goethe


Timo John

Adam Friedrich Oeser 1717-1799
Studie über einen Künstler der Empfindsamkeit

VI. Oeser, ein Vertreter der Kunsttheorie Hagedorns

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Abb. 5
Adam Friedrich Oeser: Porträt eines Mädchen
Öl auf Pappe

Die konkret benannten technischen Mängel durch die zeitgenössischen Oeser-Kritiker - Winckelmann, Chodowiecki, Meyer und Goethe - lassen die Frage nach einem eigenen „Oeser-Stil“ aufkommen, an die sich die Frage anschließt: Gibt es eine theoretische Grund­lage, die für Oeser in seinen malerischen Arbeiten verbindlich wurde? Zu Beginn dieses Abschnitts soll die These aufgestellt werden, daß Oeser in seinem eigenen Kunstschaffen ungleich stärker von den Theorien des empfindsamen Ästhetikers Hagedorns beeinflußt wurde, als von denen Winckelmanns.

 

1.    Die Ethisierung des Kunstunterrichts bei Oeser unter dem Einfluß Hagedorns

Oesers stilistische Abweichen von den verstandesorientierten Kunsttheorien Winckelmanns, sollte die Frage nach weiteren Kunsttheoretikern aufkommen lassen, die auf den Leipziger Akademiedirektor und Zeichenlehrer gewirkt haben mögen. Es ist naheliegend, zuerst einmal in Sachsen und Oesers persönlichem Umfeld Ausschau zu halten. Schnell stößt man dabei auf die auf „Empfindung“ angelegten Schriften Christian Ludwig von Hagedorns[1]. Daß Oeser die Kunsttheorien seines Vorgesetzten neben denen Winckelmanns in seinem Zeichenunterricht ebenso lehrte, belegt eine Ode, die ihm seine Schüler 1767 dichteten:

„Durch Dich wird der Geschmack bey jeder Kunst bekannt
vom Beispiel Hagedorns entbrannt,   
Bist Du für einen jeden Stand 
Ein Lehrer des Geschmacks; und Deiner Schüler
[...][2]

Von welcher der theoretischen Schriften Hagedorns Oeser begeistert war, läßt sich an einem konkreten Werk fest machen, den „Betrachtungen über die Mahlerey“ aus dem Jahre 1762. Christian Felix Weiße schreibt dem Autor darüber nach Dresden:

„Oeser aber, in dessen Händen ich es finde [„Betrachtungen über die Mahle­rey“], so oft ich ihn besuche, ist ganz entzückt darüber; es ist bisher seine gantze Unterredung gewesen, u. er hatte sich vorgesetzet, einen langen Brief deswegen zu schreiben: dieß Einzige, sagte er, er glaubte, daß Sie bißweilen zu furchtsam in ihrem Urteil wären, u. oft andere ihre anführten, deren Ansehen ihnen weit weniger als ihr eigenes gelten mußte: aber ist dieß nicht mehr ein Lob für ihre Bescheidenheit.“[3]

Hagedorn verweist bereits im ersten Band seiner Schrift auf die beiden wichtigsten Punkte hin, die in der Lehre vermittelt werden sollten, nämlich „Geschmack am sittlich Schönen“ und dem „Schönen in der Kunst“, denn beide:

„fließen aus einer Quelle, [...]; und vielleicht würde ein Lehrer, der auf beydes führet, in einer wohlgeordneten Pflanzschule der Künste, nicht überflüssig seyn.“[4]

Daß Oeser die Leitgedanken Hagedorns in seinem Unterricht vermittelte, bestätigt Goethe, wenn er schreibt, sein Lehrer lebt im „reinen Kreise sittlicher und sinnlicher Reize [...].“[5] Laut Goethe vermochte Oeser die beiden Grundideen Hagedorns zu vereinen, die ihm „den Weg zum Wahren und Schönen“ zeigten, nämlich „das Herz gegen den Reiz fühlbar gemacht“ und den „Geschmack am Schönen“ vermittelt zu haben.[6] Demzufolge hat bei Oeser eine Ethisierung des Kunstunterrichts stattgefunden, in dem sich seine Lehre nicht auf das akademische Kopieren antiker Gipsabgüsse beschränkte, sondern er stets darauf bedacht war, auf eine moralisch-sittliche Schönheit in der Kunst hinzuweisen. Oeser verfuhr in seinem Unterricht wohl eher den Prinzipien, wie sie in der Litera­turzeitschrift „Neue Bibliothek...“ beschrieben wurden:

„Wenn die Lehrer nichts als edle Gegenstände ihres Pinsels würdig schätzen, so werden die Lehrlinge auch keinen andern Eindruck als des Edlen bekommen und also nicht nur für die Werke der Kunst, sondern auch für das sittliche Schöne Liebe gewinnen. Man will bemerkt haben, daß sowohl auf dieses als auf jenes bey der Direction gesehen wird, und bei der Heranziehung der Künstler seit einigen Jahren die Geschicklichkeit zwar der erste veranlassende Gegenstand gewesen die Rechtschaffenheit aber allezeit in Betracht gekom­men.“ [7]

Über das Empfinden des „sittlich Schönen“ konnte sich eine moralische Kraft entwickeln. Hierzu schreibt der Leipziger Popularphilosoph Platner:

„Die Gegenstände, welche entweder wirklich vorhanden in der Natur und Kunst, oder erst erschaffen in der Phantasie, sinnlich starke Ideen erregen können, thun es entweder durch eine ästhetische, oder durch eine leidenschaft­liche, oder durch eine moralische Kraft.“[8]

Oeser war ein erklärter Gegner einer mathematischen Zergliederung des Denkens, was wohl als eine der Ursachen dafür anzusehen ist, daß sich eine am Vorbild der Pariser École Poly­technique orientierte technische Hochschulbildung in Leipzig auf Dauer nicht etablieren konnte.

 

 

2.    Die Gedanken Hagedorns verbildlicht im Werk Oesers

Emotionen anschaulich machen, war laut Hagedorn die größte Begabung eines Künstlers. In der „Gabe zu sehen und zu fühlen...“ leiteten sich für ihn weiterer Grundsätze für die Malerei ab, denn:

[...] durch Zeichnung und Farbe giebt der Künstler seinen Gedanken die Wirk­lichkeit, und durch den Ausdruck der Bewegung der Seel, dem ganzen das Leben.“ [9]

Der Künstler soll die Fähigkeit besitzen:

[...], die schöne Natur mit Empfindung zu sehen [...], den Werth der edlen Einfalt und Ungezwungenheit zu kennen, und sie zu Gegenständen des Rührenden, oder auch des Erhabenen, anzuschicken, das Herz zum Gefühl eines jeglichen Charakters zu heben, und von denjenigen Regungen selbst durchdrungen zu seyn, die durch des Meisterhand in uns erweckt werden soll [...].[10]

