goethe


Timo John

Adam Friedrich Oeser 1717-1799
Studie über einen Künstler der Empfindsamkeit

II. Empfindsamkeit

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1.    Präzisierung des Zeitalters der Empfindsamkeit am Beispiel einer exemplarischen Werkanalyse Oesers

Eine Untersuchung, die die Herkunft und die Geschichte der Empfindsamkeit als kunst­histo­risches Phänomen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in ihrer gesamten Breite dar­legt, würde über den Rahmen der vorliegenden Arbeit hinausgehen. In einer kulturhistori­schen Gesamtschau wagte Krüger[1] erstmals in einer Übersicht den Versuch auf diese kurze Periode aufmerksam zu machen und erprobte eine Anwendbarkeit des Begriffs auf die ver­schiedensten Teilbereiche der bildenden Kunst, wobei es ihr nicht möglich war, sich in Ein­zelheiten zu vertiefen. Nur in wenigen Abschnitten ihrer Arbeit kommt es zu einer ober­flächlichen Bezugnahme auf die theoretischen Vorgaben zu diesem Phänomen.

Eine umfassende Untersuchung kann nur im Zusammenhang einer allgemeinen Kultur­ge­schichte stattfinden. Um tiefere Erkenntnisse zu diesem kulturhistorischen Phänomen spezi­ell in Deutschland zu gewinnen, wäre eine Gesamtschau der verschiedenen Disziplinen der Philosophie, hier besonders der Popularphilosophie, der Religion und der Theologie, der Pädagogik und der Medizin, der Musik wie der bildenden Kunst und ihrer empfindsamen Strömungen wichtig, die dann zu einer objektivierten Betrachtungsweise dieses kurzen Zeit­abschnitts führte.[2] Leider steht diese bislang noch aus. Ein Grund mag darin liegen, da man der Empfindsamkeit „keine in die Realität eingreifende Wirksam­keit zutraut“ und sie damit „unter Wert behandelt“,[3] obwohl sie durchaus mit eigenen Gesetzmäßigkeiten die geistigen, literarischen und kulturellen Strömungen dieser Zeit durchdringt.

Der Oberbegriff des Zeitraums ca. zwischen den Jahren 1750 und 1800 heißt „Aufklärung“. Ihn in einer weiteren begrifflichen kunsthistorischen Differenzierung ausschließlich mit dem Oberbegriff Rokoko zu belegen, wäre anachronistisch, von Protoklassizismus zu sprechen noch verfrüht. Der vielfach verwendete Begriff Rokoko-Klassizimus[4], stellt lediglich eine Behelfslösung dar und verdeutlicht die Problematik einer Begriffszuordnung. Eine Möglich­keit um eine Annäherung an ein verständlicheres Bild einer zu erforschenden Epoche zu gewinnen, besteht in einer zusätzlichen Begriffser­weiterung, die eine zusätzliche Differen­zierung zuläßt. Besonders sinnvoll scheint dies für Zeiträume, die als sogenannte „Achsenzeiten“ bezeichnet werden. In der vorliegenden Arbeit soll dies durch den Begriff der „Empfindsamkeit“ erfolgen. Der Sinn­gehalt der „Empfindsamkeit“ ist als kulturhistori­sches Phänomen in seiner Bedeutung und als weitere Auffächerung gegenüber dem Klassi­zismus oder der Aufklärung [dies gilt für sämtliche Bereiche der Wissenschaft und Kunst] bislang kaum in seiner inneren Struktur durchleuchtet und abgegrenzt.[5] Dies gilt es in den folgenden Kapiteln für die Kunstgeschichte am Beispiel Adam Friedrich Oesers vorzunehmen.

Nach Krüger beginnt das Zeitalter der Empfindsamkeit für die Kunstgeschichte in Deutsch­land ungefähr Ende der 60er Jahre des 18. Jahrhunderts und erreicht seinen Höhepunkt Mitte der siebziger Jahre und wirkt mit seinen Spätausläufern bis über das Jahr 1800 hinaus[6]. Sauder orientiert sich ebenfalls an einem Dreischritt. Erste vorbereitende literarische Tendenzen der Empfindsamkeit sieht er bereits zwischen den Jahren 1740-50, die er an den Schriften Christian Fürchtegott Gellerts fest macht.[7] Der Höhepunkt wird mit den zahlrei­chen literarischen Nachahmungen von Laurence Sternes (1713-1768) „Sentimental Journey“ (ab 1768)[8], den Romanen Samuel Richardsons (1689-1761), dem Erscheinen von Goethes „Werther“ (1774) und Johann Martin Millers (1750-1814) „Siegwart“ (1776) erreicht. Hö­hepunkt und beginnende Kritik an der literarischen Empfindsamkeit fallen in Deutschland fast zusammen. Erste kritische Stimmen werden bereits 1773 laut,[9] womit das langsame Absterben dieser kurzen Epoche eingeläutet wird, deren Ende endgültig zur Jahrhundert­wende hin besiegelt ist.

 

 

2.    Der Begriff der „Empfindsamkeit“ in der Literatur

Die Entstehung des literarischen „empfindsamen“ Zeitalters hat seine philosophisch-ethi­schen Ursprünge in der „Moral-Sense-Philosophie“[10] der englischen Autoren Anthony A. Earl of Shaftesbury (1621-1683), Francis Hutcheson (1694-1746), David Hume (1711-1716) und Adam Smith (1723-1790) (Theory of Moral Sentiments, 1759)[11]. In erster Linie waren es die Schriften Shaftesburys (Characteristics of Men, Manners Opinions, Times, 1711)[12], in denen dem Menschen eine natürliche Anlage von Mitgefühl, Liebe und Zärtlichkeit bescheinigt wurde, die ihn zu einem freiwilligen moralischen Handeln führt. Gleichfalls maß Hutcheson (Inquiry into Beauty and Virtute, 1725)[13] dem moralischen Sinn eine emotionale Qualität zu, die nicht auf Vernunft beruht, sondern auf natürlichem Fühlen.[14] Solche in England verfaßten Erkenntnistheorien breiteten sich im 18. Jahrhundert rasch über ganz Europa aus[15] und schlagen sich in Deutschland zeitversetzt zu allererst im bürgerlichen Drama und empfindsamen Roman nieder. Größte Resonanz fanden dabei die verinnerlichten moralischen Empfindungen und das sittlich Rührende aus den inzwischen ins Deutsche übersetzten Romanen Richardsons und Sternes. Entwicklungsgeschichtlich betrachtet, verlaufen die empfindsame Literaturepoche und die Epoche der empfindsamen bildenden Kunst in Deutschland fast parallel, wobei die Literaten Klopstock, Gellert[16], Jacobi und Miller[17] in Deutschland den Boden für ein „moralisch-empfindsames und läuterndes Sehen“ bereitet haben.

 

-      Die Einführung des Begriffs der „Empfindsamkeit“ in Deutschland

Die erste Erwähnung des Begriffs „empfindsam“ in Deutschland vermutet Norbert Miller um 1750. Den offiziellen Siegeszug trat das Wort mit Gotthold Ephraim Lessings (1729-1781) Übersetzung von Laurence Sternes „Sentimental Journey“ von 1768 an. Er über­setzte das Beiwort des Titels „Sentimental...“ in Annahme einer eigenen Wortschöpfung mit „empfindsam“.[18] Erst im Anschluß an Lessings Übersetzungsvorschlag etablierte sich der vorerst noch als bedeutungslose Worthülse existierende Begriff im deutschen Wort­schatz. Die Literaturkritik verbindet mit Empfindsamkeit ab 1773 sogar eine neuartige soziale Strömung. Die Empfindsamkeit tritt von nun an ins Bewußtsein des bürgerlichen Lesepublikums und wurde zum Schlagwort einer zeitgenössischen Diskussion, die am Ende des Jahrhunderts nur noch aus der Sicht des Modecharakters gesehen wurde.[19]

Sehr bald taucht das Wort „Empfindsamkeit“ in Wörterbüchern auf und zählt damit zum allgemeinen Sprachgebrauch. Die Enzyklopädien waren bestrebt, eine möglichst genaue Beschreibung und Charakterisierung des Begriffs zu geben. So heißt es 1776 bei Adelung im „Deutschen Wörterbuch“: „Empfindsamkeit ist sonach die Fähigkeit, leicht zu sanften Empfindungen gerührt zu werden.“[20]  Johann Heinrich Campe (1746-1818) bestimmt den Begriff im „Wörterbuch der deutschen Sprache“[21] mit: „Fähigkeit und geneigt zu sanften angenehmen Empfindungen, Fertigkeit beziehend, an theilnehmenden Gemüthsbewegungen Vergnügen zu finden.“

Beide Eintragungen gehen davon aus, daß es nicht erst die heftigen Reizungen der Seele sein dürfen, die den Menschen zum Fühlen anregen. Campe nimmt bei seiner Beschreibung der Wirkung des Mitleides deutlichen Bezug auf den englischen Theoretiker Edmund Burke (1724-1804) und dessen Definition vom Begriff des „Erhabenen“ in seiner Schrift „A Philosophical Enquiry into the Origin of our Ideas and the Sublime and Beautiful“ (17571)[22]. Burke schreibt über das Mitleid von der angenehmen Empfindung, die die “Wirkungen der Sympathie bei den Nöten anderer“ auf den Menschen haben muß. Er erklärt, daß das Mitleid nur auf Grund eines angenehmen Gefühls, das einen beim Anblick eines Leidenden überkommt, entstehen kann. Sonst würde es weder Anteilnahme und Barmherzigkeit geben. Denn, wäre laut Burke, der Anblick des Leides anderer unangenehm, „so würden wir alle Personen und Orte aufs sorgfältigste meiden, die eine solche Leidenschaft in uns erregen könnten, [...].[23]

