx, Harald, „...den guten Geschmack einzuführen.“, Persönlichkeiten und Richtungen der Dresdener Malerei im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts, in: Dresdener Hefte, 6. Jhg., Heft 7, Dresden, 1988, S. 49. Auch auf das „Sendschreiben“ ist der Einfluß für Uhlig kaum erkennbar, Uhlig, 1991. S. 152. Aus der Tatsache, daß Winckelmann in seinen Dresdener Schriften erstmals Stellung zur Allegorie bezieht, wird auch dieses Kapitel meist Oeser zugeschrieben. Wieland stellt fest: „Oesers andeutender Geist ist bis auf die hohe Liebe zur Allegorie in ihr merkbar.“ in: Wieland, Christoph Martin, Teutscher Merkur, 3.u.4. Vierteljahr, 1781, S. 199. Winckelmann war durch seine Studien antiker Schriften durchaus schon vor dem zusammentreffen Oeser mit der Allegorie vertraut, wenn er schreibt : „..., und die Gedanken mahlen, ist unstreitig älter als dieselben schreiben, wie wir aus der Geschichte der Völker der alten und neuen Welt wissen.“ in: Winckelmann, J. J., Versuch einer Allegorie besonders für die Kunst, Dresden, 1766, S. 3. Was über die generelle Einflußnahme Oesers auf die Dresdener Schriften Winckelmanns bereits gesagt wurde, kann ebenfalls im Besonderen auch für die Allegorie gelten.

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