Eine Untersuchung, die die
Herkunft und die Geschichte der Empfindsamkeit als kunsthistorisches Phänomen
in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in ihrer gesamten Breite darlegt,
würde über den Rahmen der vorliegenden Arbeit hinausgehen. In einer
kulturhistorischen Gesamtschau wagte Krüger
erstmals in einer Übersicht den Versuch auf diese kurze Periode aufmerksam zu
machen und erprobte eine Anwendbarkeit des Begriffs auf die verschiedensten
Teilbereiche der bildenden Kunst, wobei es ihr nicht möglich war, sich in
Einzelheiten zu vertiefen. Nur in wenigen Abschnitten ihrer Arbeit kommt es zu
einer oberflächlichen Bezugnahme auf die theoretischen Vorgaben zu diesem
Phänomen.
Eine umfassende Untersuchung
kann nur im Zusammenhang einer allgemeinen Kulturgeschichte stattfinden. Um
tiefere Erkenntnisse zu diesem kulturhistorischen Phänomen speziell in
Deutschland zu gewinnen, wäre eine Gesamtschau der verschiedenen Disziplinen der
Philosophie, hier besonders der Popularphilosophie, der Religion und der
Theologie, der Pädagogik und der Medizin, der Musik wie der bildenden Kunst und
ihrer empfindsamen Strömungen wichtig, die dann zu einer objektivierten
Betrachtungsweise dieses kurzen Zeitabschnitts führte.
Leider steht diese bislang noch aus. Ein Grund mag darin liegen, da man der
Empfindsamkeit „keine in die Realität eingreifende Wirksamkeit zutraut“
und sie damit „unter Wert behandelt“,
obwohl sie durchaus mit eigenen Gesetzmäßigkeiten die
geistigen, literarischen und kulturellen Strömungen dieser Zeit durchdringt.
Der Oberbegriff des Zeitraums
ca. zwischen den Jahren 1750 und 1800 heißt „Aufklärung“. Ihn in einer weiteren
begrifflichen kunsthistorischen Differenzierung ausschließlich mit dem
Oberbegriff Rokoko zu belegen, wäre anachronistisch, von Protoklassizismus zu
sprechen noch verfrüht. Der vielfach verwendete Begriff Rokoko-Klassizimus,
stellt lediglich eine Behelfslösung dar und verdeutlicht die Problematik einer
Begriffszuordnung. Eine Möglichkeit um eine Annäherung an ein verständlicheres
Bild einer zu erforschenden Epoche zu gewinnen, besteht in einer zusätzlichen
Begriffserweiterung, die eine zusätzliche Differenzierung zuläßt. Besonders
sinnvoll scheint dies für Zeiträume, die als sogenannte „Achsenzeiten“
bezeichnet werden. In der vorliegenden Arbeit soll dies durch den Begriff der
„Empfindsamkeit“ erfolgen. Der Sinngehalt der „Empfindsamkeit“ ist als
kulturhistorisches Phänomen in seiner Bedeutung und als weitere Auffächerung
gegenüber dem Klassizismus oder der Aufklärung [dies gilt für sämtliche
Bereiche der Wissenschaft und Kunst] bislang kaum in seiner inneren Struktur
durchleuchtet und abgegrenzt.
Dies gilt es in den folgenden Kapiteln für die Kunstgeschichte am Beispiel Adam
Friedrich Oesers vorzunehmen.
Nach Krüger beginnt das
Zeitalter der Empfindsamkeit für die Kunstgeschichte in Deutschland ungefähr
Ende der 60er Jahre des 18. Jahrhunderts und erreicht seinen Höhepunkt Mitte der
siebziger Jahre und wirkt mit seinen Spätausläufern bis über das Jahr 1800
hinaus.
Sauder orientiert sich ebenfalls an einem Dreischritt. Erste vorbereitende
literarische Tendenzen der Empfindsamkeit sieht er bereits zwischen den Jahren
1740-50, die er an den Schriften Christian Fürchtegott Gellerts fest macht.