 

-      Empfindsamkeit als soziologisches Phänomen

Die Sozialgeschichtsforschung geht gemeinhin davon aus, daß die Empfindsamkeit als eine ausgespro­chen bürgerliche Erscheinung zu sehen ist, die in engem Zusammen­hang mit der bürgerli­chen Emanzipation und Selbstbewußtwerdung in den europäischen Ländern steht.[24] Hansen sieht die Empfindsamkeit ebenfalls als ein Zeichen für eine gesamtgesellschaftliche Verände­rung, frei von ideologischer Anschauung, die auf mehrere Phasen verteilt, den feudali­stischen Ständestaat durch eine bürgerliche Gesellschaft ablöst. Für ihn stellt Empfindsam­keit eine rein bürgerliche Mentalität dar.[25] Vielfach wird aber übersehen, daß sich auch weite Kreise des Adels dem Prozeß der Verbürgerlichung anschlossen und die bürgerliche unzeremonielle, empfindsame Gefühlskultur für sich adaptierten.[26] Demzufolge stellt Hohendahl fest, daß sich der sentimentale Individualismus in einem gesellschaftlichen Nie­mandsland ansiedelt. Weder läßt sich die Empfindsamkeit als typisch bürgerlich bzw. aristo­kratisch ausweisen, sondern „an der Empfindsamkeit teilzuhaben bedeutete, menschlich zu sein und nicht bürgerlich oder aristokratisch“[27]. Der Ausgangspunkt für die Überwindung von Standesunterschieden war für beide Seiten der Humanismus.[28] Die beiden Tätigkeits­felder Oesers, das bürgerliche Leipzig und der Weimarer Hof, der in seiner Sonder­stellung, laut Elias „in mancher Hinsicht beinahe ein bürgerlicher Hof war“[29], lagen sich nicht als Antipoden gegenüber, sondern wurden von den selben Idealen getragen. In ihrer ursprünglichen Bedeutung drückte sich in der Empfindsamkeit vor allem das Bedürfnis nach Natürlichkeit aus, das zu einer ungezwungenen tugendhaften Lebensart füh­ren sollte. Dies traf für den Adel gleichermaßen wie für das Bürgertum zu[30] und machte es Oeser als Künstler möglich, zwischen Leipzig und Weimar eine Mittlerrolle einzunehmen.

Die Empfindsamkeitstheorie stimmt in den meisten europäischen Ländern überein, ihre Funktion allerdings differiert. Bezeichnend für Deutschland ist, daß die Empfindsamkeit keine so weitreichenden verändernden Auswirkungen auf die gesamtgesellschaftliche Situa­tion hat wie in anderen Ländern.[31] Daß darin eine so geringe gesellschaftliche Sprengkraft lag,[32] liegt nicht nur an den übermächtigen gesellschaftlichen Verhältnissen, sondern auch am früh einsetzenden Umschwung ihrer Ausdrucksmöglichkeiten, sei es in der Literatur oder Kunst, ins idyllische, sentimentalische, gefällige und unverbindliche. Charakteristisch für die deutsche Empfindsamkeit war, daß innerhalb der deutschen Intelligenz, anstatt sich einer weltzugewandten Verinnerlichung anzuschließen, eine ausgeprägte weltabgewandte Naturverbunden­heit zu beobachten war,[33] die bereits die Romantik mit vorbereitete.

Für die gesamte Kulturgeschichte im allgemeinen und die Kunst im besonderen wird eine Verbindung von ästhetischen und sozialen Erscheinungen sichtbar. Die Empfindsamkeit des 18. Jahrhunderts war ein Teilaspekt eines gesellschaftlichen Umbruchs, an dem auch die Kultur beteiligt war. Die Hauptbedeutung liegt aber nicht darin, daß sie eindeutig einer gesellschaftlichen Trägerschicht zugeordnet werden kann, sondern erstmals die Möglichkeit einer Individualität zuließ.[34] In der Entdeckung des eigenen „Ichs“, liegt das Bestreben, die persönliche Unselbständigkeit zu überwinden. Der Hallenser Philosoph Alexander Gottlieb Baumgarten definierte seine Theorie vom „inneren Gefühl“ aus der eigenen Selbstbewußtwerdung, die die Verfassung der Innerlichkeit anzeigt.[35] Somit ist die Emp­findsamkeit als „Erfahrungsseelenlehre“ in ihrer ursprünglichen reinen Bedeutung ein wich­tiger Teil des gesamtgesellschaftlichen Emanzipationsprozesses im allgemeinen und eines bürgerlichen im besonderen.[36] Die Popularphilosophie betrachtet die „Erfahrungsseelenkunde“ als Lehre einer „Gefühlskunst“. Aus der allgemeinen Eigenschaft des Empfindens leitet sie die Fähigkeit zu einem moralisch-sittlichen Handeln ab.[37] Gesell­schaftlich wurde diese neue Erkenntnis relevant, weil sie ein Stück weit auf der Basis von Toleranz und Verständnis soziale Schranken nivellieren konnte. Entscheidend war nun nicht mehr der Geburts­stand, sondern Talent und tugendhaftes Verhalten.[38] Empfindsamkeit und Tugendbegriffe sind nicht von einander zu trennen. Rationale Überle­gungen und sanfte Empfindungen müssen einander ergänzen. Die Aufklärer bestehen auf einer Harmonie von Verstand und Gefühl.[39] Aus den Definitionen der Zeit­genossen wird ablesbar, daß sich die Empfindsamkeit aus ihrem Selbstverständnis heraus im Rahmen einer übergreifenden Aufklärungsbewegung etabliert.[40] Durch den Sentimentalismus wird neben dem Rationalismus der Aufklärung ein weiterer Schwer­punkt gesetzt. Das Gefühl trat an die Seite des Verstandes. Sensibilität, Zärtlichkeit waren Schlagworte dieser Bewegung, die sich auf das eigene „Ich“ und das Gefühl konzentrierten. Sentiment bekam eine Aufgabe zugewiesen, worin sich der Protest gegen eine Verabsolutierung des reinen rationalistischen Prinzips der Aufklärung nieder­schlug.[41]

 

-      Kritik an der Empfindsamkeit, das Ende einer Kulturepoche

Die Forschung der Literaturgeschichte stellt fest, daß sich in den 90er Jahren der damals führenden Literaturzeitschriften kaum noch Anfeindungen gegenüber der Empfindsamkeit finden lassen.[42] Daraus wird gefolgert, daß die klassische Epoche der literarischen Empfind­samkeit, die in den 40er Jahren ihren Anfang nahm und zu Beginn der 70er ihren Höhepunkt hatte, endgültig zu Ende war. Ab der zweiten Hälfte der 70er Jahre wurden die Forderungen nach einer Zusammengehörigkeit von Vernunft und Gefühl immer weniger eingelöst. Der Empfindsamkeit wurde daraufhin zurecht der Vor­wurf einer „empfindelnden“ Modekrank­heit gemacht.[43] Diesen Entwicklungsverlauf formuliert Sauder folgendermaßen[44]:

„Die ästhetisch vermittelte Empfindsamkeit ist Norm für die Handlungsweise des aufsteigenden Bürgertums. Seine Perspektive wäre als Suche nach Voll­kommenheit, Glück und Gemeinwohl zu bestimmen. Die Empfindelei durch­bricht diese Affektregulierung und verfällt als neue Norm der Kritik der Auf­klärung“

Die reine „Empfindelei“ opponiert ganz radikal gegen die rationalen vernunftgeleiteten Züge der Aufklärung und widersetzt sich dem Streben, Ratio und Gefühl miteinander in Einklang zu bringen. Aus dieser Intoleranz fällt die gesamte Epoche der Empfindsamkeit (vor allem im 19. Jahrhundert) einer wenig differenzierten Kulturkritik zum Opfer. Aufklärung und Empfindsamkeit wurden von nun an vielfach als in Opposition zueinander stehend betrachtet[45] und dabei kaum die Tatsache berücksichtigt, daß es gerade den Ästhetikern, Philoso­phen und Literaten der Aufklärung ein Anliegen war, ein Gleichgewicht zwischen Kopf und Herz herzustellen.[46] Im 18. Jahrhundert wurde nicht die Empfindsamkeit selbst abgelehnt, sondern ausschließlich das Auseinanderstreben von Gefühl und Vernunft wurde beanstan­det. Die zunehmende „Empfindelei“ und „Naturschwärmerei“ führten zu einer Trivialisie­rung von Literatur und Kunst. Die weitere Entwicklung führte zum Unterhaltungsroman und zum Kitsch. Über die Gegensätzlichkeit von Schwärmerei und Aufklärung schreibt der Leipziger Popularphilosoph Ernst Platner:

„Die Schwärmerey gewinnt in jedem Volke und Zeitalter, in dem Maaße, in welchem sie zunimmt die Erschlaffung der Seelen- und Nervenkräfte, und eine gewisse panische Furcht vor Philosophie und Aufklärung.“[47]

