Wie bereits in der Einleitung
angedeutet, liegen große Bereiche von Oesers Zeit von vor 1764 im Dunkeln.
Vieles ist Spekulation, Vermutung und Wunschdenken. Dies gilt besonders für die
Bekanntschaft zwischen Oeser und Winckelmann, zu der es kaum kunsthistorisch
verwertbares Quellenmaterial gibt. Dennoch ist Oesers Name untrennbar mit dem
Winckelmanns verbunden. Oeser und Winckelmann hatten ihre erste Begegnung in
Nöthnitz über den Reichsgrafen Heinrich von Bünau, bei dem Winckelmann von
1748-1754 als Bibliothekar arbeitete. In den Jahren 1754-55 teilten sie sich
dann bis zur Abreise Winckelmanns nach Italien ein gemeinsames Quartier in
Dresden. Die Bekanntschaft der beiden Männer sollte für ihre spätere Beurteilung
in ihrer gegenseitigen Einflußnahme bestimmend sein. Oeser vor allem wird eine
tiefgreifende Einflußnahme auf Winckelmanns Erstlingsschrift „Gedanken über
die Nachahmung der Griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst“ von
1755 zugeschrieben. Im Folgenden soll der Weg der Legendenbildung um die
Freundschaft Oeser-Winckelmann in der Kunstgeschichtsschreibung aufgezeigt
werden.
Die persönliche Beziehung
zwischen Oeser und Winckelmann wird laut gesicherten zeitgenössischer Quellen
beiderseits als freundschaftlich bezeichnet. Winckelmann schreibt 1754 an
Hieronymus Dietrich Berendis (1720-1783) „Herr Oeser
ist hier mein einziger Freund und wird es bleiben.“
Kurz nach seiner Abreise aus Dresden nennt er Oeser
einen „ewigen Freund,
und fast zehn Jahre später empfindet er in Rom nach wie vor die gleiche tiefe
Verbundenheit gegenüber seinem Dresdener Freund, an den er schreibt:
„Ich bin ein Freund der Freunde,
und sonderlich der wenigen jenseits der Gebürge unter welchen Sie der
vertrauteste waren, und in Absicht Ihres Talents und Ihrer Kunst ist der Name
meines Oesers bey hundert Gelegenheiten mit Ruhm in Rom genennet.“
Wohl kurz darauf wendet er sich
erneut an Oeser und Winckelmann schreibt:
„Aber mein Freund sie sind zu
gelehrt in ihrer Kunst: Wer kann Ihnen Regeln geben.
[...]
Wie wünschte ich, daß ich Sie bei mir hätte.“
Wie Oeser sein persönliches
Verhältnis zu Winckelmann sah, wurde von der Forschung bisher nur aus Äußerungen
Dritter hergeleitet. Inzwischen wurde ein bislang unbekanntes Briefkonzept von
Oeser an den Wiener Akademiedirektor Friedrich Justus Riedel (1742-1785)
gefunden, das genaueren Aufschluß über seine Einstellung zu Winckelmann gibt.
Das Konzept bezieht sich als Antwortschreiben auf einen unbekannten Brief
Riedels, in dem er Oeser wissen ließ, daß er eine Neuausgabe von Wickelmanns
„Geschichte der Kunst“ plane und er hierfür einige Angaben zu ihrer
gemeinsamen Zeit in Dresden erbat.
Der Entwurf für das Antwortschreiben auf Riedels Anfrage kann als bislang
einziges bekanntes Selbstzeugnis Oesers über Winckelmann gelten.