Der Höhepunkt wird mit den zahlreichen literarischen Nachahmungen von Laurence
Sternes (1713-1768) „Sentimental Journey“ (ab 1768),
den Romanen Samuel Richardsons (1689-1761), dem Erscheinen von Goethes
„Werther“ (1774) und Johann Martin Millers (1750-1814) „Siegwart“
(1776) erreicht. Höhepunkt und beginnende Kritik an der literarischen
Empfindsamkeit fallen in Deutschland fast zusammen. Erste kritische Stimmen
werden bereits 1773 laut,
womit das langsame Absterben dieser kurzen Epoche eingeläutet wird, deren Ende
endgültig zur Jahrhundertwende hin besiegelt ist.
Die Entstehung des literarischen
„empfindsamen“ Zeitalters hat seine philosophisch-ethischen Ursprünge in der
„Moral-Sense-Philosophie“
der englischen Autoren Anthony A. Earl of Shaftesbury (1621-1683), Francis
Hutcheson (1694-1746), David Hume (1711-1716) und Adam Smith (1723-1790) (Theory
of Moral Sentiments, 1759).
In erster Linie waren es die Schriften Shaftesburys (Characteristics of Men,
Manners Opinions, Times, 1711),
in denen dem Menschen eine natürliche Anlage von Mitgefühl, Liebe und
Zärtlichkeit bescheinigt wurde, die ihn zu einem freiwilligen moralischen
Handeln führt. Gleichfalls maß Hutcheson (Inquiry into Beauty and Virtute,
1725)
dem moralischen Sinn eine emotionale Qualität zu, die nicht auf Vernunft beruht,
sondern auf natürlichem Fühlen.
Solche in England verfaßten Erkenntnistheorien breiteten sich im 18. Jahrhundert
rasch über ganz Europa aus
und schlagen sich in Deutschland zeitversetzt zu allererst im bürgerlichen Drama
und empfindsamen Roman nieder. Größte Resonanz fanden dabei die verinnerlichten
moralischen Empfindungen und das sittlich Rührende aus den inzwischen ins
Deutsche übersetzten Romanen Richardsons und Sternes. Entwicklungsgeschichtlich
betrachtet, verlaufen die empfindsame Literaturepoche und die Epoche der
empfindsamen bildenden Kunst in Deutschland fast parallel, wobei die Literaten
Klopstock, Gellert,
Jacobi und Miller
in Deutschland den Boden für ein „moralisch-empfindsames und läuterndes Sehen“
bereitet haben.
Die erste Erwähnung des Begriffs
„empfindsam“ in Deutschland vermutet Norbert Miller um 1750. Den offiziellen
Siegeszug trat das Wort mit Gotthold Ephraim Lessings (1729-1781) Übersetzung
von Laurence Sternes „Sentimental Journey“ von 1768 an. Er übersetzte
das Beiwort des Titels „Sentimental...“ in Annahme einer eigenen
Wortschöpfung mit „empfindsam“.
Erst im Anschluß an Lessings Übersetzungsvorschlag etablierte sich der vorerst
noch als bedeutungslose Worthülse existierende Begriff im deutschen Wortschatz.
Die Literaturkritik verbindet mit Empfindsamkeit ab 1773 sogar eine neuartige
soziale Strömung. Die Empfindsamkeit tritt von nun an ins Bewußtsein des
bürgerlichen Lesepublikums und wurde zum Schlagwort einer zeitgenössischen
Diskussion, die am Ende des Jahrhunderts nur noch aus der Sicht des
Modecharakters gesehen wurde.
Sehr bald taucht das Wort
„Empfindsamkeit“ in Wörterbüchern auf und zählt damit zum allgemeinen
Sprachgebrauch. Die Enzyklopädien waren bestrebt, eine möglichst genaue
Beschreibung und Charakterisierung des Begriffs zu geben. So heißt es 1776 bei
Adelung im „Deutschen Wörterbuch“:
„Empfindsamkeit ist sonach die Fähigkeit, leicht zu sanften Empfindungen gerührt
zu werden.“
Johann Heinrich Campe (1746-1818) bestimmt den Begriff im
„Wörterbuch der deutschen Sprache“mit: „Fähigkeit und geneigt zu sanften
angenehmen Empfindungen, Fertigkeit beziehend, an theilnehmenden
Gemüthsbewegungen Vergnügen zu finden.“
Beide Eintragungen gehen davon
aus, daß es nicht erst die heftigen Reizungen der Seele sein dürfen, die den
Menschen zum Fühlen anregen. Campe nimmt bei seiner Beschreibung der Wirkung des
Mitleides deutlichen Bezug auf den englischen Theoretiker Edmund Burke
(1724-1804) und dessen Definition vom Begriff des „Erhabenen“ in seiner
Schrift „A Philosophical Enquiry into the Origin of our Ideas and the Sublime
and Beautiful“ (17571).