Einer der heftigsten Kritiker an einem „empfindelnden“ Gemüt war Goethe. Dieser erkannte das Phänomen rechtzeitig als eine epidemische Zeitkrankheit und distanzierte sich bereits 1773, ein Jahr nach dem Erscheinen des „Werther“, in seinem „Götz von Berlichingen“ unmißverständlich von der „Empfindelei“, und läutet für sich die Epoche des Sturm und Drang ein. Von nun an war die Natur nicht mehr inniges Refugium, die Natur war nun die Urkraft emotionaler Ästhetik. Den Lenz läßt er in seinem Götz sagen :

„daß handeln, handeln die Seel der Welt sei, nicht genießen, nicht empfindeln, nicht spitzfindeln, daß wir dadurch allein Gott ähnlich werden, der unaufhör­lich handelt und unaufhörlich an seinen Werken [die Natur] sich ergötzt.“[48]

Goethes Rückkehr aus Italien nach Weimar im Jahre 1788 besiegelte das Ende der Epoche der Empfindsamkeit und wurde entscheidend für deren zukünftige Beurteilung. Das bereits 1777 als Satire aufgeführte Stück „Triumph der Empfindsamkeit“ wurde zehn Jahre später noch einmal umgearbeitet und 1787 in den Druck gegeben.[49] Wie sehr Goethe sich von sei­nem eigenen empfindsamen Vorleben distanziert hatte, sollte nun nochmals einer breiten Öffentlichkeit bekannt gemacht werden. So wurde im 5. Akt des Stücks zum Spott an der Empfindsamkeit und ihrer Naturschwärmerei aus dem Inneren einer Puppe deren Füllung herausgezogen. Darunter befanden sich neben Millers „Siegwart“ und zahlreichen anderen empfindsamen Büchern und Gegenständen auch sein eigener „Werther“, die ins Feuer geworfen wurden.

Die Empfindsamkeit wurde bereits als eine Phase, die auf verschiedene Bereiche der Kul­turgeschichte angewendet werden kann, beschrieben. Die Kritik fand nicht nur an der Lite­ratur statt, sondern zahlreiche andere geistesgeschichtliche Disziplinen waren ebenfalls davon betroffen. Dies galt für die Anthropologie, die Psychologie, die Ethik, die Moralistik ebenso, wie für die Kunst. Die Hinwendung zu einer Gefühlskunst kann nicht ohne die Einflußnahme der sentimentalen Literatur gesehen werden. Auffällig sind dabei auch die Analogien im zeitlichen Verlauf von Aufstieg und Fall beider Disziplinen.

 

 

3.         Sentimentalismus in der klassizistischen bildenden Kunst: „Empfindsamkeit“ als kunsthistorischer Stilbegriff

Der Begriff „Empfindsamkeit“ bildet in der Kunstgeschichte keinen eigenständigen Epo­chenbegriff, wie der des Barock, des Rokoko oder des Klassizismus. Im Gegensatz zur Literaturgeschichte[50] ist der Ausdruck in der bildenden Kunst keine gewöhnliche Größe. Gesamtdarstellungen zur Kunst des 18. Jahrhunderts tun sich schwer, besonders für die zweite Hälfte, einen einheitlichen Epochen- bzw. Stilbegriff zu finden. Während bei den einen noch die Rede von Rokoko[51] und klassizistischem Barock[52] ist, wird bei anderen von akademischem Klassizismus[53], Rokoko-Klassizimus[54], Pseudoklassizismus[55], empfind­samem Klassizismus[56] oder Sturm und Drang[57] gesprochen. Der Barock, Rokoko und Klas­sizismus bedürfen also einer begriffliche Erweiterung (bzw. Eingrenzung) mit den attributiv verwendeten Eigenschaften „klassizistisch“ „akademisch“, „pseudo“ oder „empfindsam“. Die kennzeichnenden Erweiterungen weisen allesamt auf eine Abmilderung eines überge­ordneten Stilbegriffs in seiner reinen Ausprägung hin. Dies gilt für den sich allmählich auflö­senden Stil vergangener Zeiten gleichermaßen wie für die noch unterentwickelte Reinform des zukünftigen Stils eines Protoklassizismus. Paradoxerweise wurde nicht sofort ein neuer Stil geschaffen, sondern, man übernahm, um den Rokoko zu überwinden, vorerst noch dessen eigene Stilmerkmale[58], die sich dann im Laufe der Zeit immer mehr aufzulösen begannen. Teilaspekte des Übergangs vom Rokoko zum Klassizismus sind die Nebenströmungen: die Empfindsamkeit, der Sturm und Drang und die Geniezeit. An den verschiedenen klassizisti­schen Unterströmungen werden so „die Eigentümlichkeiten von Lähmung und Fortschritt deutlich, die der Klassizismus in der bildenden Kunst mit sich brachte“[59].

Die Begriffsvielfalt veranschaulicht, in welch verworrener Umbruchsphase sich die Zeit zwi­schen den Jahren von ca. 1750-1800 befand, die es erschwert, diese Jahrhunderthälfte (falls dies überhaupt einen Sinn macht) stilistisch einzuordnen. Gerade aber in den unterschied­lichen, sich gegenseitig bedingenden Strömungen liegt der Reiz dieser Zeit. Allen o. g. „Klassizismen“ liegt eine gemeinsame Ausgangsbasis zu Grunde, nämlich die Überwindung des Rokoko[60] bzw. der Bruch mit dem Barock[61]. Die völlige Loslösung von diesen beiden Stilformen war mit dem voll ausgeprägten klassizistischen Stil erst um 1800 erreicht[62]. Ver­antwortlich für diese Entwicklung war allerdings übergeordnet ein völlig neues Naturemp­finden, aus der dann auch eine neue Art von Kunstrezeption entstand. Laut Hamann konnte der Sturm und Drang den Rokoko nicht verdrängen, da das neue Naturgefühl nur Utopien erzeugte[63]. Diese Wunschbilder bestanden aus Gegensatzpaaren. Sie wurden von der Emp­findsamkeit hervorgebracht, die den Hintergrund für den Sentimentalismus abgaben. So stehen sich als Utopien für die Empfindsamkeit Natur-Kultur, Landleben-Stadtleben, Klo­ster-Welt, Einsiedelei-höfische Geselligkeit und Ruhe-Unrast gegenüber[64], die die Vorstel­lungswelt des 18. Jahrhunderts beherrschten. Wie später noch zu zeigen sein wird, war die Realitätsferne des Sentimentalismus der Hauptgrund für die auftretende Kritik an den künst­lerischen empfindsamen Darstellungsformen.

Krüger führt aus, daß das Haupthindernis, von einer Epoche der „Empfindsamkeit“ in der Kunst zu sprechen, darin liegt, daß er bereits als Oberbegriff für die „allgemeine Kultur­geschichte“ beansprucht wird.[65] Doktor und Sauder sprechen daher von der „Empfindsamkeit“ als einer „Tendenz“, die nicht als Stilbegriff verstanden werden darf.[66] Das Eigentümliche bestand darin, daß das Gegenständliche unabhängig künstlerischen Stil­merkmalen gesucht wurde, um das Fühlen in Regung zu bringen.[67] Daraus wäre zu folgern, daß die Empfindsamkeit eine geistesgeschichtliche Begriffsgröße darstellt, die lediglich die Betrachtungsweise der verschiedenen kulturhistorischen und kunsthistorischen Teilbereiche erklärt und nicht deren äußere Erscheinungsformen, was hieße, der Stil spielt keine Rolle sondern es kommt in der Kunst, wie in der Literatur auf die Lesart bzw. die Betrachtungs­weise an.

 

-      Ethisierung der Kunst im 18. Jahrhundert

Die Philosophie des 18. Jahrhundert hatte ergänzend zur vernunftbestimmten Theorie der Aufklärung von Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716) und Christian Wolff den Nutzen der sensitiven Wahrnehmung immer wieder betont. Wobei der Nutzen der „Empfindung“ erst aus der Voraussetzung eines vernunftorientierten Denkens erkannt wer­den konnte. Der Philosoph Alexander Gottlieb Baumgarten definierte als erster in seinen philosophischen Schriften („Ästhetica“ 1750/58)[68] den Begriff einer „sinnlichen Erkenntnis“ -Cognitio sensitiva-.[69] Für Baumgarten war sinnliche Erkenntnis eine Form des Bewußtseins,[70] über die die Künste erst zur Wahrheit gelangten.[71] Er löste die Kunst vom Verstand und ordnete sie der Sinnlichkeit zu.[72] Sie stand von nun an ergänzend der intellektuellen Erkenntnis gegenüber.[73] In den zahlreichen zeitgenössischen ästhetischen Schriften wurden die Theorien von der Empfindsamkeit als Ergänzung zur Vernunft als ein wesentlicher Be­standteil der Aufklärung festgeschrieben. Der Höhepunkt in der Diskussion dieser Philoso­phie wurde mit dem Erscheinen der kritischen Werke Immanuel Kants (1724-1804) zwischen 1780 und 1800 erreicht.[74]