Oeser
schildert Winckelmann als „vertrauten Freund“ und fährt bei dessen
Charakterisierung in seinem Text weiter fort:
„Ich kann wohl sagen, daß ich
unter den Menschenkindern seinesgleichen nicht gefunden habe, der zur
Gesellschaft, wo Verstand und Einsicht erfordert wurde begabter war als er, und,
wo Scherz und Freude nöthig, war er der alleruntauglichste und sich selbst zur
Last. Bey seinem fürtreflichen Hertzen wußte er gar nicht, was Mißtrauen war,
sich zu verstellen war ihm gantz unmöglich.“
Aufschlußreich ist es zu
beobachten, wie sich Winckelmann, der sich gegenüber seinem Freund stets
herzlich und wohlgesonnen äußert, sich gegenüber Dritten in seinem
kunsthistorischen Urteil über Oeser ausläßt. 1763 schreibt er aus Rom an Caspar
Füssli:
„Oeser ist ein Mann von dem
größten Talente zur Kunst, aber er ist faul, und es ist kein öffentlich Werk von
demselben vorhanden. Seiner Zeichnung fehlet eine strenge Richtigkeit der Alten
und sein Colorit ist nicht reif genug; es ist ein Rubenscher Pinsel, aber deßen
Zeichnung ist viel edler. Es ist ein Mann, der einen großen fertigen Verstand
hat, und so viel man außer Italien wißen kann, weiß.“
Winckelmann kritisiert in erster
Linie formale Aspekte. Er argumentiert inzwischen nach eigener Anschauung aus
einer „klassizistischen Position“, ungeachtet, daß nördlich der Alpen in der
Kunstbeurteilung weitere Bewertungskriterien hinzukamen, die den reinen
Formalismus seiner Bewertungskriterien verdrängten. Die Reise nach Italien war
für Winckelmann die Grundvoraussetzung, als Künstler akzeptiert zu werden.
Längst vor seiner eigenen Reise schätzte er es, sich mit Künstlern, die bereits
in Italien waren und „Rom gesehen“ hatten, zu umgeben. Noch vor der Abfassung
seines Erstlingswerkes berichtet Winckelmann 1752 von seinem Umgang mit den
„Romfahrern“:
„Hingegen bin ich unter die
Mahler gerathen und dieses unter Leute die auch sagen können: Romam vidi. Ein
einziger solcher Mahler ist mir lieber als 10 Titel Stutzer. Ich habe Erlaubnis
erhalten die Königl. Schildereyen Gallerie so oft ich will zu frequentieren. Mit
Anfang Frühling werde ich gewisse Stunden zum Zeichen vor mich aussetzen.“
Mit „Romam vidi“ konnte
mit Sicherheit nicht Oeser gemeint sein. Somit waren es andere Künstler, die
bereits zu diesem frühen Zeitpunkt „Romfahrer“ gewesen waren , wie z.B. Mengs
und Dietrich, die Winckelmann aus eigener Anschauung ihre Eindrücke von der
antiken Kunst schildern konnten. Demzufolge stellt Goethe in Bezug auf
Winckelmanns Erstlingsschrift treffend fest, daß Winckelmann den Zugang zur
Kunst über Künstler vermittelt bekam.
Es scheint ganz offensichtlich, daß Goethe hier auch an Oeser denkt, von einer
konkreten, weitgreifenden theoretischen Einflußnahme auf das Antikenbild
Winckelmanns ist nicht die Rede. Dies konnte Oeser wohl kaum wesentlich geprägt
haben, dafür fehlten ihm die theoretischen und wohl auch die intellektuellen
Voraussetzungen. Was Winckelmann von Oeser erfuhr, waren mit Sicherheit seine
Eindrücke und Erfahrungen vom Umgang mit Kunst, vor allem aus seiner Zeit in
Wien.
Hierzu schreibt er: “Von Donner weiß ich aus Oesers
Munde, was ich weiß: denn ich bin nicht in Wien gewesen.“
Allerdings dürfte auch der Bildhauer Georg Raphael Donner (1693-1741) wenig
hilfreich bei der Vermittlung eines originären Antikenbildes gewesen sein, denn
Winckelmann ging zu diesem Zeitpunkt noch davon aus, daß Donner Italien selbst
noch nicht gesehen hatte.
Während seiner Dresdener Zeit
nahm Winckelmann bei Oeser erstmals Zeichenunterricht.