Burke schreibt über das Mitleid von der angenehmen Empfindung, die die
“Wirkungen der Sympathie bei den Nöten anderer“ auf den Menschen haben muß.
Er erklärt, daß das Mitleid nur auf Grund eines angenehmen Gefühls, das einen
beim Anblick eines Leidenden überkommt, entstehen kann. Sonst würde es weder
Anteilnahme und Barmherzigkeit geben. Denn, wäre laut Burke, der Anblick des
Leides anderer unangenehm, „so würden wir alle Personen und Orte aufs
sorgfältigste meiden, die eine solche Leidenschaft in uns erregen könnten,
[...].“
Die Sozialgeschichtsforschung
geht gemeinhin davon aus, daß die Empfindsamkeit als eine ausgesprochen
bürgerliche Erscheinung zu sehen ist, die in engem Zusammenhang mit der
bürgerlichen Emanzipation und Selbstbewußtwerdung in den europäischen Ländern
steht.
Hansen sieht die Empfindsamkeit ebenfalls als ein Zeichen für eine
gesamtgesellschaftliche Veränderung, frei von ideologischer Anschauung, die auf
mehrere Phasen verteilt, den feudalistischen Ständestaat durch eine bürgerliche
Gesellschaft ablöst. Für ihn stellt Empfindsamkeit eine rein bürgerliche
Mentalität dar.
Vielfach wird aber übersehen, daß sich auch weite Kreise des Adels dem Prozeß
der Verbürgerlichung anschlossen und die bürgerliche unzeremonielle, empfindsame
Gefühlskultur für sich adaptierten.
Demzufolge stellt Hohendahl fest, daß sich der sentimentale Individualismus in
einem gesellschaftlichen Niemandsland ansiedelt. Weder läßt sich die
Empfindsamkeit als typisch bürgerlich bzw. aristokratisch ausweisen, sondern
„an der Empfindsamkeit teilzuhaben bedeutete,
menschlich zu sein und nicht bürgerlich oder aristokratisch“.
Der Ausgangspunkt für die Überwindung von Standesunterschieden war für beide
Seiten der Humanismus.
Die beiden Tätigkeitsfelder Oesers, das bürgerliche Leipzig und der Weimarer
Hof, der in seiner Sonderstellung, laut Elias „in
mancher Hinsicht beinahe ein bürgerlicher Hof war“,
lagen sich nicht als Antipoden gegenüber, sondern wurden von den selben Idealen
getragen. In ihrer ursprünglichen Bedeutung drückte sich in der Empfindsamkeit
vor allem das Bedürfnis nach Natürlichkeit aus, das zu einer ungezwungenen
tugendhaften Lebensart führen sollte. Dies traf für den Adel gleichermaßen wie
für das Bürgertum zu
und machte es Oeser als Künstler möglich, zwischen Leipzig und Weimar eine
Mittlerrolle einzunehmen.
Die Empfindsamkeitstheorie
stimmt in den meisten europäischen Ländern überein, ihre Funktion allerdings
differiert. Bezeichnend für Deutschland ist, daß die Empfindsamkeit keine so
weitreichenden verändernden Auswirkungen auf die gesamtgesellschaftliche
Situation hat wie in anderen Ländern.
Daß darin eine so geringe gesellschaftliche Sprengkraft lag,
liegt nicht nur an den übermächtigen gesellschaftlichen Verhältnissen, sondern
auch am früh einsetzenden Umschwung ihrer Ausdrucksmöglichkeiten, sei es in der
Literatur oder Kunst, ins idyllische, sentimentalische, gefällige und
unverbindliche. Charakteristisch für die deutsche Empfindsamkeit war, daß
innerhalb der deutschen Intelligenz, anstatt sich einer weltzugewandten
Verinnerlichung anzuschließen, eine ausgeprägte weltabgewandte
Naturverbundenheit zu beobachten war,
die bereits die Romantik mit vorbereitete.