Die Popularphilosophen, Ästhetiker und Schriftsteller als ästhetischen Vordenker trugen den Geist der Aufklärung in Reflexionen und Dichtungen vor. Die bildenden Künstler blie­ben lange noch in traditionalistischen Zusammenhängen befangen. Die Literatur griff als erste Disziplin die von Philosophen vorgedachte Theorien auf. Der Philosoph Johann August Eberhard (1739-1809) schreibt über die Aufgaben des Dichters und sein Fach:

„Der Dichter trug die Rose des Vergnügens in der Hand, der Philosoph zeigt wo sie gewachsen war, und wie man auf diesem Felde nicht nur die Blume des Ergözens, sondern auch die Frucht der Nutzbarkeit zu weiterem Fortkommen und Ausbreiten verhelfen könne.“[75]

Die Nutzbarkeit bestand für die Philosophen in erster Linie in der moralischen Empfindung, die sowohl in den schönen Künsten als auch in der Wissenschaft zu finden war.[76] Dadurch, daß Wissenschaft und Kunst ein und den selben Endzweck verfolgten, wurde die Kunst in den Augen der Gelehrten aufgewertet. Aus der Sicht der moralisierenden Zweckbestim­mung hat die Kunst für den Popularphilosophen und Ästhetiker Karl Heinrich Heydenreich das Ziel, Empfindung und Phantasie zu erzeugen[77] und den Menschen in seinem Glücksempfinden positiv zu beeinflussen.[78] Einen ähnlichen Standpunkt wie Heydenreich nimmt auch Friedrich Gottlieb Klopstock (1724-1803) ein, der den Wert der Kunst und der Wissenschaft ausschließlich in ihrer moralischen Schönheit ansieht:

„Der Vorzug der Künste vor den Wissenschaften liegt darin, daß sie geeigneter sind, die Menschen moralisch zu machen: sie erniedrigen sich und sind nicht mehr schön, wenn ihnen die moralische Schönheit fehlt.“[79]

Ebenso vertritt Moses Mendelssohn (1729-1786) eine moralisch-sittliche Kunstauf­fassung. Über die positiven Eigenschaften der Künste schreibt er 1757:

„Die Dichtkunst, die Malerei, die Bildhauerkunst, wenn sie der Künstler nicht zu unedlen Zweck mißbraucht, zeigen uns die Regeln der Sittenlehre in erdich­teten und durch die Kunst verschönerten Beispielen, wodurch die Erkenntnis belebt und jede trockne Wahrheit in eine feurige und sinnliche Anschauung verwandelt wird.“[80]

Die Popularphilosophie rückt die Phantasie und Einbildungskraft wieder in den Mittel­punkt des philosophischen Interesses. In ihrer scheinbaren „Irrationalität“ treten sie nicht in Oppo­sition zum Rationalismus, sondern Phantasie und Einbildungskraft nehmen „ein handlungs­bezogenes Verständnis von ästhetischer Reflexion in Anspruch“.[81] Dies bedeutete, daß Kunstbetrachtung zu einem Vorgang reinster Subjektivität wurde.[82] Heydenreich führt in diesem Zusammenhang aus der erweiterten Sicht der Kunstrezeption einen neuen Kunst­begriff ein, und spricht von „Künste der Empfindsamkeit“ bzw. „Künste der Empfindung und Phantasie“.[83] Das 18. Jahrhundert hatte offenbar wenig Mühe, die damals zeitgenös­sische Kunst mit „Künste der Empfindsamkeit“ zu bezeichnen. Wobei es Heydenreich nicht darauf ankommt, die Kunst mit einem neuen Stilbegriff zu belegen, sondern seine Begriffs­bestimmung lediglich anhand der Betrachtungsweise eine damit verfolgte Wirkungsweise benennt.

Mit Heydenreichs philosophischer Begriffsbestimmung zur Empfindsamkeit ließe sich die Frage Sauders nach einer stilistischen Symbiose von Klassizismus und Empfindsamkeit[84] mit Hamanns Begriffsdefinition vom „empfindsamen Klassizismus“ beantworteten. Hamann schreibt:

“Die Zeit des empfindsamen Klassizismus ist die einer Menschlichkeit. Die gleichmäßige gesellschaftliche Atmosphäre, die im Rokoko in Frankreich herrschte und im deutschen Rokoko so ganz fehlte, scheint erst die deutsche Kultur zu jener Einheit zu binden, in der ein beherrschendes Bildungszentrum -Weimar und Goethe- die Einheit des Hofes in Paris ersetzt.“[85]

Hamanns Verbindung aus Empfindsamkeit und Klassizismus mit dem hohen Ideal der Menschlichkeit deckt sich mit der bereits zitierten Definition Hohendahls „an der Empfind­samkeit teilzuhaben bedeutete, menschlich zu sein.“[86] Der bereits zitierte Karl Heinrich Heydenreich spricht vom Wesen der Künste, die durch ihren Eindruck und ihre Wirkung den einzelnen Menschen wie auch eine ganze Gesellschaft positiv beeinflus­sen und führt weiter aus:

„Wenn nun die schönen Künste, wie es niemand leugnen wird, vorzüglich auf Empfindung und Phantasie wirken, und gesetzt auch sie hätten sonst gar kei­nen Nutzen, doch diese Kräfte in jedem Falle üben, verfeinern und verstärken; so ist es offenbar, wie schon im allgemeinen großen Einfluß auf Glückseligkeit haben. Die Sinne liefern die Masse der Erfahrung, der Verstand ordnet sie nach Gesetzen, die schönen Künste beleben sie mit Interesse und Feuer.“[87]

 

 

4.              Die Bedeutung der „Empfindsamkeit“ am Beispiel zeitgenössischer Kunstheoretiker

Mit der „Tendenz“ der Empfindsamkeit setzten sich nicht nur Literaten wie Gellert, Goethe oder Miller, oder die Leipziger Popularphilosophen Platner und Heydenreich auseinander. Auch bei den Kunsttheoretikern Sulzer und Hagedorn wurde der „Empfindung“ bei der Kunstbeurteilung große Bedeutung zugemessen und in geringerem Maße auch bei Winckelmann, woraus sich auch eindeutige Kriterien für eine zeitgenössische Kunstbeur­teilung ableiten lassen.

 

-      Johann Georg Sulzer

Für Deutschland ist die Auswirkung von Johann Georg Sulzers, „Allgemeine Theorie der Schönen Künste“, insbesondere auf die gebildeten Kreise und auf die philosophischen For­mulierungen neuer ästhetischer Grundbegriffe nicht zu unterschätzen.[88] Sulzer gilt als Eklektiker, der die verschiedensten ästhetischen Strömungen seiner Zeit in lexikalischer Form zusammengefaßt hat. Sie liefern eine breite Grundlage für die damals üblichen Ansichten. Für einen Mann der Aufklärung wie Sulzer einer war, bestand der Endzweck der Kunst darin, Empfindungen zu erzeugen, die vom Verstand und der Weisheit reguliert wer­den sollten.[89] Sulzer gibt in seiner Schrift die klassische Forderung der Aufklärung nach Einheit von Herz und Verstand wieder. Für den Schweizer Ästhetiker hat die Empfindung eine psychologische wie moralische Bedeutung. Für ihn war eine ganzheitliche Erziehung des Menschen nur im Zusammen­wirken von Empfindung und Erkenntnis zu verwirklichen. In psychologischer Hinsicht „entscheidet die Empfindung über das, was gefällt, oder mißfällt, die Erkenntnis urtheilet über das, was wahr, oder falsch ist.“ Im moralischen Sinn soll die Empfindung den sittlichen Charakter der Menschen bestimmen.[90] Sulzer erkannte früh die unliebsamen Auswüchse, die die Empfindsamkeit annahm, und warnte vor einer übertriebenen Empfindsamkeit, da sie den Menschen verweichlicht und in erster Linie mehr schadet als nützt. Besonders hebt er die zeitgenössischen Dichter hervor, die zu einer schier maßlosen Erregung des Gefühls des Lesers neigten, und daß der eigentliche Zweck des Empfindens verloren ginge.[91] Auch bei Sulzer waren es lediglich die „empfindelnden“ und ins Triviale abgleitende Literaten, die er kritisierte und nicht die Empfindsamkeit an sich.

Aus Sulzers Haltung ergibt sich die logische Konsequenz in der Beurteilung von Kunst. Für ihn nahm die Ausführung und Beschaffenheit des Gegenstandes eine unter­geordnete Be­deutung ein und die Frage nach dem Stil spielt somit keine Rolle.