Neben der Einführung in das praktische Arbeiten waren die gemeinsamen eineinhalb
Jahre von einem regen gegenseitigen Gedankenaustausch geprägt. Dabei dürfte der
Einfluß Winckelmanns auf Oeser ungleich größer gewesen als umgekehrt. Die
räumliche Nähe und die miteinander geführten Gespräche der beiden, ließ Johann
Gottfried Herder (1744-1803), der ein überzeugter Winckelmannanhänger war, 1781
im „Teutschen Merkur“ eine beträchtliche Beeinflussung Winckelmanns durch
Oeser annehmen, worin mitunter auch ein Grund für die Wertschätzung Oesers durch
seine Zeitgenossen zu sehen ist. In dem Text Herders heißt es:
“Winckelmanns erste Schrift ward
in Oesers Haus geschrieben, und Oesers feiner Geist ist bis auf die hohe Liebe
zur Allegorie in ihr bemerkbar. Ein Freund, ein Künstler sollte das Verdienst
haben, das kein Begüterter, Satter und Großer sich zu erwerben wußte, den Keim,
der in Winckelmann lag und den niemand erst hineinlegen durfte hervorzubringen
und zu entfalten.“
Der Dichter Johann Gottfried
Seume geht im Todesjahr Oesers 1799 ebenfalls davon aus, daß Oeser einen
weitreichenden Einfluß auf den Altertumsforscher hatte. Er sieht, daß
Winckelmanns:
„[...]
ganze Beschreibung
von Raphaels Madonna
[...] Oeser von
dem Munde nachgeschrieben“
ist, weiter
vermutet er,
„Winckelmann hat vielleicht das meiste, was er nachher in Beziehung auf die
Kunst, als Kunst leistete, Oeser zu danken.“
Offenbar konnte das 18.
Jahrhundert problemlos einen bedeutenden Bezug zwischen Oeser, dem Künstler, und
Winckelmann, dem Theoretiker, herstellen. Wobei diese Theorie mit äußerster
Vorsicht zu betrachten ist, denn Herders und Seumes Vermutungen berufen sich auf
durchaus schwer zu interpretierendes Quellenmaterial und Tatsachen. Anlaß zu der
Annahme gab der 1756 von Winckelmann pathetisch verfaßte Schlußsatz in den
„Erläuterungen“ zu seinen „Gedanken über die Nachahmung der Griechischen
Werke in der Malerei und Bildhauerkunst“:
„Allein die Kunst ist
unerschöpflich, und man muß nicht alles schreiben wollen. Ich suchte mich in der
mir vergönnten Muße zu beschäftigen, und die Unterredungen mit meinem Freunde.
Herrn Friedrich Oeser, einem wahren Nachfolger des Aristides,
der die Seele schilderte und für den Verstand malete, gaben zum Theil hierzu die
Gelegenheit. Der Name dieses würdigen Künstlers und Freundes soll den Schluß
meiner Schrift zieren.“
Der Dank der hier gegenüber
Oeser zum Ausdruck gebracht wird, bezieht sich rein auf das praktische
Kunsterleben und Kunsterfahrungen. Von einer tiefergehenden kunsttheoretischen
Inspiration ist nicht die Rede.
Sollte dies dennoch der Fall
gewesen sein, verwundert es, daß Oeser in dem bereits zitierten Brief an Riedel,
die Erstlingschrift Winckelmanns, verschweigt.
Oeser wäre eitel genug gewesen, dies Riedel mitzuteilen, wenn er tatsächlich
einen so maßgeblichen Anteil an Winckelmanns „Gedanken...“ gehabt hätte,
wie es von seinen Zeitgenossen, dem 19. und der ersten Hälfte des 20.
Jahrhundert behauptet wurde. Es muß davon ausgegangen werden, daß sämtliche
weiteren Mutmaßungen über eine Beeinflussung Oesers auf Winckelmann im Bereich
der Spekulation anzusiedeln sind.
Großen Anteil an der
Legendenbildung um den Einfluß Oesers auf den Altertumskenner hatten die Worte
Goethes. Im 8. Buch aus „Dichtung und Wahrheit“ von 1811 schreibt er von einem
erhabenen Gefühl das „Evangelium des Schönen“ während des Unterrichts bei
Oeser vermittelt bekommen zu haben und „...aus der selben Quelle zu schöpfen
aus der Winckelmann seinen ersten Durst gestillt hatte“
.