Daß Oeser hierzu in der Lage war, bestätigt wiederum Goethe in seiner frühen Beschrei­bung des Porträts von Schubart (vgl. Abb.12) in dem „Oesers tiefe Empfindung“[11] zum Ausdruck gebracht wurde. Daß gerade in diesem Punkt Oeser bei seinen Auftraggebern in der Porträtzeichnung geschätzt wurde, bezeugt auch die Herzogin Anna Amalia, die sich in einem Brief über eine Zeichnung mit mehreren Porträtdarstellungen bedankt:

„Die Zeichnung hat mich außerordentlich gefreut ich glaube Sie haben Phi­sionomik studiret den jeder Person Carakter ist so vollkommen ausgedrückt [...] ist vollkommen der Natur gemäß.“[12]

Wie ernst Oeser das Porträtzeichnen nahm, um beim Betrachter „Regungen“ über den Cha­rakter eines Dargestellten zu erwecken, belegt die Tatsache, daß er das Porträt des Predi­gers und Abts Jerusalem 19 Mal zu malen begann (Abb. 16),[13] um die treffenden Charak­terzüge richtig zu erfassen. Wie auch die beiden Zeichnungen „Zwei Besessene“ und eine „Alten Frau“ zeigen (Abb. 17, 18),[14] wird hier gleichfalls ein spezifisches Interesses an einer inneren wie äußeren Physiognomie erkennbar. In zahlreichen weiteren Akademiestudien werden Oesers Intentionen beim Porträtzeichnen mehrfach deutlich. Alle sind sie darauf ausgerichtet den Charakter, die inneren Wesens­merkmale und den Gemütszustand zu erfas­sen und in der Physiognomik zum Ausdruck zu bringen.[15] Die Ansichten Hagedorns wur­den nicht nur in Oesers Unterricht vermittelt,[16] sie spielten als theoretischen Voraussetzun­gen ganz allgemein für die Kunst der Empfindsamkeit im 18. Jahrhundert eine wichtige Rolle:

“Soll aber die Kunst ihre volle Stärke zeigen: so arbeitet sie für höhere Emp­findungen. Oft wird alsdann eine sanfte Stille in dem Gemählde herrschen müssen. Der Reiz wird uns in seiner edlen Einfalt rühren: die Schönheit unsere Aufmerksamkeit mit wenig Gegenständen ungleich theilen: und die Majestät der Handlung wird Ernst und Nachsinnen über unsere Seele gebieten.“[17]

Was für die Kunst im allgemeinen gilt, wird im besonderen an der Oesers deutlich. Dessen theoretischen Grundintentionen waren ebenfalls, wie bereits erwähnt: „Empfindungen erre­gen und mit wenig viel sagen“[18] und gleichzeitig „den denkenden Geist zu beschäf­tigen“.[19] In diesem Punkt lassen sich Ansatzpunkte eines romantischen Selbstverständnisses finden, sich ursprunghaft im Geist der Empfindsamkeit wiederzuerkennen. Wie es in der Verschränkung von Denken und Empfinden bei Klopstock der Fall war.

Die „sanfte Stille“ und „edle Einfalt“, sollten in Oesers Bildern und Zeichnungen die eigene Gemütslage ausdrücken und beim Betrachter innere Regungen erzeugen. Bei der Vermittlung eines persönlichen Gefühlsausdrucks treffen für Oeser die folgenden Worte Hagedorns zu:

„Durch Zeichnung und Farbe giebt der Künstler seinen Gedanken die Wirk­lichkeit; und durch den Ausdruck der Bewegungen der Seel, dem ganzen das Leben.“[20]

Die Darstellung eines Gemütszustandes verlangte von Oeser eine bestimmte Zeichen- und Malweise. An diesem Punkt knüpfen die Kritiker, die inzwischen einem „Sturm und Drang- Klassizis­mus“ erlegen waren, in ihrem Urteil an Oeser an. Vor allem Meyer bemängelt, daß es in seinen Arbeiten in der Verwendung der Zeichnung und Farbe an „Ausdruck [...] Lebendigkeit und Kraft“ fehle.[21] Bedingt wird dies mitunter auch, wie Goethe ausführt, durch Oesers bewußt angelegte „skizzenhafte“[22] und „unbestimmte“[23] Zeichnung und für Winckelmann stellt dies das Fehlen einer strengen „Richtigkeit der Alten“ dar.[24]

 

3.    Die Kritik an Oeser auf Grund der sentimentalen Kunstanschauung Hagedorns

Im folgenden Abschnitt soll, unter Hinzuziehung von weiteren Werkbeispielen speziell aus Oesers Malerei der Versuch unternommen werden, zu belegen, daß sich in seinen Bildern speziell die Kunsttheorie Hagedorns der „Betrachtungen über die Mahlerey“ von 1762 niederschlägt. Gleichzeitig soll belegt werden, daß sich gerade an den Regeln Hagedorns, denen Oeser folgte, sich die Kritik an Oeser entzündete.

Einer der Hauptkritikpunkte an Oesers Bildern, war die fehlende Kontur. Gerade aber Hagedorn war es, der nicht die strenge Kontur der Alten empfahl, wie sie Winckelmann forderte.[25] Für ihn zeichnete sich die Malerei vielmehr dadurch aus, daß sie die Umrisse durch ein sogenanntes „Sfumato“, wie es die Natur vorgibt, verschwimmen läßt:

„Das sanfte und verblasene (Sfumato) in den Umrissen wird dem Mahler nicht etwan, als ein blosser Kunstgriff empfohlen. Vermöge der Haltung und Luft­perspektiv sowohl, als nach der Wendung und Linienperspektiv, wir sie ihm von der Natur selbst, als eine Nothwendigkeit aufgeleget werden.“ [26] [...] „Eben weil die Theile, die gegen die Luft im Gemählde abweichen, dieser Lindigkeit und gewisser massen der Luftfarbe theilhaft werden; so muß es bey den fein­sten gestellten Bildern die hervorragenden Theile, der Stirn, die Nase, das Kinn, die ausgestreckten Hände u.s.f. vorzüglich treffen. Man darf vermuthlich den Schmelz der Farben an den Aussenlinien der gegen den Himmel erhobenen Hände der entführten und Hülfe rufenden Dejanira nicht erst empfehlen. Dadurch erlangte aber auch die blühende Wange einer von Manyoki geschil­derten weiblichen Jugend etwas von der angenehmen Pfirsichfarbe.“[27]