„Bey der Erkenntnis sind wir mit dem Gegenstand als einer ganz außer uns liegenden Sache beschäftiget, bey der Empfindung aber geben wir mehr auf uns selbst, auf den angenehmen oder unangenehmen Eindruck, den der Gegen­stand auf uns macht, als auf seine Beschaffenheit, Achtung.“[92]

Die Kunst der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts war auf einen „Endzweck“ aus­gerichtet, dieser stand im Dienst der bürgerlichen Aufklärung zur sittlichen und moralischen Hebung des Menschen und zur Läuterung des Verstandes. Sulzer sieht es als Unsitte an, Kunst nach ihrer Ausführung zu beurteilen, unberücksichtigt der „Inhalte“, die sie vermitteln soll. Im Gegensatz zu den meisten Kunstkritikern seiner Zeit, waren es für Sulzer allein die „Intentionen“, die entscheidend für die Bewertung eines Kunst­gegenstandes waren und nicht die Machart. Demzufolge klagt er:

„Es ist ein großer Mißbrauch der Kunst, daß noch so sehr durchgehends ein vollkommener Pinsel mehr als eine vollkommene Erfindung gelobt wird. Dieses heißt Mittel ohne Rücksicht auf den Endzweck schätzen.“[93]

 

-      Johann Joachim Winckelmann

Bei Sulzer stand die Empfindung im Vordergrund, bei Winckelmann konnte sich die Kunst in erster Linie nur über das logische Denken vermitteln. In den „Gedanken über die Nach­ahmung...“ ist die Rede von „Gemälden, die von Gedanken leer“ sind, vom „Künstler, der eine Seele hat, der denken gelernt“ und von einem „Maler, der weiter denkt als der Pinsel reicht“. Gegen Ende der Schrift erhebt er die Forderung „Der Pinsel, der den Künstler führt, soll in Verstand getunkt sein [...]. Er soll mehr zu denken hinterlassen, als was er dem Auge gezeigt“. In der „Erinnerung über die Betrachtung der Werke der Kunst“ von 1759 , empfiehlt er darauf zu achten „Ob der Meister des Werks, welches du betrachtest, selbst gedacht oder nur nachgemacht hat“.[94]

Selbst in der „Abhandlung von der Fähigkeit der Empfindung des Schönen in der Kunst und dem Unterricht in derselben“[95] gibt Winckelmann deutlich zu erkennen, daß er auf den „Gedanken“ in der Ausführung und im Inhaltlichen mehr Wert legt als auf die „Empfindung“:

„Ich füge diesem Unterrichte zur Empfindung des Schönen in der Kunst fol­gende Erinnerungen bey. Man sey vor allen Dingen aufmerksam auf besondere eigentümliche Gedanken in den Werken der Kunst, welche zuweilen wie kost­bare Perlen in einer Schnur von schlechteren stehen, und sich unter diesen verlieren können.“[96]

Zwar nimmt bei Winckelmann die Ausführung und Beschaffenheit des Gegenstandes eine untergeordnete Gewichtung ein, er konnte aber als strenger Formenrichter seine klassizisti­sche Position eher mit dem Intellekt als mit der ideellen Qualität der „Empfindung“ eines Kunstgegenstandes verbinden. Winckelmann verlangt von der Kunst, daß sie neben dem Empfinden des Schönen in erster Linie den denkenden Geist bzw. den Verstand ansprechen muß. An den Kunstbetrachter gibt er die Anweisung:

„Unsere Betrachtung sollte anheben von den Wirkungen des Verstandes, als dem würdigsten Theile, auch der Schönheit, und von da heruntergehen auf die Ausführung.“ [97] 

Winckelmann setzt seine Erläuterungen über die Ausführung in der Weise fort:

„Da diese nicht das erste, das höchste Augenmerk seyn kann, so soll man über die Künsteleyen in derselben, als wie über Schönflecke, hinsehen: denn hier können die Künstler aus Tirol, welche das ganze Vaterunser erhoben auf einem Kirschkern geschnitten haben, allen den Rang streitig machen.“[98]

Es wird erkennbar, daß sich bei Winckelmann zwischen den Jahren 1755 und 1764 ein Wandel seiner Kunstanschauung andeutet. Von dem rein rationalistisch verstandes­orien­tierten Kunstbegriff wendet er sich in der Tendenz hin zum einem „Kunstempfinden“, wobei der verstandesmäßige „Gedanke“ immer noch die Oberhand behalten soll. Winckelmann nähert sich im Ansatz den beiden in Einklang zu bringenden Grundintentionen der Aufklä­rung in Deutschland.

 

-      Christian Ludwig von Hagedorn

Der Generaldirektor des sächsischen Galerien und Kunstakademien Christian Ludwig von Hagedorn war in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts mit seinen kunst­theoretischen Schriften bereits einem Publikum über die Grenzen Sachsens und Deutschlands bekannt.[99] 1762 veröffentlichte er seine „Betrachtungen über die Mahlerey“[100], die ab 1775 übersetzt auch einer französisch sprechenden Leserschaft zugänglich waren.[101] Hagedorn war Bruder des für seine bukolische Dichtungen bekannte Friedrich von Hagedorn (1708-1754), der mit Ewald von Kleist (1715-1759) zu den bedeutendsten Vertretern der empfindsamen Dichtkunst seiner Zeit zählte.

Christian Ludwig von Hagedorn war Diplomat in sächsisch kurfürstlichen Diensten, bevor er als Kunstschriftsteller und Leiter des Galeriewesens in das Dresdener Kunstleben eingriff. [102] Nicht unbeeinflußt von seinem Bruder und der zeitgenössischen Strömung der Literatur, verfaßte Ludwig von Hagedorn seine kunsttheoretischen Schriften und kann deshalb auch als einer der Hauptrepräsentanten des „sentimentalen Klassizismus“ bezeichnet werden.[103] Indem Hagedorn, selbst den auf Horaz (65-8 v. Chr.) zurückgehenden Grund­satz „ut pictura poesis“ in seiner Schrift formuliert[104] und somit eine Begrifflichkeit aus der Dramentheorie gebraucht, rückt er seine Schriften in den Kontext der Literatur­geschichte. Winckelmann hatte die Kunst dem Verstand zugewiesen, Baumgarten, der die Kunst vom Verstand emanzi­pierte, verwies sie an die Sinnlichkeit.[105] Die Bedeutung der „Cognito sensitiva“- sinnliche Erkenntnis-[106] war für ihn die Verbindung von Kunst und Moral, die eine sittliche Voll­kommenheit der Menschheit zum Ziel hat. Von Baumgarten inspiriert, bezieht sich auch Hagedorn bei seiner Definition der Vollkommenheit in der Malerei auf die Fähigkeit des „sinnlichen Ausdrucks“ und zitiert dabei Baumgartens Gedicht: „Sensitiua oratio perfecta“.[107] Hagedorn mißt der Ausführung eines Gegenstandes ebenfalls keine nennens­werte Bedeutung bei, vielmehr geht er davon aus, daß der Beobachter bei der Kunstbe­trachtung alle künstlerischen Kunstgriffe vergißt und „er unterhält sich nur mit den vorge­stellten Gegenständen. Die damit verbundene Rührung ist das höchste Ziel dieser ange­nehmen Kunst“[108]. Daraus ergibt sich seine Nähe zur geistigen Richtung der „Empfindsamkeit“.[109] Hagedorn entwickelte in seinen Schriften eine Kunstanschauung, die dem damaligen Zeitgeschmack entsprach und richtetet sich an ein breites Publikum. Seine Kunstkritik war vornehmlich von Subjektivität und „Empfindung“ bestimmt. Somit kann Hagedorn als Antithese zu der von Winckelmann vorwiegend verstandesorientierten Kunst­betrachtung gesehen werden.

Dem Charakter einer „empfindsamen“ Ausdrucksweise entspricht auch Hagedorns literarische Form seiner „Betrachtungen der Mahlerey“ von 1762, als Brieffolge an einen fiktiven Freund (wie der „Werther“ etc.). Durch die Beschreibung einzelner Gemälde, die er zusätzlich zu den Erläuterungen der Kunstregeln als Belebung des Textes mit einbringt, soll dem Be­trachter die Einsicht in die Ordnung der „Maschine des Gemäldes“[110] erleichtert werden. Die Beschreibungen bedienen sich einer angemessenen Sprache, die den Anspruch erhebt, Kunst mit Kunst zu beschreiben. Durch diese sprachliche Form, die dem Leser zum Genuß bei der Betrachtung von Gemälden geben soll, war bereits ein wesentlicher Unterschied zu Winckelmanns Schriften gegeben. Hagedorn bringt seine sentimental ausgerichtete Grund­haltung bereits im Vorbericht seines zweibändigen Werkes deutlich zum Ausdruck und spricht sich gegen einen strengen akademischen Regelkanon aus. Als Repräsentant der Auf­klärung geht er davon aus, daß die Möglichkeit der Läuterung durch die Kunst nur möglich ist, wenn, wie bereits schon mehrfach angedeutet, Herz und Verstand gleichermaßen bei der Betrachtung eines Kunstwerkes angesprochen werden. Dennoch wertet er im Gegensatz zu Winckelmann die natürliche Fähigkeit zu empfinden höher als die Gelehrsamkeit:

 „Möchte dieser Versuch einer Verbindung auch witzige Köpfe unter den Gelehrten aufmuntern, die Theorie der schönen Künste mit der Erfahrung eines geübten Auges, und der Empfindung des mahlerischen Schönen zu ver­knüpfen! [...] Nur schade, daß Grundsätze nicht das Vermögen geben, zu emp­finden [...] Empfinden?--Dieses ist vielleicht das bescheidene Los der eigent­lichen Gelehrsamkeit ? - Ich wollte wünschen, daß die Empfindung niemals ersticket hätte. Vereinbaret dienen sich beyde einander zur Ausschmückung. Bey Beobachtung der Gemählde ist der mit dem wesentlichen der Kunst beschäftigte Verstand insgeheim der wahre Vertraute des Herzens.“[111]

In dem zurückliegenden Kapitel wurde das Kunstverständnis der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ausführlich dargestellt. Es konnte gezeigt werden, wie aus der Ästhetik einer emotionalen Kunstbetrachtung eine Ethik wurde. Somit konnte die Kunst weitgehend frei von jeglichem stilistischen Zwang sein. Kunstbetrachtung wurde zum subjektiven Kunsterlebnis. Kunstschaffen wurde ebenso zum individuellen Schöpfungs­akt unter dem Primat einer auf sanfte Empfindung angelegten Kunst und einer damit verbundenen moralischen Zweckdienlichkeit. Diesen Vorgaben unterlag das Kunst­schaffen Oesers, das im folgenden Kapitel eingehend dargestellt werden soll.


