goethe


Timo John

Adam Friedrich Oeser 1717-1799
Studie über einen Künstler der Empfindsamkeit

XII. Schlußbemerkung

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Die Arbeit hatte sich am Beispiel Adam Friedrich Oesers zum Anlaß genommen, die Bedeutung des kulturhistorischen Phänomens der „Empfindsamkeit“ für die Kunst aufzu­zeigen und nach den Voraussetzungen für den Niederschlag dieser Erscheinung zu suchen.

Oesers Schaffen orientierte sich an den Interessen und dem Geschmack eines bürgerlichen Laienpublikums, das sich in einem Prozeß der Selbstfindung befand. Denn mit der Auflösung der gesellschaftlich-politischen wie theologischen Rahmenordnung etablierte sich im 18. Jahrhundert eine emanzipative Gesellschaft, die ohne einen Ort innerhalb der vergangenen Ordnungsstruktur ihre eigene Lebensform finden mußte. Die Frage nach einer neuen, angemessenen Moralität rückt in den Mittelpunkt. So kam es, daß Oesers künstlerische Arbeiten durchsetzt waren von einem bürgerlich gefärbten Humanismus, der einer moralästhetischen Erziehung des Bürgertums verpflichtet war. Dabei wurde die „Natur“ zu einer neuartigen Größe, indem sie von nun an psychologisch interpretiert wurde. Es war die „innere“ Natur des Menschen, in der, durch die Ästhetik einer äußeren Naturempfindung, ein ethisch-moralisches Gefühl erweckt wurde. An diesem Prozeß kam der Kunst eine neue gewichtige Bedeutung zu.

Oeser versuchte in Ausein­andersetzung mit den sozialen Umbrüchen und den ver­schiedensten kunsttheoretischen und kulturgeschichtlichen Strömungen seiner Zeit, auf seine eigene Art zu deuten und zu verbreiten. Oeser war für das bürgerliche Zeitalter der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts m. E. einer der bedeutendsten „Bürgerkünstler“ überhaupt. Seine Kunst steht unter dem Leitgedanken der „Edlen Einfalt und stillen Größe“ und re­präsentiert den „weichen Stil“ des Klassizismus, einer Synthese aus den Programm­schriften Winckelmanns und Hagedorns. Diese Ver­schmelzung kann aber nur im Zusammen­hang mit der Phase der „Empfindsamkeit“ mit ihren eigenen Gesetzmäßig­keiten als geistesgeschichtliche Voraussetzung und einem zunehmenden Bedürfnis nach „Natürlichkeit“ gesehen werden. Sie liefern, zumindest für die Zeit des Übergangs von der Mitte des Jahrhunderts bis zum Proto­klassizismus um 1800, die Vorbedingung für die Regeln eines „empfindsamen Klassizismus“, der letztendlich in seiner Bedeutung über den eigentlichen Klassizismus hinausreicht und als wegbereitend für das Natu­rempfinden der Romantik gesehen werden muß.

Auch wenn die Periode der Empfindsamkeit keinen allgemeinverbindlichen eigenen Stil hervorgebracht hat, zeichnen sich Oesers Arbeiten im Malerei wie der Zeichnung durch einen weichen vorklassizistischen Duktus, als sein eigenes wesentliches Charakteristi­kum, aus. Zu bewerten ist diese Eigenart nur unter Berücksichtigung der zeitbedingten Vorgaben.

 

Oesers Fähigkeit war es, eine Kunst zu schaffen, die sich an Sinneswahrnehmungen, Bedürf­nissen, Wünschen seiner Auftraggeber orientierte und dies mit seiner Gedank­lichkeit und Gelehrtheit einlöste. Hamann beschreibt den „empfindsamen Klassizismus“ als eine Kunst des „hohen Stils“ und der „reinen Form“, die angefüllt ist mit „allen menschlichen Regungen“ und „natürlichen Empfindungen“.[1]

In der kunsttheoretischen Beurteilung ist die Position Oesers mehr oder weniger einzig­artig. Die Zeitgenossen würdigten seine künstlerischen Arbeiten in einem Atemzug mit dem Ver­dienst der Vermittlung der Winckelmannschen Theorien. Als Akademielehrer in Leipzig war Oeser besonders erfolgreich, er begriff sich als Lehrer einer zukünftigen Künstlergeneration. Die folgende Generation aber konnte seinem Künstlertum nichts mehr abgewinnen, nachdem Oeser ihr einen neuartigen theoreti­schen Zugang zur Antike verschafft hatte.

Oeser erfaßte die Gedankenwelt des Bürgertums, identifizierte sich mit ihr und wurde zu einem der wichtigsten Künstler dieser aufstrebenden Klasse. Somit folgte er einem Zug der Zeit und trug dem Erstarken des Bürgertums, seinen wach­senden Bildungs- und Kunstansprüchen Rechnung und stellte sich und seine Kunst weitge­hend in den Dienst der bürgerlichen Aufklärung und wurde so als Künstler ein Hauptver­treter der Epoche der Empfindsamkeit.