In der Tat sind Oesers Arbeiten mit weichen verschwommenen Umrissen gemalt, so daß die Bilder wie durch einen zarten Dunstschleier gesehen erscheinen. Das Inkarnat des hier gezeigten „Porträt eines Mädchens“ (vgl. Abb. 5) weist eine rote, gelbe und violett-grüne Far­bigkeit, wie die eines „Pfirsichs“, auf. Die scheinbar fehlende „Linie“, die von Oesers Kriti­kern immer wieder bemängelt wurde, war gewollt abgeschwächt. Wie das Bild zeigt, folgte der Maler hier eindeutig den Empfehlungen Hagedorns: „Der Schmelz der Farben soll den genauesten Umriß nicht verbergen, sondern verhüllen.“[28] Die sich daraus für Hagedorn ergebenden abgeschwächten Farben beschreibt er mit einer „angenehme Pfirsichfarbe“. Dies veranlaßte Winckelmann wohl zu wiederholter harschen Kritik: [...] sein [Oesers] Colo­rit ist nicht reif genug; es ist ein Rubenscher Pinsel, [...].[29]

Das o. g. Porträt (vgl. Abb. 5) kann als eine typische Erscheinung einer „empfindsamen klas­sizistischen“ Bildniskunst gelten, die sich aus einer „natürlichen Empfindung“ definiert, wo jedes Bild zu einem „Abbild“ und „Porträt“ wird.[30]

Als weiteren Beleg für die „Richtigkeit der Argumentation“ der Kritiker, daß eine tatsäch­liche Umsetzung der Hagedornschen Theorien bei Oeser stattfand, kann eine Gegenüber­stellung der Kopie eines Oelgemäldes von Oeser mit dem erhaltenen Original angeführt werden. Hierbei wird Oesers Vorgehensweise klar veranschaulicht. (Abb. 19, 20). Es handelt sich dabei um die Wiedergabe des vermutlich von Sebastiano Ricci (1659-1734) gemalten Bildes „König Salomon beim Götzendienst“. Der Vergleich mit der Kopie zeigt deutlich, wie Oeser in seiner Reproduktion jeglichen Kontrast des Originals, sei es in der Licht und Schattenführung oder in der Kontur in seinem Bild herausnimmt (vgl. Abb. 14). Oeser negiert sämtliche Spannungsmomente, die Umrisse werden abgeschwächt, die Gewänder in großen Farb­flächen angelegt, der Faltenwurf wenig differenziert gezeichnet.

Am ausgestreckten Arm der mittleren Frauengestalt wird deutlich, wie dessen Kontur durch den „Schmelz der Farben an den Aussenlinien“ (s.o.) und die Luftperspektive sich mit dem Hintergrund verbinden. Oeser verzichtet in seinen Kompositionen auf die Ausarbeitung von Einzelheiten und Nuancen. Goethe stellt folglich zutreffend fest, sie waren „auf Licht, Schatten und Massen“[31] berechnet. Goethe schloß sich hier offensichtlich dem Meinungs­bild Meyers an, der ebenfalls erkannte:

„Licht und Schatten hat Oeser zwar oft willkürlich vertheilt, sie sind aber doch meistens, so wie die Gewänder, in Breiten Massen angelegt und zur gefälligen Wirkung benutzt.“[32]

Daß die „gefällige Wirkung“ einstmals auf Empfindung ausgelegt war, konnte Meyer nicht mehr sehen. Ebenfalls war es Chodowiecki nicht klar, daß Oeser den antiken Faltenwurf zwar studiert hatte aber nicht kopieren wollte. Die von Oeser übrig gebliebenen Ansätze einer antiken Formensprache erkannte Chodowiecki, bemängelte aber ihre unprä­zise Ausführung: „In seinen gewändern ist antiquer wurf, aber weder antique noch wahre Falten“ [sic].[33]

Obwohl Chodowiecki kein Parteigänger Winckelmanns und der Romfahrer war, legte er bei Oeser größten Wert auf die Ausführung der Kontur und strengen Linienzeichnung. Daß für Chodowiecki als Stecher und Radierer die Linie eine besondere Bedeutung hatte, ver­steht sich von selbst. Vielleicht erklärt sich hieraus die scharfe Kritik an seinem Leipziger Kontrahent, wenn er am Beispiel von Oesers Altarblatt in der Leipziger Nikolai­kirche bemängelt, daß „die Köpfe wie in der Skieze mit unausgeführten Liniamenten angelegt“ sind.[34]

Was bei den Kunstrichtern über Oeser Beanstandung fand, wurde bei Hagedorn als gewollt und natürlich angesehen. Am folgenden Beispiel führt er aus, wie sich feine Struktu­ren, die aus der Ferne betrachtet werden, innerhalb eines Bildes zu einer gleichmäßigen Farbmasse verschmelzen sollten:

„Nicht zu viel, wollen wir lieber sagen. Nehmen wir an nur etwan fünf Fuß für die Entfernung des Vorbildes an: so vereinigen sich schon unendlich getheilet Haarlocken in Massen, und rechtfertigen die gleichmäßig verschmolzene Farbe gegen allen Ausdruck jener unendlichen Theile. Allein je näher der Gegenstand, je leichter der Beweis für das sanfte an den Aussenlinien.“[35]

Aus der weiteren Beschreibung, wie ein Gesicht und seine Mundpartie ausgeführt werden sollen, ergeben sich beim Vergleich mit den von Oeser gemalten Gesichtern erstaunliche Parallelen. Wie ein anderes Beispiel zeigt (Abb. 21; vgl. Abb. 5), sind hier die Haare gleichmäßig verschmolzen, die Augen, die Nase und der Mund stehen kaum im Kontrast zum Inkarnat des Gesichts. Die Gesichtszüge sind nur angedeutet modelliert. Hagedorn beschreibt über die Darstellung von Gesichtern weiter:

„Der Mund verbindet sich durch keinen scharfen Abschnitt mit der benach­barten Haut, unter welcher oft, bey dem mindesten Unterschiede sanft angezo­gener Muskeln, bestimmende Züge der Schönheit spielen. Mit gebrochenen Mittelfarben verschmelzet hier der Künstler den Umriß des Mundes. Ein mit dieser Farbe mässig genährter Pinsel schwinget sich von dem Abhang der sanft erhöhten Lippe und verlieret sich, von der Grazie geleitet, in die nächste Grenze der weisen Haut. Hier schließt die (?) Weichlichkeit (morbidezza) alle Härte auf einmal aus.“[36]

Vermutlich nimmt Hagedorn in seiner Beschreibung den Schönheitsbegriff der Farben von Edmund Burke auf, der fünf Jahr zuvor Ähnliches über die Anlage der Gesichts­farben schrieb:

„Bei einer hüpschen Gesichtsfarbe gibt es nicht nur eine gewisse Mannigfaltigkeit der Färbung, vielmehr dürfen auch von den Farben weder Weiß noch das Rot grell und glänzend sein. Außerdem müssen sie so allmählich ineinander übergehen, daß es unmöglich ist, feste Grenzen zu bestimmen.“[37]

Wie das o. g. Beispiel zeigt (Abb. 5), Oeser meidet bewußt eine kräftige Lokalfarbigkeit, die Verschmelzung der „weichen“ und „sanften“ Farben waren seine typischen stilistischen Mittel, mit denen er größte Harmonie in seinen Bildern erzeugen konnte.