Für die gesamte Kulturgeschichte
im allgemeinen und die Kunst im besonderen wird eine Verbindung von ästhetischen
und sozialen Erscheinungen sichtbar. Die Empfindsamkeit des 18. Jahrhunderts war
ein Teilaspekt eines gesellschaftlichen Umbruchs, an dem auch die Kultur
beteiligt war. Die Hauptbedeutung liegt aber nicht darin, daß sie eindeutig
einer gesellschaftlichen Trägerschicht zugeordnet werden kann, sondern erstmals
die Möglichkeit einer Individualität zuließ.
In der Entdeckung des eigenen „Ichs“, liegt das Bestreben, die persönliche
Unselbständigkeit zu überwinden. Der Hallenser Philosoph Alexander Gottlieb
Baumgarten definierte seine Theorie vom „inneren Gefühl“ aus der eigenen
Selbstbewußtwerdung, die die Verfassung der Innerlichkeit anzeigt.
Somit ist die Empfindsamkeit als „Erfahrungsseelenlehre“ in ihrer
ursprünglichen reinen Bedeutung ein wichtiger Teil des gesamtgesellschaftlichen
Emanzipationsprozesses im allgemeinen und eines bürgerlichen im besonderen.
Die Popularphilosophie betrachtet die „Erfahrungsseelenkunde“ als Lehre einer
„Gefühlskunst“. Aus der allgemeinen Eigenschaft des Empfindens leitet sie die
Fähigkeit zu einem moralisch-sittlichen Handeln ab.
Gesellschaftlich wurde diese neue Erkenntnis relevant, weil sie ein Stück weit
auf der Basis von Toleranz und Verständnis soziale Schranken nivellieren konnte.
Entscheidend war nun nicht mehr der Geburtsstand, sondern Talent und
tugendhaftes Verhalten.
Empfindsamkeit und Tugendbegriffe sind nicht von einander zu trennen. Rationale
Überlegungen und sanfte Empfindungen müssen einander ergänzen. Die Aufklärer
bestehen auf einer Harmonie von Verstand und Gefühl.
Aus den Definitionen der Zeitgenossen wird ablesbar, daß sich die
Empfindsamkeit aus ihrem Selbstverständnis heraus im Rahmen einer übergreifenden
Aufklärungsbewegung etabliert.
Durch den Sentimentalismus wird neben dem Rationalismus der Aufklärung ein
weiterer Schwerpunkt gesetzt. Das Gefühl trat an die Seite des Verstandes.
Sensibilität, Zärtlichkeit waren Schlagworte dieser Bewegung, die sich auf das
eigene „Ich“ und das Gefühl konzentrierten. Sentiment bekam eine Aufgabe
zugewiesen, worin sich der Protest gegen eine Verabsolutierung des reinen
rationalistischen Prinzips der Aufklärung niederschlug.
Die Forschung der
Literaturgeschichte stellt fest, daß sich in den 90er Jahren der damals
führenden Literaturzeitschriften kaum noch Anfeindungen gegenüber der
Empfindsamkeit finden lassen.
Daraus wird gefolgert, daß die klassische Epoche der literarischen
Empfindsamkeit, die in den 40er Jahren ihren Anfang nahm und zu Beginn der 70er
ihren Höhepunkt hatte, endgültig zu Ende war. Ab der zweiten Hälfte der 70er
Jahre wurden die Forderungen nach einer Zusammengehörigkeit von Vernunft und
Gefühl immer weniger eingelöst. Der Empfindsamkeit wurde daraufhin zurecht der
Vorwurf einer „empfindelnden“ Modekrankheit gemacht.
Diesen Entwicklungsverlauf formuliert Sauder folgendermaßen:
„Die ästhetisch vermittelte
Empfindsamkeit ist Norm für die Handlungsweise des aufsteigenden Bürgertums.
Seine Perspektive wäre als Suche nach Vollkommenheit, Glück und Gemeinwohl zu
bestimmen. Die Empfindelei durchbricht diese Affektregulierung und verfällt als
neue Norm der Kritik der Aufklärung“
Die reine „Empfindelei“
opponiert ganz radikal gegen die rationalen vernunftgeleiteten Züge der
Aufklärung und widersetzt sich dem Streben, Ratio und Gefühl miteinander in
Einklang zu bringen. Aus dieser Intoleranz fällt die gesamte Epoche der
Empfindsamkeit (vor allem im 19. Jahrhundert) einer wenig differenzierten
Kulturkritik zum Opfer. Aufklärung und Empfindsamkeit wurden von nun an vielfach
als in Opposition zueinander stehend betrachtet
und dabei kaum die Tatsache berücksichtigt, daß es gerade den Ästhetikern,
Philosophen und Literaten der Aufklärung ein Anliegen war, ein Gleichgewicht
zwischen Kopf und Herz herzustellen.