 

[1] Krüger, Renate, Das Zeitalter der Empfindsamkeit, Leipzig, 1972

[2] Miller, 1968, S. 37

[3] Hansen, 1990, S. 9

[4] Schmidt, Paul Ferdinand, Der Pseudoklassizismus des 18. Jahrhunderts; in: Monatshefte für Kunstwissenschaft, VIII. Jhg., Leipzig, 1915, S. 372

[5] Hohendahl, 1977, S. 1

[6] Krüger, 1972, S. 9

[7] Christian Fürchtegott Gellert gilt mit seinen „Fabeln“ als der wohl meistgelesene Dichter des 18. Jahrhunderts vor Goethe. Als Volkserzieher, der mit Hilfe von Literatur einem sich formierenden Bürgertum moralisch-soziale Leitlinien vermittelt, wirkt er gemeinschaftsstiftend. Zugleich hat er durch seine ungemeine Breitenwirkung entscheidend zur Herausbildung eines allgemeinen Lesepublikums beigetragen. In seiner sozial- und kulturgeschichtlichen Bedeutung ist er der erste Autor, der in seinem Werk das bürgerliche Sujet in den Mittelpunkt stellt, indem er bürgerliches Handeln und Empfinden als neue moralische Leitlinien im Alltag präsentiert.

[8] Sternes, Laurence, A sentimental journey through France and Italy by Yorick. A new ed., London, 1780

[9] Sauder, Bd. I, 1974, S. 56, S. 234

[10] Das rein theoretisch und nach mathematischen Regeln entwickelte philosphische Denksystem Christian Wolffs (1679-1754) wurde im Laufe seiner Entwicklung immer unverständlicher und erzielte kaum noch begreiflich und anwendbare Ergebnisse. Gerade aber die englische „Moral-Sense-Philosophie“ galt bei vielen Zeitgenossen in Deutschland als eine fortschrittliche Anschauung und brauchbar für die Gestaltung einer neuen gesellschaftlichen Lebenswirklichkeit, die vornehmlich bei den Popularphilosophen und Literaten aus der Ablehnung der reinen Schulphilosophie auf großes Interesse stieß und mit ihnen zu ihrer Verbreitung führte; Bödeker, Hans Erich, Von der „Magd der Theologie zur Leitwissenschaft“, Vorüberlegungen zu einer Geschichte der Philosophie des 18. Jahrhunderts; in: Das 18. Jahrhundert; Popularphilosophie im 18. Jahrhundert, Jhg. 14, H. 1, Wolfenbüttel, 1990, S. 27

[11] Smith, Adam, Theorie der sittliche Gefühle, übers. u. hrsg. von, Kosegarten, Ludwig Theobul, Leipzig, 1996

[12] Shaftesbury, Anthony A. Earl. of, Characteristics of men, manners, opinions, times: With an introduction by Stanley Grean, Hrsg. John M. Robertson, 2 Bde. [in 1 Bd.], Indianapolis, 1964

[13] Hutcheson, Francis, An inquiry into the original of our ideas of beauty and virtue: in two treatises, London, 17384, Reprint Farnborough, 1969

[14] Hohendahl, 1977, S. 8ff.; Kemper, 1997, S. 2f.

[15] Lammel, Gisold, Deutsche Malerei des Klassizismus, Leipzig, 1986, S. 56

[16] Doktor, 1975, S. 26. Seit dem Erscheinen von Gellerts Roman „Das Leben der schwedischen Gräfin G“ (1747/48) spricht die Forschung von empfindsamen-didaktischen Roman; Doktor, 1975, S. 260

[17] Empfindsamkeit, theoretische und kritische Texte, Hrsg. Doktor, Wolfgang; Sauder, Gerhard, Stuttgart, 1976, S. 213

[18] Lessing schreibt in einer Empfehlung an J. J. Bode wie der Titel „Sentimental Journey“ zu übersetzen sei: „Es kömmt darauf an, Wort für Wort zu übersetzen; nicht eines durch mehrere zu umschreiben. Bemerken Sie sodann, daß „sentimental“ ein neues Wort ist. Was es Sternen erlaubt, sich ein neues Wort zu bilden: so muß es eben darum auch seinem Übersetzer erlaubt sein. Die Engländer hatten gar kein Adjektivum von „sentiment“: wir haben von Empfindung mehr als eines. Empfindlich, empfindbar, empfindungsreich; aber diese sagen alle etwas anders. Wagen Sie, empfindsam! Wenn eine mühsame Reise eine Reise heißt, bei der viel Mühe ist, so kann ja solch eine empfindsame Reise eine Reise heißen, bei der viel Empfindung war. Ich will nicht sagen, daß Sie die Analogie ganz auf Ihrer Seite haben dürften. Aber was die Leser vors erste bei dem Worte noch nicht denken, mögen sie sich nach und nach dabei zu denken gewöhnen.“, zit. nach: Miller, 1968, S. 30; Anm. 42: Der zitierte Briefpassus wurde von J. J. Bode im Vorbericht zu seiner Übersetzung von Sternes „Sentimental Journey“ 1768 wörtlich angeführt und ist sonst nicht überliefert. Miller zitiert nach Gotthold Ephraim Lessing: „Gesammelte Werke“, Hrsg. Paul Rilla, Berlin Bd. 9, 1954, S. 282

[19] Doktor/Sauder, 1976, S. 211

[20] zit. nach: Miller, 1968, S. 30f.

[21] Campe, Johann Heinrich, „Wörterbuch der deutschen Sprache“, Bd. 1, Braunschweig, 1807/1811, S. 902

[22] Burke, Edmund, Philosophische Untersuchung über den Ursprung unserer Ideen vom Erhabenen und Schönen (1757); übers. v. Bassenge, Friedrich, neu eingeleitet und hrsg. von Strube, Werner, Hamburg, 19892, S. 79ff.

[23] Burke, (Nachdr.),19892, S. 79ff.

[24] Doktor/Sauder, 1973, S. 203; Sauder stellt allerdings bedauernd fest, daß es für das deutsche Bürgertum der Aufklärung immer noch keine ausreichend differenzierende Darstellung gibt, die eine anwendbare Definition des Begriffs Bürgertum zuläßt; Sauder, Bd. I, 1974, S. 35. Hohendahl definiert den im Zusammenhang mit der Empfindsamkeit gesehenen Personenkreis aus dem Bürgertum als „nichtaristokratische Intelligenz“; Hohendahl, 1977, S. 12.

[25] Hansen, 1990, S. 11

[26] Rasch, 1936, S. 82. Elias sieht die Emanzipation des „Gefühls“ innerhalb einer höfischen Gesellschaft als ein Versuch zur Emanzipation des Individuums, der durch einen gesellschaftlichen Druck ausgelöst wird. Elias; 19926, S. 171. Allen Höfen mit ihren Künstlern voran, wiesen ähnliche Strukturen auf: der Musenhof zu Weimar (Hofmaler Johann Friedrich Löber (1708?-1772), Johann Ernst Heinsius (1740-1812), Georg Melchior Kraus (1737-1806), Adam Friedrich Oeser (1717-1799) ), die zahlreichen kleinen thüringischen Höfe wie Meiningen, Dessau, Hildburghausen (Pastellmaler Gottlieb Friedrich Bach (1717-1785), Rudolstadt; Hofmaler Fr. Wilh. Chr. Morgenstern (1736-1798), Gotha; Porträtmaler Johann Jonas Michael (?-1791) oder die „Empfindsamen“ am Hof zu Darmstadt.)

[27] Hohendahl, Peter Uwe, Empfindsamkeit und gesellschaftliches Bewußtsein. Zur Soziologie des empfindsamen Romans am Beispiel von La Vie de Marianne, Clarissa, Fräulein von Sternheim und Werther; in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft, Hrsg. Martini, Fritz; Müller-Seidel, Walter; Zeller, Bernhard, Stuttgart, 1972 (XVI), S. 205

[28] Balet, E.; Gerhard, E., Die Verbürgerlichung der Kunst, Literatur und Musik im 18. Jahrhundert, Dresden, 1979, S. 153

[29] Elias, 19926, S. 171

[30] Dies belegt auch Oeser bei seiner Charakterisierung der Einwohner der Stadt Mannheim, die wohl auch für weite Teile der Gesellschaft in Deutschland und ganz speziell auch für Weimar zutraf: „In Mannheim sind die Menschen, von der besten Art, der Adel und die Bürger haben einen zwanglosen Thon der nicht besser zu wünschen ist.“ Brief Oesers vom 9. Oktober 1780, o. O., an Tochter Friederike, UBL, Kestner ICI 648

[31] Doktor/Sauder, 1976, S. 209, S. 203

[32] Hansen, 1990, S. 9

[33] Hohendahl, 1977, S. 13

[34] Hohendahl, 1977, S. 11

[35] Franke, 1979, S. 70. Die Selbstbewußtwerdung über das Fühlen definiert Pikulik folgender­maßen: „Das empfindsame Fühlen ist als Reflexion des Fühlens auch ein Fühlen des Fühlens, insofern das Bewußtsein zu fühlen, sich selbst als Gefühl äußert.“; Pikulik, Lothar, „Bürgerliches Trauerspiel“ und Empfindsamkeit, Köln, Graz, 1966, S. 79; Balet/Gerhard, 1979, S. 273ff.