Goethe[38] wie Chodowiecki[39] bestätigen Oeser eine gute Komposition in seinen Bildern. Seine gängige Dreieckkomposition entsprach den klassizistischen Vorstellungen eines Bild­aufbaus, was sie als seine Kritiker noch zu würdigen wußten. Das Kolorit empfindet Chodowiecki beim ersten Anblick sogar als angenehm, bemängelt aber, daß die Farben „ohne Wahrheit“ seien, die lichten Stellen, mit „grau schattiert oder gebrochen“ ausgefüllt wurden. Dennoch gesteht er ein, daß dies „keine üble Wirkung thut“.[40] Gleich wie Meyer erkannte Chodowiecki nicht mehr die eigentliche „Wirkung“, auf welche die Bilder Oesers angelegt waren. Das „Sfumato“, das zu den unrealistischen, gebrochenen Farben führte, sollte zu einer „empfindsamen“ Wirkung beitragen. Zuerst wurde diese Charakteristik von Meyer als „nebulistisch“ abqualifiziert, später dann auch von Goethe.[41]

Bei den angeführten Bildern Oesers legt sich über jedes Bild ein „Sfumato“, wodurch es wie durch einen „Schleier“ betrachtet erscheint. Für Hagedorn ergeben sich die Weichheit der Umrisse und die abge­stuften Farben aus dem sinnbildlichen „Flaum einer Pfirsichhaut“:

„Es klebt nämlich das Weiche des Umrisses, dieser gelinde Duft, wie die sanfte Wolle der Pfirsich, auf gewisse Maasse allen Körpern oder deren Fläche an.“[42]

Goethe erkennt sogar die sich hieraus ergebende Harmonie in Oesers Bildern. Diese Tatsa­che fand selbst im historischen Teil zu seiner Farbenlehre Erwähnung. Er benützt die abge­schwächten Farben in Oesers Arbeiten als Beispiel für die Harmonisierung eines Bildes:

„Friedrich Oeser, wenige Jahre später geboren als Dietrich, war allerdings ein Künstler von großen Talenten und man kann ihm eine Neigung zum Überein­stimmenden nicht abläugnen; doch hat er solches nicht durch kunstmäßige Vertheilung der Farben, sondern durch Dämpfung ihres natürlichen Glanzes zu erreichen gesucht, so daß die Harmonie seiner Bilder eigentlich aus dem schwachen Colorit derselben entspringt.“[43]

Die Farben abzuschwächen, war für Goethe, als er seine Farbenlehre verfaßte, aber ohne Bedeutung. Er spricht Oeser die Kunstfertigkeit, eine Farbharmonie im Bild anzulegen, ab. Seiner Einschätzung nach entstand sie rein zufällig aus Oesers Unvermögen, die Farbe richtig zu behandeln. Im Gegensatz zu Goethes bei Oeser bemängeltem „schwachen Colorit“ führen bei Hagedorn gerade erst die gebrochenen, gedämpften Farben zu einem gelungenen Bild.

Neben einer kräftigen Farbgebung lehnt Hagedorn ebenso eine zu detailgetreue Ausführung der Malerei ab. In diesem Punkt bezieht er sich auf Gerard de Lairesse (1641-1711), der ein „mässiges Bestäuben“ eines Bildes empfiehlt:

„Allein was Lairesse ein mässiges Bestäuben des Gegenstandes nennt, fehlet an solchen Gemählden, wo die Sauberkeit zu weit gesucht, und die Deutlichkeit zu vollkommen ist, um schön zu bleiben. [...] Die zärteste Haut würde bey der äussersten Deutlichkeit verlieren, wenn unser Auge jegliche Fäserchen dersel­ben sollte unterscheiden können. Angenehmer erscheinen gefällige Gesichts­züge zuweilen unter einem dünnen Flor, der uns, wo nicht die Mängel der Haut zu verbergen hat, doch noch mehr Schönheit errathen läßt. Diesen Flor haben wir gewisser masen in der Mahlerey dem oft erwehnten Zwischenstande der Luft zu verdanken. Unsere Neugier will oft mehreren Anreiz vergnügt, aber nicht gesättiget seyn.“[44]

Das Verborgene, bzw. „Nebulöse“ gaben für Hagedorn erst den Reiz eines Bildes, das für eine „empfindsame Seele“ ein weiteres Interesse für ein Bild auslöst. Legt man Hagedorns Defi­nition weiter aus, könnte er neben einem gesteigerten Interesse an der verborgenen Gegen­ständlichkeit ebenso das Verbergen einer Inhaltlichkeit andeuten.

Das Wissen um die inhaltlichen und sittliche Qualitäten des „empfindsamen Stils“ ging bereits um die Jahrhundertwende verloren. In der Folge vermehrt sich die Kritik, die in erster Linie an der Technik ansetzt und zu solch harten Urteilen wie Meyer gelangt:

„Seine [Oesers] besten, ausgeführtesten Arbeiten haben noch zu viel schwe­bendes, unbestimmtes, zu leichten Sinn und halb aufgelösten Gestalten. Im übrigen sind es meist anmuthige Bilder, Ergießungen, einer harmlosen kindlichen Seele, [...].[45]

In ähnlicher Weise wie Goethe von Oesers „gefälligen Frauen“ und „naiven Kindern“ und Männern in abbrevierender Manier[46] spricht, beklagt der Oeser Biograph Dürr das „weichliche Element“ in den Figuren. Besonders bei den biblischen Kompositionen bemän­gelt er:

„Sein Christustypus, seine Aposteltypen sind verzärtelte, kraftlose Wesen, denen, wie überhaupt seinen Männern, ein unangenehm sentimentaler Zug eigen ist.“[47]

Im Gegensatz zum 18. Jahrhundert wirkt das Sentimentale auf das 19. Jahrhundert unange­nehm. Ganz den Empfindungen seiner Zeit entsprechend, beschreibt Oeser gegenüber Hagedorn den Christustypus von Guido Reni, den er später in seinen eigenen Arbeiten nachahmte (Abb. 22):

“Die stille Größe in allen Zügen; das ruhige, weisheitsvolle Auge; der zum sprechen bereit scheinende Mund; die edle Einfalt des über die Schultern her­abrollenden Haares; mit andern über die Beschreibung erhabenen Gesichtszü­gen, mögen hier als eine schwache Schilderung des Eindrucks stehen, den die­ses Bild auf das Auge und die Empfindung jedes Menschen machen muß“[48]

Die Beschreibung von Oesers Eindruck entspricht den Intentionen der Figuren­ausführung bei Hagedorn. Der Reiz der Empfindung wird über die Enträtselung des Verborgenen und den feinen Geschmack erlangt.[49]

 

 