An den Leipziger Verleger Reich schrieb er 1770 den folgenschweren Satz:
„Sein Unterricht wird mein ganzes Leben Folgen haben. Er
lehrte mich, das Ideal der Schönheit sei Einfalt und Stille.“
Die von Goethe benutzte Programmformel von der „edlen Einfalt und stillen
Größe“ gehörte seit der Veröffentlichung von Winckelmanns Schriften zum
allgemeinen Sprachgebrauch. Goethe unternahm allerdings niemals den Versuch
einer Klärung über deren Urheberschaft. Im 8. Buch aus „Dichtung und
Wahrheit“ von 1811, gab er zwar noch immer vor, von der Einflußnahme Oesers
auf Winckelmann überzeugt zu sein. Die Programmformel, die er in seinem Brief
an Reich über vierzig Jahre zuvor noch benutzte, verwendete er in „Dichtung
und Wahrheit“ allerdings nicht mehr. War sich Goethe inzwischen unsicher,
wie weit der Einfluß Oesers auf Winckelmann wirklich reichte? Zumal er auch von
den künstlerischen Arbeiten seines früheren Zeichenlehrers zu diesem Zeitpunkt
weniger begeistert war, und er sich in seinem Lebensrückblick von seiner
anfänglichen Faszination gegenüber Winckelmanns Dresdener Schriften ebenfalls
distanzierte, da dieser zu dem Zeitpunkt ihres Entstehens noch nicht in Italien
gewesen war. Und so kam er zu dem Urteil:
„[...]
sind sie doch, sowohl dem Stoff als der Form nach, dergestalt barock und
wunderlich, daß man ihnen wohl vergebens durchaus einen Sinn abzugewinnen suchen
möchte.[...];
weshalb diese Schriften für die Nachwelt ein verschlossenes Buch bleiben
werden.“
In einem späteren Aufsatz über
Winckelmann schreibt Goethe demzufolge:
„Lippert, Hagedorn, Oeser,
Diterich, Heinecke, Oesterreich, liebten, trieben, beförderten die Kunst jeder
auf seine Weise. Ihre Zwecke waren beschränkt, ihre Maxime einseitig, ja öfters
wunderlich
[...].
Aus solchen Elementen entstanden jene Schriften Winckelmanns, der diese Arbeit
gar bald selbst unzulänglich fand, wie er es denn auch seinen Freunden nicht
verhehlte“
Vielleicht zeigt sich hier in
Goethes Beurteilung der Winckelmannschriften auch der Zwiespalt in der
Mißbilligung Oesers. Ein weiteres Indiz hierfür könnte die von Goethe 1804
verfaßte Schrift „Winckelmann und sein Jahrhundert“ sein, in der, wie
das Allgemeine Künstlerlexikon der Schweiz von 1810 bemerkte, der Name Oesers „mit
keinem Wort Erwähnung geschiehet“.
Es ist bemerkenswert
festzustellen, wie der spätere Winckelmannbiograph Carl Justi an der
Legendenbildung im 19. Jahrhundert mitwirkte und sie weiter ausbaute. Indem er
nämlich den Bildhauer Raphael Donner, den in der Bildhauerkunst handwerklichen
Lehrmeister Oesers,
zum gedanklichen Urheber des epocheprägenden Leitsatzes von der „edlen
Einfalt und stillen Größe“ machte. Nach Justis Auffassung waren
Winckelmann und Goethe, die beiden ersten, die diese Programmformel aus Oesers
Mund zu hören bekamen. Mit dieser Behauptung trug Justi entschieden zur
Glaubhaftigkeit der Legende von dem überragenden Einfluß Oesers auf Winckelmann
bei. Offensichtlich greift er bei seinen Ausführungen sogar auf die Wortwahl
Goethes in „Dichtung und Wahrheit“ zurück (s. o.). Justi konstruiert
demzufolge:
„Das „Evangelium des Schönen“,
jenes Wort von der edlen Einfalt und stillen Größe, hörte Winckelmann, wie
später Goethe, wahrscheinlich zuerst aus Oesers Munde. In Oeser aber waren
solche Ideen ehemals in der Schule Raphael Donners lebendig geworden, der in
seinen Werken im Gegensatz zu dem allgemein herrschenden leidenschaftlich
pathetischen Charakter, zuerst wieder auf Einfachheit, Natürlichkeit und Ruhe
zurückgegangen war,
[...]“
Ob Justi den bereits zitierten
Brief Goethes an Reich (s.o.) kannte, ist nur zu vermuten, mit Sicherheit aber
kannte er das 1779 von Oeser selbst herausgegebene
„Schreiben an Herrn von Hagedorn“.