[36] Doktor/Sauder, 1976, S. 203

[37] Bachmann-Medick, Doris, Die ästhetische Ordnung des Handelns, Popularphilosophie des 18. Jahrhunderts, Stuttgart, 1989, S. 32ff.

[38] Bachmann-Medick, 1989, S. 57

[39] Hohendahl, 1977, S. 6, Doktor/Sauder, 1976, S. 199

[40] Der Magdeburger Theologe Karl Daniel Küster (1725-1798) schrieb 1773 in seinem „Sittlichen Erziehungslexicon“ im Artikel „Empfindsamkeit“: „Der Ausdruck: ein empfindsamer Mensch, hat in der deutschen Sprache eine sehr edle Bedeutung gewonnen. Es bezeichnet: die vortreffliche und zärtliche Beschaffenheit des Verstandes, des Herzens und der Sinne, durch welche ein Mensch geschwinde und starke Einsichten von seinen Pflichten bekömmet, und einen würksamen Trieb fühlet, Gutes zu thun. Je feiner die Nerven der Seele und des Cörpers sind, je richtiger sie gespannet worden, desto geschäftiger, und nützlicher arbeitete er; und desto grösser ist die Erndte des Vergnügens, welches er geniesset, wenn er nicht nur gerecht, sondern auch wohlwolend, oder gar wohltätig handeln kann. Solche empfindsame Fürsten und Princeßinnen, solche empfindsamen Minister, Helden, Rechtsgelehrte, Prediger, Ärzte, Schulmänner, Bürger und Landleute zu bilden, ist das angenehme und wichtige Geschäfte eines jeden selbst empfindsamen Erziehers.“; Küster, Karl Daniel, Sittliches Erziehungs-Lexicon [...], 1. Probe, Magdeburg, 1773,
S. 47ff.

[41] 1778 schreiben der Schweizer Prediger Johann Jacob Hottinger (1750-1819) und Johann Rudolf Sulzer (geb. 1759): „Aufklärung bringt Kälte, sagt der eine - und Gefühlflamme zeugt Schwärmerey, sagt der Andre, und Beyde sagen wahr und falsch!- wahr! Wenn sie Aufklärung und Gefühl isolieren, jedes, vom Andern unabhängig, allein bebauen, und ihren wechselseitigen Einfluß vernichten oder auch nur hemmen; - falsch ! wenn sie Aufklärung des Geistes und Erfahrung des Gefühls gegenseitig verbinden, beyde in Einklang stimmen und durch einander erweitern, festen, reinigen“; Hottinger, Johann Jacob; Sulzer, Johann Rudolf, Brelocken an´s Allerley der Groß- und Kleinmänner, Leipzig, 1778, Nr. 12, S. 30f.

[42] Doktor, 1975, S. 45, S. 85

[43] Sauder, 1974, Bd. I, S. 234, Sauder/Doktor, 1976, S. 203, S. 211

[44] Sauder, 1974, Bd. I, Einleitung, S. XX

[45] Doktor/Sauder, 1976, S. 199, S. 210

[46] s. Eberhard, Johann August, Allgemeine Theorie des Denkens und Empfindens, Berlin, 1806. Um dieses Anliegen ging es auch den beiden bereits zitierten Schweizern Johann Jacob Hottinger und Johann Rudolf Sulzer, die in ihren „Brelocken“ schreiben: „Daß das Gefühl Resultat ist der Vernunft, die gesammelt, geprüft, verglichen, gesichtet und eingefügt hat die Empfindungen all´, die der gleichen oder gleichartigen Gegenstände, unter verschiedenen Gesichtspunkten deutlich oder dunkel perzipirt, in Geist und Herz erweckt und eingeflammt hatten. Daß es mithin nur da schneller Verstand heißen kann, wo der neue Gegenstand, der auf daßelbe einwirkt, analogische Verhältniße hat mit den Gegenständen, die durch Vernunft perzipiert und in Zusammenhang gebracht worden waren. Daß Zusammenhang und Harmonie des Gefühls mehrerer Menschen und Völker nur da statt findet, wo die Vernunft, durch gleiche Umstände, auch gleichen Schwung bekömmt, und stufenweise den gleichen Aufklärungsgang wandelt, - [...]. Daß also das Gefühl ohne Vernunft ein Unding ist, dieser in allen Absichten untergeordnet seyn, und von ihr Leben, Nahrung, Ausdehnung, Stärke, Wirksamkeit, Lenkung und sichern Gang erhalten muß.“ Hottinger, Johann Jacob; Sulzer, Johann Rudolf, Brelocken an´s Allerley der Groß- und Kleinmänner, Leipzig, 1778, Nr. 5, S. 153f. [Brelocken: frz. „la breloque“-- dt. Anhänger, kleiner Schmuck]; Kemper, 1997, S. 3

[47] Platner, Ernst, Philosophische Aphorismen nebst einigen Anleitungen zur philosophischen Geschichte, T. 1, neu, durchaus umgearb. Ausg., Leipzig, 1784, § 483, S. 147f., s. auch Sulzer/Hottinger, 1778, Nr. 6,7, S. 145-157

[48] zit. nach: Doktor, 1975, S. 226; Gellert gilt als einer der literarischen Protagonisten der neuen „Gefühlskultur“ der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. An Goethes Urteil über den Dichter wird seine geänderte Einstellung an der Empfindsamkeit deutlich. Goethe bezeichnete Gellert, nachdem er dessen Vorlesungen in Leipzig gehört hatte, als „das Fundament der deutschen sittlichen Kultur“. Nach Gellerts Tod schreibt Goethe 1772 in den „Frankfurter gelehrte Anzeigen“. „Er war nichts anderes als ein bel esprit, ein brauchbarer Kopf; allein muß man ihm daraus ein Verbrechen machen und sich wundern, wenn der gemeine Haufen nur Augen und Ohren für derlei Schriftsteller hat ? Nicht allein bei uns, sondern in allen Ländern wird die Anzahl der denkenden Menschen, der wahren Gläubige immer eine unsichtbare Kirche bleiben.“; zit. nach: Gellert, Christian, Fürchtegott, Sämtliche Fabeln und Erzählungen, Geistliche Oden und Lieder, Hrsg. Klinkhardt, Herbert, München, 1965, S. 320

[49] So heißt es im 5.Akt: „Die Leiden des jungen Werthers! - Armer Werther!...Ihr Kinder, da sei Gott vor, daß ihr in das Zeug nur einen Blick tun solltet...es ist wahrlich zu eurem Besten. Nur ins Feuer damit!“. Das Stück wurde zuerst unter dem Titel “Die Empfindsamen, oder die geflickte Braut“ angelegt und am 10. Januar 1778 in Weimar uraufgeführt. Für den Druck 1787 wurde noch ein weiteres Stück „Proserpina“ hinzugefügt; zit. nach: Doktor, 1975, S. 249; Krüger, 1972,
S. 186f.

[50] Hohendahl, 1977, S. 1

[51] Hamann, Richard, Die deutsche Malerei vom 18. bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts, Leipzig, Berlin, 1925, S. 16

[52] Einem, Herbert v., Deutsche Malerei des Klassizismus und der Romantik, 1760 bis 1840, München, 1978, S. 20

[53] Einem, 1978, S. 20f.

[54] Schmid, 1915, S. 372

[55] Schmid, 1915, S. 375

[56] Hamann, 1925, S. 60f., S. 75

[57] Einem, 1978, S. 27f, S. 32f.; Lammel, 1986, S. 11

[58] Hamann, 1925, S. 16; Einem, 1978, S. 20

[59] Börsch-Supan, Helmut, Die deutsche Malerei von Anton Graff bis Hans von Marées, München, 1988, S. 108

[60] Hamann, 1925, S. 16

[61] Einem, 1978, S. 13f.

[62] Schmidt, 1915, S. 373

[63] Hamann, 1925, S. 60

[64] Miller, 1968, S. 36f.

[65] Krüger, 1972, S. 9

[66] Doktor/Sauder, 1976, S. 208

[67] Balet/Gerhard, 1779, S. 279

[68] Baumgarten, Alexander Gottlieb, Aesthetica, Frankfurt, 1750, Nachdruck, Hildesheim, 1961

[69] Franke, Ursula, Kunst als Erkenntnis, Die Rolle der Sinnlichkeit in der Ästhetik des Alexander Gottlieb Baumgarten, Wiesbaden, 1972, S. 4ff.

[70] Bernhard, Klaus, Idylle: Theorie, Geschichte, Darstellung in der Malerei, 1750-1850, Köln, Wien, 1977, S. 75

[71] Nivelle, Armand, Kunst- und Dichtungstheorien zwischen Aufklärung und Klassik, Berlin, 1960, S. 7

[72] Balet/Gerhard, 1979, S. 276

[73] Franke, 1972, S. 4

[74] Die Kritik der reinen Vernunft, 1781; Die Kritik der praktischen Vernunft, 1788; Die Kritik der Urteilskraft, 1790; Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, 1793; Die Metaphysik der Sitten, 1797, Franke, 1972, S. 5

[75] Eberhard, Johann August, Allgemeine Theorie des Denkens und Empfindens, Berlin, 1806,
S. 9f.