4.    Hagedorn in der Beurteilung der „Klassizisten“

Meyer und Winckelmann machten Oeser immer wieder zum Vorwurf, da er „nicht in Ita­lien studiert hatte“[50], er nur so viel von der Antike wissen konnte, wie „man außer Italien wißen kann“[51]. Diese Kritik erging auch an Hagedorn, der ebenfalls nie in Italien gewesen war. Es scheint deshalb folgerichtig, daß Winckelmann Hagedorns Kenntnisse über die Malerei aus denselben Gründen anzweifelte, wie er Oeser kritisierte:

„Hagedorn hat eine große Kenntnis in der Malerei, welche er sich zu Wien, Düsseldorf, München und Dresden erworben hat. Es muß aber seine Kenntnis teils mangelhaft, teils nicht richtig sein, weil er Italien selbst nicht gesehen hat.“[52]

Hagedorn räumt der Antike zur Naturnachahmung eher eine dienende Stellung ein. Er bemerkt: „Die Antike soll uns lehren, die Natur wählen, und die sogenannte idealische Schönheit zur Wirklichkeit zu bringen.“[53] Die Nachbildung der Antike wirkt demzufolge korrigierend auf die Naturnachahmung im Sinne einer ästhetischen Idealisierung.[54] Verlangt wird ein Zusammenspiel von Naturnachahmung und dem Ideal der Antike. Ganz ähnlich folgt Oeser Hagedorns Meinung wenn er schreibt: „die Alten studieren, und copieren ißt nach meinen Begriffen zweierley.“[55] Oeser lehnte das bloße Kopieren nach antiken Vorlagen ab. Für ihn stellte die Antike lediglich ein Maßstab dar, an dem es sich bei der eigenen Naturnachahmung zu orientieren galt. Herder dagegen, der Hagedorns Kunstanschauungen ablehnte,[56] und sich ganz den Leitideen Winckelmanns verschrieben hatte, stieß demzufolge, wie der Entwurf zu einem Grabmalsentwurf für den Weimarer Hof zeigt, auf heftigen Widerstand Oesers:

[...], die Erwartung des Hauses, und des Publikums, mit nichts beßerem zu be­friedigen müßten als daß er aus einem alten Autor, eine Stelle herläse, und ich ihm das Buch dazu vorhielte, anstatt daß er, und ich was neues sagen sollten. Mit Recht müßten wir uns den Vorwurf des Publikums gefallen laßen, wenn es sagte, daß es die Stelle selbst aufschlagen und lesen könnte, ohne daß es nöthig hätte dorthin zu gehen um sie aufzusuchen.“[57]

Oeser lehnt das strikte Reglement der Nachahmung, wie es Winckelmann forderte, in glei­cherweise ab wie Hagedorn. Er spricht sich gegen die reine vernunftbestimmte Verwendung von Regeln in der Kunst aus, denn zwanghafte „Regelhaftigkeiten“ geometrischer Muster waren Formen, wie sie der absolutistische Barock hervorgebracht hatte.[58] Und eben aus diesem Grund beklagt er: „Gerade als ob blosse Lehrsätze, ohne Zuziehung und eigenes Gefühl der Natur, daraus sie genommen worden, jene Kenntnis des Schönen mitteilen könnten.“ [59] Oeser folgt hier den Ansichten Hagedorns und erstmals in der Kunsttheorie versuchten sich ein Theoretiker in seinen Schriften und ein Künstler in seinen Arbeiten über die Intentionen Winckelmanns hinwegzusetzen. Was bei Winckelmann noch als unvereinbar galt, wurde bei Hagedorn und Oeser miteinander verknüpft, nämlich mit den kunsttheoreti­schen Forderungen der Antike, die Wahl für das Schöne in der Natur zu treffen. Hagedorn schränkt im Kapitel „Grenzen der Nachahmung“ ein, daß nur eine Verbindung aus der „idealischen und einfachen“ Wahrheit die Kunst ausmacht:

„Das edelste idealische Wahre ist blos dichterisch [...]. Die Verbindung des idealischen und des einfältigen Wahren ist in den allereinfältigsten und erha­bensten Gegenständen gleich notwendig.“[60]

Ebenso wie Winckelmann,[61] lehnte auch der Winckelmannbiograph Carl Justi Hagedorns „Anmerkungen...“ ab und bescheinigte ihm einen „beschränkten Kunstsinn“ und eine „geringe geistige Originalität“.[62] Justi erkennt dennoch sehr wohl die Intentionen Hagedorns, die für ihn allerdings keine anerkennenswerte Bedeutung mehr hatten. Justi faßt aus seiner kritischen Sicht in wenigen Sätzen die für Oeser zum Leit­motiv gewordenen Vorstellungen Hagedorns zusammen:

„Leugnen läßt sich nicht, daß diese Gedankenreihe Hagedorn viel mehr am Herzen liegt, als die eklektisch-akademische oder antikisierende. Er für seine Person sucht in der Kunst viel weniger Vollkommenheit der Form, als Empfin­dung. Er betrachtete die Malerei, wie die Erneuerer unserer Literatur die Poe­sie betrachten, als Mittel zur Bildung des Herzens, d.h. der feineren Empfin­dungsfähigkeit, als Hilfe gegen die Verknöcherung und Unwahrheit, die über unseren Lebensverhältnissen lag.“[63]

„Antikisierend-akademisch“ waren die Leitmotive der „Klassizisten“ und „Italienfahrer“, diesen standen die Theorie der „Daheimgebliebenen“ gegenüber. Hagedorns Gedanken entstanden aus einer Symbiose mit der heimischen Literatur, der „nordischen“ Natur (die Antike diente dabei nur als Vorbild, das Schöne an der Natur zu erkennen) und den emanzi­patorischen bürgerlichen Idealen. Die künstlerische Umsetzung von Hagedorns Ideen fand in den Arbeiten Oesers statt. Moral, Sittlichkeit und Tugendhaftigkeit wurden durch Inhalte vermittelt und nicht durch eine perfekte Nachahmung der antiken Formen­sprache. 1780 äußert Oeser eine distanzierte Haltung gegenüber der Antike, nationales zeitgenössisches Denken lassen sich für Oeser nicht mit der Formenwelt der Griechen ausdrücken:

„Allein nicht durch diejenigen Kennzeichen, die die Alten [...] wählten, kön­nen wir es in unseren neuen Zeiten und Sitten thun. Der Endzweck ist bey ihnen und uns einerley, aber die Mittel, sind verschieden. [...] es war keine That ohne Endzweck, es war bey ihnen das schicklichste Mittel, allgemein zu würken. Wir können nicht mehr ihre Begriffe damit verbinden, und so fällt Absicht und Wir­kung weg.“ [64]

Der Einklang von Absicht und Wirkung war doch gerade eine der Grundmaximen für die Kunst der Aufklärung. Zwanzig Jahre später bezieht der Romantiker Philip Otto Runge (1777-1810) eine ähnliche Position wie Oeser und rechnet mit den Weimarer Kunst­kritikern ab. 1801 schreibt Runge über die Weimarer Preisaufgaben:

„Die Kunstausstellung in Weimar und das ganze Verfahren dort nimmt nach­gerade einen falschen Weg, auf welchem es unmöglich ist, irgend etwas Gutes zu bewirken [...] wir sind keine Griechen mehr, können das Ganze schon nicht mehr so fühlen, [...] und warum uns bemühen, etwas Mittelmäßiges zu liefern? entsteht nicht ein Kunstwerk nur in dem Moment, wann ich deutlich einen Zusammenhang mit dem Universum vernehme [...].[65]

Runge, der in seinen Vorstellungen eine romantisch-pantheistische Position bezieht, lehnt den Antikenkult der Weimarer gleichfalls wie Oeser ab. Zu einer Differenzierung zwischen dem strengen akademischen Klassizismus und dem empfindsamen Klassizismus gelangte Runge jedoch nicht, um die gemeinsamen geistigen und inhaltlichen Wur­zeln der Romantik und der Empfindsamkeit zu erkennen.

 

 

5.    Oeser im Vergleich mit seinem Schüler Hans Veit Schnorr von Carolsfeld

Oesers kunstheoretische Position, die bereits an einigen Beispielen veranschaulicht wurde, läßt sich ein weiteres Mal an der Gegenüberstellung zweier Arbeiten veranschaulichen, an dem der Generationsunterschied zwi­schen dem Lehrer und dem Schüler deutlich wird. Hierbei handelt es sich um das von Oeser für die Leipziger Nikolai­kirche eigenhändig gemalte Bild mit dem Thema „Lasset die Kindlein zu mir kommen“. (Abb. 23). Das Bild weist sämtliche besprochenen charakteristischen Merkmale Oesers bzw. Hagedorns auf. Flächig angelegte Gewänder, „pfirsichfarbenes Inkarnat“, die bereits gebrochen pastosen Farben werden durch ein „Sfumato“ zusätzlich abgemildert[66]. Dem Vergleichsbild, das dem Oesers gegenüber gestellt werden soll, liegt dasselbe Thema zu Grunde. Es handelt sich dabei um das Altarblatt für die Kirche im sächsischen Wolkenburg (Abb. 24), die zwischen den Jahren 1794-1804 vom Grafen Einsiedel erbaut wurde. Die Bedeutung dieses Bildes liegt darin, daß es von Oeser begonnen wurde und nach dessen Tod 1799 von seinem Schüler Hans Veit Schnorr von Carolsfeld zu Ende gemalt wurde. Deutlich weist das Bild zwei verschiedene Hände auf, die gleichzeitig auch eine unterschiedliche Malauffassung erkennen lassen.

Die für den Klassizismus typische Dreieckskomposition ist mit Sicherheit auf die Anlage Oesers zurückzuführen. Die Gruppierung der Personen kann ebenfalls von Oesers Hand stammen, gleichfalls der „nebulistisch“ angelegte Hintergrund, vor dem die Figuren beginnen sich aufzulösen. Carolsfeld berichtet, daß Oeser das „Bild zur Hälfte nur erst dünn untermalt hinterlassen hatte.“[67] Die Ausführungen der Christusfigur und die der Mutter als Caritas dürften eindeutig aus der Hand Carolsfelds stammen. Dafür sprechen die strenge klassizistische Ausfüh­rung des Lineaments der Gesichtskonturen und die Modulierung des Inkarnats durch Schattenpartien. Für eine typische Figur Oesers steht dagegen die Figur des Mittelgrundes zwischen den beiden Hauptpersonen. Ihre halbgeöffneten Augen und Mund und dem nach oben gewandten Blick weisen auf Oeser. Der Umriß und die Konturen der Figur sind kaum zu erkennen. In der Gegen­überstellung dieser drei genannten Personen wird einmal mehr der Generationen­unterschied deutlich. Neben dem sentimentalen Klassizismus beginnt sich hier ein reifer Klassizismus abzuzeichnen. Der Schüler löst den Stil seines Lehrers ab und führt ihn weiter.

Der spätere Leipziger Akademiedirektor und Nachfolger Johann Friedrich August Tischbeins war Hans Veit Schnorr von Carolsfeld. Dieser vertrat bereits einen frühen Nazarenerstil, den er bei Oeser erlernt hatte. Sein Sohn Julius Schnorr von Carolsfeld (1794-1872), der unter anderen auch von seinem Vater unterrichtet wurde, war der bekannteste Leipziger Vertreter eines ausgereiften Nazarenerstils. Berühmtheit erlangte er unter anderem durch seine „Bibel in Bildern“, die ab 1860 erschien.[68]

 

 

6.    Zusammenfassung

Oesers empfindsame Malerei war immer von einer eigenen Grazie begleitet. Das Vermeiden eines hart konturierenden Lineaments führte zu einer weichen Strukturierung von Figuren und Formen, verbunden mit dem Hang zur koloristisch fahler und unplastischer Gestaltung. Damit gehört Oesers Kunst einer stilgeschichtlichen Übergangsphase an, die den Klassizis­mus in unterschiedlicher Ausprägung, meist durch Betonung inhaltlicher Momente, mit vor­bereiten half, aber aufgrund der Traditionsgebundenheit noch in stilistisch-formalem Voka­bular des Spätrokoko verharrte. Diese neben anderen - zwischen den Jahren 1760-1780/90 - in der bildenden Kunst anzutreffenden Stilrichtung läßt sich in Bezug auf analoge Absichten und Inhalte mit der literarischen Empfindsamkeit vergleichen, deren formale Kennzeichen hauptsächlich in „einem empfindsamen Gefühlsausdruck“ sowie „graziöser Anmut“ bestehen.[69]

 

Der dargestellte Kritikverlauf anhand einiger repräsentativer Beispiele hat gezeigt, daß Oeser Vertreter einer nur kurzen Kulturepoche war, die schnell in die Kritik geriet. Auch wenn die Periode der „Empfindsamkeit“ kaum eine Generation Bestand hatte, brachte der künstlerischer Ideenreichtum dieser Zeit ganz eigene Sujets hervor. Ein Beispiel hiervon gibt das Œuvre Oesers, das im folgenden in einer Auswahl vorgestellt werden soll.

 


 

[1] Stahl, 1993, S. 122

[2] Oeser Schüler; An Herrn Oeser, bey dem Anfange des 1767ten Jahres, Leipzig 1767, o. S.

[3] zit. nach: Cremer, 1989, S. 279. Cremer datiert den Brief auf das Jahr 1762.