Hier beschreibt Oeser einen „Christuskopf“ von
Guido Reni (1575-1642) aus der Sammlung Schwalbe in Hamburg. In dem Text taucht
zum ersten Mal bei Oeser die Formulierung von der „stillen Größe“ und
„edlen Einfalt“ auf:
„[...]
Die stille Größe in allen Zügen; das ruhige, weisheitsvolle Auge; der zum
Sprechen bereit scheinende Mund; die edle Einfalt des über die Schultern
herabrollenden Haares;
[...]“
Ungeachtet, daß die
Programmformel auch für Oeser zum allgemeinen Wortschatz des 18. Jahrhunderts
gehörte und sich als polemische Spitze, gegen den gerade noch in Sachsen
vorherrschenden Barock richtete, war es für Justi der Beweis, daß die Formel für
den Klassizismus tatsächlich von Oeser ausging. Der Grund, weswegen Justi
Donner eine solch entscheidende Rolle zuweist, hängt wohl mit der allgemeinen
negativen Kritik des 19. Jahrhunderts gegenüber Oeser als Künstler zusammen,
die Justi bekannt war. Somit mußte er ihn im Theoretischen, unter den prägenden
Einfluß eines von allen Kritikern und auch von Winckelmann anerkannten
Bildhauers stellen. Im Grunde genommen geschah dies, um so die gängige Theorie
des 18. Jahrhunderts von dem bestimmenden Einfluß Oesers auf Winckelmann, zu
stützen.
Donner als Vorbild für
Winckelmann zu stilisieren, hängt mit seiner Sonderstellung zusammen, die er
innerhalb der Barockplastik einnahm.
„Der offenbar gezielte Rückgriff
auf ältere, traditionsreiche Vorbilder könnte die auffällige Sonderposition
begründet haben, die für Raphael Donner innerhalb der Barockplastik seit eh und
je in Anspruch genommen worden ist. Denn im Unterschied zum ausgeprägten
Illusionismus seiner Zeitgenossen trat Donner, anscheinend unvermittelt, mit
Bildwerken klarer Konturierung und organischer Bewegung auf, mit Figuren, die
allseits nachvollziehbar ihren Umraum einbegreifen, mit Körpern, deren
detaillierte Modellierung die Gewandführung hervorhebt. Diese klassischen
Elemente und ihre manierierte Verfeinerung kennzeichnen Donners Plastik und
entfernen sich von Tendenzen seiner Zeitgenossen so entscheidend, daß die
Kunstgeschichte sie mit dem Begriff „Barockklassizismus“ belegte.“
Das Neue in Donners Arbeiten
erkannte auch Justi, und somit lassen sich die Theorien Winckelmanns stärker
untermauern und legitimieren. Wobei Oeser hier nur noch als Mittler der
Donnerschen Lehre zu sehen wäre.
Winckelmann konnte weder von
Oeser noch von Donner für die Antike begeistert werden, erstens, weil die
Faszination für die Antike bei Winckelmann längst vorhanden war und zweitens,
da Donner weniger als hundert Jahre alte Bronzeplastiken bereits als antik
ansah. Erst die archäologische Sichtweise differenziert zwischen „antik“
und „antikisierend“, um eine „reine“ Betrachtungsweise
antiker Kunst und der damit verbundenen ethischen Programmatik zu gewinnen.