Oeser mußte sich an einem breiten, der Mode unterlegenen Publikumsgeschmack orientieren. Sämtliche Kunstgattungen die er vertrat, erfuhren einen am bürgerlichen Geschmack orientierten Zuschnitt, woraus sich auch ein gewisses Maß an Fortschrittlich­keit, Innovation und Flexibilität ableiten läßt. Oesers Unsicherheit bestand darin, daß er in einer zum Teil von seinem Publikum gewünschten überkommenen barocken Formen­sprache neuartige zeitgenössische Themen darstellen mußte. Wie Oeser dies zu lösen versuchte, konnte an den Deckenbildern im Gohliser Schloß zu Leipzig und im Wittumspalais in Weimar veranschaulicht werden. Oeser nimmt deutlich Bezug zu einer Kunsttheorie, die nicht ausschließlich aus den Vorbildern und der Formensprache der Antike schöpft. Die zweite, oft übersehene Maxime des 18. Jahrhunderts war die Forde­rung nach einer nicht nachahmenden Kunst. Die Kunst sollte aus dem eigenen Schöpfungsakt gemäß der natürlichen Begabung des Künstlers fern jeglicher akademischer Regel­strenge entstehen.

In der Deckenmalerei und der Denkmalplastik löst sich Oeser von den überladenen Alle­goriekonzeptionen barocker Machart. Seine Bildsprache besteht aus einer eigenen Symbolik, die sich hin zum „natürlichen“ Zeichen wendet. Die Abkehr von der Allegorie und der Übergang zum natürlichen Zeichen bis hin zum Symbol belegen eine zeitge­mäße, aber wenig beachtete Modernität. Ebenso nimmt er in der Landschaftszeichnung gedanklich bereits die Intentionen der Romantik vorweg. In allen Kunstgattungen ist bei Oeser eine latente Veranlassung eines Zweifels gegenüber traditioneller Themen in der Kunst zu beobachten. Hieraus erwuchs Oesers Suchen nach neuen Themen, Inhalten und Darstellungsformen.

Obwohl Oeser ein Künstler mit durchaus „modernen“ individualistischen Zügen war, der sich über die strenge Dogmatik eines Winckelmanns hinwegsetzen konnte, konnte sich die Generation des Idealismus nicht auf ihn berufen, weil er ausschließlich in Verbindung mit den Theorien des Antikenforschers gesehen wurde. Gerade aber die einseitige Be­wertung unter dem Gesichtspunkt klassizistischer Elemente werden seinem Schaffen nicht gerecht. Viel zu sehr steht Oeser unter dem Einfluß lokal wirksamer Geistesströ­mungen, die es zulassen, Oesers Namen isoliert von dem Winckelmanns zu nennen.

Mit Oesers Tod am Ende des 18. Jahrhunderts geht nicht nur eine Jahrhundert alte Kunsttradition und Motivwelt zu Ende, sondern gleichzeitig auch die kurze kulturge­schichtliche Periode der Empfindsamkeit. Die Idyllenmalerei wird von der realistischen Landschaftsdarstellung abgelöst, die mythologische Allegorie stellte keine allgemeinver­ständliche Formensprache mehr dar, der empfindsame Landschaftsgarten stößt in seiner kleinteiligen Gestaltung auf Unverständnis. Die traditionelle religiöse Malerei findet eben­falls um die Jahrhundertwende ihr vorläufiges Ende. Mit ihren Auflö­sungs- bzw. Triviali­sierungstendenzen geht zur selben Zeit auch die erste neuzeitliche Periode einer klas­sischen bürgerlichen Kunst zu Ende, und gleichzeitig geht auch das Verständnis für Oesers Kunstschaffen verloren.

Das „empfindsame“ Sehen von vor 250 Jahren ist heute fremd und läßt sich nur schwer rekonstruieren und vermitteln. „Empfindsamkeit“ als kulturgeschichtlicher Begriff und ihre Bedeutung für die bildende Kunst der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, kann ab­schließend nur aus einem Überblick der verschiedensten Teilbereiche der Kulturge­schichte dargestellt werden. Es wäre lohnenswert, wenn in Zukunft weitere Künstler der­selben Generation unter diesem Aspekt betrachtet würden. Denn nur so wäre es möglich, aus den verschiede­nen Einzeldarstellungen und ihrer Gesamtschau über den bürgerlichen Kunstbegriff die­ser Epoche, die Kunstanschauung, die Umsetzung theore­tischer Vorlagen und die Geschmackskultur des 18. Jahrhunderts zu einem tieferen Ein­blick zu gelangen.


 


[1] Hamann, 1925, S. 60f.

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