[4] Hagedorn, Bd. I, 1762, S. 138

[5] Brief Goethes aus Leipzig vom ersten Christtag 1782 an Frau von Stein, W. A., Bd. 99, Abth. 4, Bd. 6, S. 110

[6] Brief Goethes von 1768 aus Frankfurt an Oeser, W. A., Bd. 94, Abth. 4, Bd. 1, S. 178. Hagedorn führt zur Bedeutung der Geschmacksbildung für Künstler folgendes aus: „Aber vorher will der Geschmack gebildet seyn. Die Fertigkeit, die schöne Natur mit Empfindung zu sehen; das Mishellige in der Nachahmung zu meiden, oder, wo möglich, in Schönheitstheile zu verwandeln; den Werth der edlen Einfalt und Ungezwungenheit zu kennen, und sie zu Gegenständen des Rührenden, oder auch des Erhabenen, anzuschicken; das Herz zum Gefühl eines jeglichen Charakters zu heben, und von denjenigen Regungen selbst durchdrungen zu seyn, die durch die Meisterhand in uns erweckt werden soll: alles diese erfordert einen feinen Geschmack. Vielleicht noch etwas mehr: die früheste Bildung des Herzens. Es ist wenigstens den Künsten eine Ehre, wenn der Künstler ein rechtschaffender Mann ist.“; Hagedorn, 1762, Vorbericht, S. VIII. Der Hinweis, daß in Oesers Kunstunterricht die Vermittlung von Hagedorns „Schönheits-Begriff“ stattfand, ist auf den ehemaligen Oeser-Schüler Adolf Rossmässler zurückzuführen, der in seinem Lehrbuch anmerkt, daß seine aufgestellten Grundsätze auf Oeser und der Begriff „Schönheit“ auf Hagedorns „Betrachtungen über die Mahlery“ basieren.

[7] Neue Bibliothek der schönen Wissenschaft und freyen Künste, Bd. XIII, 1770, S. 117

[8] Platner, 1784, § 455, S. 141f.

[9] Hagedorn, 1762, Bd. I, S. 147

[10] Hagedorn, 1762, Bd. I, Vorbericht, S. VIII

[11] „Frankfurter gelehrte Anzeigen“, 23. Oct. 1772, Nr. 85, S. 679-680, in: W. A., Bd. 43, Abth. 1, Bd. 38, S. 387, Nr. 57

[12] Brief Herzogin Anna Amalias aus Tiefurt vom 29.Oktober 1783 an Oeser; in: Wissenschaftl. Beilage, No. 59, Leipziger Zeitung, Leipzig 1886, S. 351,

[13] Brief Oesers aus Braunschweig vom 20. August 1778 an Tochter Friederike, in: Wissenschaftliche Beilage, Leipziger Zeitung, No. 59, Leipzig, 1886, S. 351. Den Stich zu Oesers Bild fertigte Joh. Friedr. Bause; vgl. Keil, Georg, Catalog des Kupferstichwerkes von Johann Friedrich Bause, Leipzig, 1849, No. 164, S. 101

[14] Rost, Kunsthandlung, Verzeichnis einer ansehnlichen Kupferstichsammlung, alter, neuer und seltener Blätter berühmter Meister, Handzeichnungen und Kupferstichwerke, deren erste Partie aus dem Oeserschen Nachlasse kommt, nebst einer Landkarten-Sammlung, Leipzig, 1800, S. 124, Nr. 116, „Ein Wahnsinniger“, ebd., S. 123, Nr. 1160 „Das Bildnis einer Frau, nach der Natur, Lebensgr. ....“. Oeser, in dessen Privatbibliothek sich das Buch „Albrecht Dürer „Unterricht in der Zeichenkunst“, Arnheim, 1644“ befand (ebd. S. 473, Nr. 31), mag hier von Albrecht Dürers Bildnis der Mutter von 1514 angeregt worden sein.

[15] Oeser folgt hier den Vorstellungen des Schweizer Pastors Johann Caspar Lavater, der in seinem Werk „Physiognomische Fragmente zur Beförderung der Menschenkenntnis und Menschenliebe“ eine Theorie entwickelt hatte, anhand der über die Form des Kopfes und den Gesichtsausdruck auf den Charakter eines Menschen geschlossen werden soll. So versuchte auch Oeser die Köpfe in ihrer Physiognomie darzustellen, um die spezifischen Charaktere herauszuarbeiten; vgl. Lavater, Johann Caspar, „Physiognomische Fragmente zur Beförderung der Menschenkenntnis und Menschenliebe“, Leipzig, Winterthur, 1775

[16] Folgt man den Ausführungen Hagedorns, stellt Goethe über seinen Kunstunterricht bei Oeser rückblickend richtig fest: „Wahrscheinlich war es seine Absicht [...], nur die Einsicht und den Geschmack zu bilden, und uns mit den Erfordernissen eines Kunstwerks bekannt zu machen, ohne gerade zu verlangen, daß wir es hervorbringen sollten.“, W. A., Dichtung und Wahrheit, Bd. 31, Abth. 1, Bd. 27, S. 153ff.

[17] Hagedorn, Bd. I, 1762, S. 300

[18] GSAW 54/235, Brief Oesers aus Leipzig den 9. Februar 1780 an Knebel; teilw. abgedruckt bei Düntzer, Brief 35, 1858, S. 71

[19] SLBD, 3252 Mscr. Dresd. App. 1190, Nr. 124, Brief Oesers aus Leipzig vom 16. Januar 1777 an Goethe; hier erstmals veröffentlicht, s. Quellentext Nr. 4

[20] Hagedorn, 1762, Vorbericht, S. IV

[21] Propyläen, 3. Bd., 1800, S. 125ff.

[22] W. A., Dichtung und Wahrheit, Bd. 31, Abth. 1, Bd. 27, S. 153ff

[23] W. A., Dichtung und Wahrheit, Bd. 31, Abth. 1, Bd. 27, S. 153ff.

[24] Winckelmann, Briefe, Hrsg. Rehm, Bd. 2, 1952-57, S. 307

[25] Winckelmann, 1960, S. 60

[26] Hagedorn, Bd. I, 1762, S. 555

[27] Hagedorn, Bd. I, 1762, S. 556f.

[28] Hagedorn, Bd. II, 1762, S. 562

[29] Winckelmann, Briefe, Hrsg. Rehm, Bd. 2, 1952-57, S. 307

[30] Hamann, 1925, S. 60f.

[31] W. A., Dichtung und Wahrheit, Bd. 31, Abth. 1, Bd. 27, S. 153ff.

[32] Propyläen, 3.Bd., 1800, S. 125ff.