Mit anderen Worten, es war doch gerade Winckelmann, der diese Grundsätze als
einer der ersten in Deutschland in seinen Schriften propagierte, allerdings erst
nachdem er selbst in Italien war und die Antike vor Ort in Original studieren
konnte.
Die scheinbar von Oeser
übermittelten Donnerschen Leitgedanken waren aber wohl kaum dafür geeignet, denn
Donner ebenso wie Oeser konnten laut Winckelmann nur so viel von der Antike
wissen, wie „man außer Italien wißen kann“.
Alphons Dürr greift für seine
Oesermonographie ganz offensichtlich auf die Thesen Justis zurück und geht
ebenfalls davon aus, daß „Die Gedanken...“ zur Hälfte auf die
„geistige Urheberschaft“ Oesers zurückgehen.
Oeser allein kam als erstem die Ehre zu, „das große
Lösungswort des Jahrhundert“
aus der Lehre Donners, nämlich „die Lehre von der edelen Einfalt und stillen
Größe, [Winckelmann] zuerst verkündet zu haben“.
Weiter schreibt Dürr:
„An theoretischen Anschauungen
war beiden damals alles gemeinsam, Winckelmann nahm Gedanken und Maximen von
Oeser in sich auf, und dieser wieder bereicherte sein Wissen durch die
schätzenswerthen antiquarischen Kenntnisse seines Freundes. Winckelmann ließ
Oesers Wesen ganz in sich walten,
[...]“
In die Reihe von Justi und Dürr
ordnet sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vorbehaltlos 1914
Kurzwelly ein:
„Oesers Verdienst ist es daher,
daß die Kunst wieder der Antike zugeführt wurde; es ist sein Werk, daß die
Donnerschen Lehren der Menschheit überliefert wurden.“
In ähnlicher Weise äußert sich
1930 auch Benyovszky, der davon ausgeht, daß ein Viertel der Winckelmannschen
Schrift sich auf Oeser stützt:
„Die zuerst von Winckelmann
öffentlich ausgesprochene Lehre von der edlen Einfalt und stillen Größe der
Antike, die zum Schlagwort des Klassizismus wurde, hat ihre Urheimat in Donners
Geist und wurde von diesem in Oesers empfänglicher Seele eingepflanzt.“
Seit Carl Justis Grundlagenwerk
über Winckelmann und der Monographie zu Oeser von Alphons Dürr, ist es zum
Allgemeinplatz geworden, daß Oeser die Grundansichten in Winckelmanns
Erstlingsschrift der „Gedanken...“ und ihren beiden Zusätzen (den
„Erläuterungen“ und dem „Sendschreiben“) entscheidend beeinflußt hat.
Baumecker hat in seiner Arbeit „Winckelmann in seinen Dresdner Schriften“
von 1933 erstmals nachgewiesen, daß die von Justi und Dürr aufgestellte
Behauptung, aufgrund der Quellenlage nicht stichhaltig zu begründen ist.
Bis heute hat die Arbeit Baumeckers ihre unbestrittene Gültigkeit bewahrt. Sie
zeigt, daß Winckelmanns kunsttheoretische Quellen für seine Dresdener Arbeiten
auf den theoretischen Erkenntnissen seiner Vorgänger wie Shaftesbury, Jean de
Labruyère (1644-1696), Jonathan Richardson (1665-1745), Roger de Piles
(1635-1709), André Félibien (1619-1695) basieren.
Erst das spätere 20. Jahrhundert
kommt in der Beurteilung der Einflußnahme Oesers auf Winckelmann zu einem
differenzierteren Urteil als das 19. Jahrhundert. Kunze beschreibt die
theoriebildende Einflußnahme Oesers auf Winckelmann als anekdotisch.
Für ihn gilt der Einfluß Oesers lediglich auf das praktische Kunsterfahren und
Kunsterleben.
Auch Marx ist der Auffassung, daß Winckelmann bei Oeser allein die künstlerische
Praxis erlernte. Große Bedeutung kommt ihm allerdings als Akademiedirektor bei
der Verbreitung der Lehren Winckelmanns vor allem in Sachsen zu.