[76] Daß rationales Denken und subjektives Empfinden eine sich gegenseitig ergänzende Verbindung eingehen müssen, fordert Friedrich Leopold Graf zu Stolberg (1750-1819) auch für die Wissenschaft. In seinem Aufsatz „Über die Fülle des Herzens“ von 1777 heißt es: „Wer wollte den Wert der Wissenschaften verkennen? Sie nähren, sie bilden den Geist. Aber die meisten Gelehrten sind zufrieden das zu wissen, was ihnen nötig zu sein scheint, und wenn sie ja in einem Überfluß von Erkenntnissen prassen, so tun sie es entweder aus Eitelkeit, oder aus einer Art von Liebhaberei, bei welcher das Herz kalt bleibt [...], weiter fährt er fort „Ohne den warmen Anteil des Herzens sind die Wissenschaften fast nichts.“; zit. nach: Karthaus, Ulrich, Sturm und Drang und Empfindsamkeit; in: Die deutsche Literatur in Text und Darstellung, Hrsg. Best, Otto F.; Schmitt, Hans-Jürgen, Bd. 6, Stuttgart, 1979, S. 76f.

[77] Heydenreich, Karl Heinrich, System der Ästhetik, Bd. 1, Leipzig 1790, S. 43

[78] Heydenreich, 1790, S. 47

[79] zit. nach: Balet/Gerhard, 1979, S. 267

[80] zit. nach: Balet/Gerhard, 1979, S. 267

[81] Bachmann-Medick, 1989, S. 65

[82] Zur Subjektivierung der Ästhetik durch die Kantische Kritik s. Gadamer, Hans-Georg, Wahrheit und Methode, Tübingen, 19754, S. 39ff.. Formen der Subjektivität werden im Verstand, der Reflexion für theoretische Philosophie, Moralität, Gewissen für die praktische Philosophie, sowie als Gefühl, Empfindung, Herz des religiösen und ästhetischen Subjekts gesehen.

[83] [in der Fußnote zu Empfindsamkeit differenziert Heydenreich den Begriff zu dem der Empfindeley.]: „Es macht den deutschen Köpfen keine Ehre, wenn sie das Wort Empfindsamkeit spottweise brauchen. Wie selbstgefällig auch viele sich bey einem solchen Spiele ihrer Launen nehmen können, so dürfen sie doch dem Denker nicht wehren, über die grobe Ignoranz höhnisch oder mitleidig zu lächeln, die allein der Grund der Herabwürdigung eines so edlen, unersetzbaren Ausdruckes ist. Ist wahre Empfindsamkeit nicht die schönste Mitgabe der Natur ? Und haben wir nicht, um die falsche auszudrücken, das passende Wort Empfindeley? Aber freylich, um wahre und falsche Empfindsamkeit zu unterscheiden, dazu gehört  Entwicklung der Begriffe, schwerer ist, als sans rine et sans raison zu spotten.- Auch von dieser Seite muß sich der Deutsche vor dem Franzosen schämen. Wie heilig ist diesem sein Wort sensibilite´! Und wie bedächtig setzt er, wenn er spottet, das Wörtlein fausse hinzu!“; Heydenreich, 1790, S. 223

[84] Sauder, Bd. I, 1974, S. 18

[85] Hamann, 1925, S. 75f.

[86] Hohendahl, 1972, S. 205

[87] Heydenreich, 1790, S. 47f.

[88] Für sämtliche Zitate wird die zweite Auflage im Nachdruck verwendet: Sulzer, Johann Georg, „Allgemeine Theorie der schönen Künste“, Leipzig, 1792-17942, (Nachdr., Hildesheim, Bd. 1-4, 1967-1970). Die erste Auflage erschien in Leipzig zwischen den Jahren 1771-74 in vier Bänden. Oeser, der mit Sulzer befreundet war (s. Kreuchauf, Franz Wilhelm, Gellerts Monument 1772; in: Wustmann, Gustav, Franz Wilhelm Kreuchaufs Schriften zur Leipziger Kunst 1768-1782, Leipzig, 1899, S. 58) konnte sich mit Sicherheit nicht dem Einfluß des Popularphilosophen entziehen.

[89] Sulzer, Bd. 2, 17922, S. 54; Über die Aufgabe des Schönen und der Kunst schreibt er in der Vorrede zu seiner ersten Ausgabe: „Zur Wartung des Verstandes hat man überall große und kostbare Anstalten gemacht; desto mehr aber hat man die wahre Pflege des sittliche Gefühles versäumet. Aus einem öfters wiederholten Genuß des Vergnügens an dem Schönen und Guten erwächst die Begierde nach demselben; und aus dem widrigen Eindruck, den das Häßliche und Böse auf uns macht, entsteht der Widerwillen gegen alles, was der sittlichen Ordnung entgegen ist. Durch diese Begierde und diese Abneigung wird der Mensch zu der edlen Würksamkeit gereizet, die unabläßig für die Beförderung des Guten und Hemmung des Bösen arbeitet. Diese heilsamen Würkungen können die schönen Künste haben, deren eigentliches Geschäft es ist, ein lebhaftes Gefühl für das Schöne und Gute, und eine starke Abneigung gegen das Häßliche und Böse zu erwecken.“; Sulzer, Bd. 1, Vorrede zu der ersten Ausgabe, S. XIII

[90] Sulzer, Bd. 2, 17922, S. 53

[91] Sulzer, Bd. 2, 17922, S. 56

[92] Sulzer, Bd. 2, 17922, S. 53f.

[93] Sulzer, Bd. 1, 17922, S 100

[94] zit. nach: Soerensen, Bengt Algot, Symbol und Symbolismus in den ästhetischen Theorien des 18. Jahrhunderts und der deutschen Romantik, Kopenhagen, 1963, S. 48f

[95] Winckelmann, Johann Joachim, Abhandlung von der Fähigkeit der Empfindung des Schönen in der Kunst und dem Unterricht in derselben, Dresden, 1763. Im Gegensatz zu Winckelmann ist bei Baumgarten die Kunst unabhängig vom Verstand erfahrbar. Für den Philosophen ist Erkenntnis ausschließlich aus der Sinnlichkeit möglich; vgl. Franke, 1972, S. 101.

[96] Winckelmann, 1763, S. 30

[97] Winckelmann, 1763, S. 30

[98] Winckelmann, 1763, S. 31

[99] 1755 veröffentlichte Hagedorn das Werk „Lettre à un amateur de la peinture avec des Eclairissements historiques sur un cabinet et les Auteurs des Tableaux, qui le composent, Ouvrage entremêle´ de Digressions sur la vie de plusieurs Peintres modernes, Dresden, 1755.

[100] Hagedorn, Christian Ludwig v., Betrachtungen über die Mahlerey, Dresden, 1762. Sulzer nimmt in über 50 Artikeln seiner Enzyklopädie Bezug auf die von Hagedorn verfaßte Schrift, s. Cremer, Claudia Susannah, Hagedorns Geschmack, Studien zur Kunstkennerschaft in Deutschland im 18.Jahrhundert, Diss., Bonn, 1989, S. 288

[101] „Neue Bibliothek...“, Bd. XVIII, 2. Stück, Leipzig, S. 269f.

[102] Schöbel, Johannes, Die frühe Geschichte der Leipziger Kunstakademie unter Berücksichtigung der Meißner Zeichenschule und des Universitätszeichenmeisters, Dipl-Arbeit, Leipzig, 1965, S. 11; Stübel Moritz, Christian Ludwig von Hagedorn, Ein Diplomat und Sammler des 18. Jahrhunderts, Leipzig, 1912, S. 30f.

[103] Cremer, 1989, S. 113f., S. 193-198, 1989; Keller, Ina Maria, Studien zu den deutschen Rembrandtnachahmungen des 18. Jahrhunderts, (1971), Berlin, 1981, S. 107-113

[104] Hagedorn, Bd. 1, 1762, S. 160. Ebenso wie Hagedorn beruft sich Baumgarten bei seiner Ästhetiktheorie auf Horaz; Franke, 1972, S. 74

[105] Balet/Gerhard, 1979, S. 276

[106] Nivelle, 1960, S. 18

[107] Hagedorn, 1762, Bd. I, S. 148

[108] Hagedorn, 1762, Bd. I, S. 149

[109] Michel, Petra, Christian Wilhelm Ernst Dietrich (1712-1774) und die Problematik des Eklektizismus, München, 1984, S. 65; Cremer, 1989, S. 286f.; Keller, 1981, S. 90f., S. 101-104

[110] Hagedorn, 1762, Bd. I, S. VIII

[111] Hagedorn, 1762, Bd. I, S. XIIIf.. „Nun so erreget das Werk der Kunst nächst den angenehmen Empfindungen, auch solche die den Menschen als Menschen besiegen, und zugleich das Herz lenken und bessern. Dieses ist der erhabendste Verbindung des Vergnügens und des Nutzens. Eine solche Anwendung der Künste ist der Würde unserer eigenen Bestimmung und höhern Verhältnisse angemessen“; ebd. Hagedorn, 1762, Bd. I, S. 311

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