[33] Chodowiecki, 1789, S. 40

[34] Chodowiecki, 1789, S. 44

[35] Hagedorn, Bd. I, 1762, S. 556

[36] Hagedorn, Bd. I, 1762, S. 556f.. Die bei Hagedorn beschriebene Anlage von Figuren entsprechen den 1773 in Friedrich Nicolai´s „Sebaldus Nothanker“ karikierten Figurentypus des „Herrn Säugling“. Dessen „Wesentliches Merkmal ist der äußerst zarte, feingliedrige, schwächliche Körperbau. Bleiche Hautfarbe, bartlos, schmachtender Blick aus fast immer wasserblauen Augen, sinnlicher, stets halbgeöffneter Mund, der dem ganzen etwas „Schafsmäßiges“ verleiht, linkische Haltung, ausfallend gestenreiche Gebärden, schwammig weicher Händedruck, zumeist lispelnde Stimme, [...]“; zit. nach: Doktor, 1975, S. 490. So äußert sich bereits die polemische Kritik gegenüber der empfindsamen Literatur. Die empfindsamen Gestalten Oesers gleichen in ihren Hauptzügen denen nach Nicolais Beschreibung. Die von Oeser nach Anleitung Hagedorns ausgeführten Figuren beschreibt Dürr Oeser zum Vorwurf folgendermaßen: „Sein auf das weiche und anmuthige gerichteter Stilcharakter verbot ihm die energische Auffassung und Durchbildung der Gestalten. Sie erhielten insgesamt einen ins schwächlich süßliche hinüberspielenden Charakter, der sie trotz besserer Intentionen von anderen manierirten Werken derselben Zeit kaum unterscheidet und sie namentlich zu Johann Heinrich Tischbeins Schöpfungen in ein sehr nahes Verhältnis treten läßt.“;  Dürr, 1879, S. 139

[37] Burke, (Nachdr.), 19892, S. 157

[38] W. A., Dichtung und Wahrheit, Bd. 31, Abth. 1, Bd. 27, S. 153ff.

[39] Chodowiecki, 1789, S. 40

[40] Chodowiecki, 1789, S. 40

[41] Propyläen, 3. Bd., 1800, S. 125ff.; W. A., Dichtung und Wahrheit, Bd. 31, Abth. 1, Bd. 27,
S. 153ff.

[42] Hagedorn, Bd. I, 1762, S. 558f.

[43] W. A., Bd. 66, Abth. 2, Bd. 3, S. 376f.

[44] Hagedorn, Bd. II, 1762, S. 561

Oeser besaß selbst eine Übersetzung von „Lairess, Gerh. de, Grundlegung der Zeichenkunst.
Ins Hochdeutsche übers. Nürnberg 1756.“; Rost, 1800, S. 474, Nr. 39

[45] Propyläen, 3. Bd., 1800, S. 125ff.

[46] W. A., Dichtung und Wahrheit, Bd. 31, Abth. 1, Bd. 27, S. 153ff.

[47] Dürr, 1879, S. 139

[48] Oeser, 1779, S. 16

[49] Nach der Charakterisierung Oesers durch Goethe, Meyer, Chodowiecki und auch Dürr, kann laut Baumecker, unmöglich angenommen werden, daß Oeser Winckelmann in seinen Kunstanschauungen so maßgeblich bestimmt haben soll. Baumecker führt demzufolge aus, wenn Winckelmann am höchsten „die Einheit der Form und die Schönheit des Konturs bewertet“, mag es sein „[...], daß sich beide in der Schätzung des Einfältigen, Naiven vereinigt haben.“; zit. nach: Baumecker, 1933, Einleitung, S. 6

[50] Propyläen, 3. Bd., 1800, S. 125ff.

[51] Winckelmann, Briefe, Hrsg. Rehm, Bd. 2, 1952-57, S. 307

[52] zit. nach: Justi, Carl, Winckelmann und seine Zeitgenossen, Bd. I, Hrsg. Rehm, Walter, Konstanz, 19565, S. 408. Ähnlich kritisch lautet Goethes Urteil über Hagedorn, der für ihn unter anderen wie z. B. auch Oeser die höfisch-barocke Art der angenehm belehrenden Unterhaltung verkörperte.

[53] Hagedorn, Bd. I. 1762, S. 67

[54] Die Popularphilosophie mißt der „Naturnachahmung“ eine neue bedeutende Rolle zu, indem sie dieses künstlerische Prinzip, als ästhetische Erkenntnis für die Ausübung sittlichen Verhaltens nutzbar macht. Bachmann-Medick, 1989, S. 7

[55] Brief Oesers, Leipzig den 25. Januar 1780 an Knebel, GSAW 54/ 235, Düntzer, 1858, Brief 34, S. 68

[56] Herder, Johann Gottfried, Sämtliche Werke, Hrsg. Suphan, Bernhard, Berlin, 1884-1988, Nachdr., Hildesheim, 1967-1968, Bd. 8., 1967, S. 103; Bd. 9, 1967, S. 502; vgl. Cremer, 1989,
S. 282f.

[57] Brief Oesers aus Leipzig vom 25. Januar 1780 an Knebel, GSAW 54/ 235, Düntzer, Brief 34, 1858, S. 68

[58] Balet/Gerhard, 1979, S. 103

[59] Hagedorn Bd. I, 1762, Vorbericht, S. IV

[60] Hagedorn, Bd. I, 1762, S. 89. Ähnlich wie Hagedorn beschreibt bereits 1708 Roger de Piles in seinem „Cours de Peinture par principes“ den Grundsatz der „perfekten Imitation der Natur“. Er fordert eine einfache Nachahmung der Natur, eine ideale Auswahl der Gegenstände und anschließend deren „vrai composé“. Aus diesem Dreischritt entsteht für de Piles die „parfaite imitation de la belle nature“. Piles, Roger de, Cours de la Peinture par Principes, composé par Mr. de Piles, Paris, 1708, Einleitung, o. S.

[61] Maeck-Gérard, E., Die Antike in der Kunsttheorie des 18. Jahrhunderts; in: Forschungen zur Villa Albani, Hrsg. Beck, H. u. Bol, P. C., Berlin, 1982, S. 12, Winckelmann, Briefe, Hrsg. Rehm, Bd. 4, 1952-57, S. 131

[62] Justi, Bd. I, 19565, S. 408

[63] Justi, Bd. I, 19565, S. 412, Justis Hagedornurteil wurde von dem Oeser-Monographen Dürr weitgehend übernommen; vgl. Dürr, 1879, S. 33ff.; Cremer, 1989, S. 298

[64] Brief Oesers aus Leipzig vom 9. Februar 1780 an Knebel, GSAW 54/ 235; teilw. abgedruckt bei Düntzer, Brief 35, 1858, S. 71

[65] Runge, Philipp Otto, Runge, Briefe und Schriften, hrsg. und komm., Betthausen, Peter, Berlin, 1983, S. 237f.

[66] Die Oesersche Charakteristik, wie sie hier beschrieben wurde, trifft gleichfalls auch für sämtliche Ausmalungen in der Nikolaikirche zu.

[67] Carolsfeld, Lebensgeschichte, o. O., o. S

[68] Ziemke, Hans-Joachim, Lebensläufe nazarenischer Künstler, in: Kat. Die Nazarener, Städtische Galerie im Städelschen Kunstinstitut (Hrsg.), Frankfurt/M., 1977, S. 397

[69] Franke, 1989, S. 150









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