Im 18. Jahrhundert wurde nicht die Empfindsamkeit selbst abgelehnt, sondern
ausschließlich das Auseinanderstreben von Gefühl und Vernunft wurde
beanstandet. Die zunehmende „Empfindelei“ und „Naturschwärmerei“ führten zu
einer Trivialisierung von Literatur und Kunst. Die weitere Entwicklung führte
zum Unterhaltungsroman und zum Kitsch. Über die Gegensätzlichkeit von
Schwärmerei und Aufklärung schreibt der Leipziger Popularphilosoph Ernst
Platner:
„Die Schwärmerey gewinnt in
jedem Volke und Zeitalter, in dem Maaße, in welchem sie zunimmt die Erschlaffung
der Seelen- und Nervenkräfte, und eine gewisse panische Furcht vor Philosophie
und Aufklärung.“
Einer der heftigsten Kritiker an
einem „empfindelnden“ Gemüt war Goethe. Dieser erkannte das Phänomen rechtzeitig
als eine epidemische Zeitkrankheit und distanzierte sich bereits 1773, ein Jahr
nach dem Erscheinen des „Werther“, in seinem „Götz von Berlichingen“
unmißverständlich von der „Empfindelei“, und läutet für sich die Epoche des
Sturm und Drang ein. Von nun an war die Natur nicht mehr inniges Refugium, die
Natur war nun die Urkraft emotionaler Ästhetik. Den Lenz läßt er in seinem Götz
sagen :
„daß handeln, handeln die Seel
der Welt sei, nicht genießen, nicht empfindeln, nicht spitzfindeln, daß wir
dadurch allein Gott ähnlich werden, der unaufhörlich handelt und unaufhörlich
an seinen Werken
[die Natur]
sich ergötzt.“
Goethes Rückkehr aus Italien
nach Weimar im Jahre 1788 besiegelte das Ende der Epoche der Empfindsamkeit und
wurde entscheidend für deren zukünftige Beurteilung. Das bereits 1777 als Satire
aufgeführte Stück „Triumph der Empfindsamkeit“ wurde zehn Jahre später
noch einmal umgearbeitet und 1787 in den Druck gegeben.
Wie sehr Goethe sich von seinem eigenen empfindsamen Vorleben distanziert
hatte, sollte nun nochmals einer breiten Öffentlichkeit bekannt gemacht werden.
So wurde im 5. Akt des Stücks zum Spott an der Empfindsamkeit und ihrer
Naturschwärmerei aus dem Inneren einer Puppe deren Füllung herausgezogen.
Darunter befanden sich neben Millers „Siegwart“ und zahlreichen anderen
empfindsamen Büchern und Gegenständen auch sein eigener „Werther“, die
ins Feuer geworfen wurden.
Die Empfindsamkeit wurde bereits
als eine Phase, die auf verschiedene Bereiche der Kulturgeschichte angewendet
werden kann, beschrieben. Die Kritik fand nicht nur an der Literatur statt,
sondern zahlreiche andere geistesgeschichtliche Disziplinen waren ebenfalls
davon betroffen. Dies galt für die Anthropologie, die Psychologie, die Ethik,
die Moralistik ebenso, wie für die Kunst. Die Hinwendung zu einer Gefühlskunst
kann nicht ohne die Einflußnahme der sentimentalen Literatur gesehen werden.
Auffällig sind dabei auch die Analogien im zeitlichen Verlauf von Aufstieg und
Fall beider Disziplinen.
Der Begriff „Empfindsamkeit“
bildet in der Kunstgeschichte keinen eigenständigen Epochenbegriff, wie der des
Barock, des Rokoko oder des Klassizismus. Im Gegensatz zur Literaturgeschichte
ist der Ausdruck in der bildenden Kunst keine gewöhnliche Größe.
Gesamtdarstellungen zur Kunst des 18. Jahrhunderts tun sich schwer, besonders
für die zweite Hälfte, einen einheitlichen Epochen- bzw. Stilbegriff zu finden.
Während bei den einen noch die Rede von Rokoko
und klassizistischem Barock
ist, wird bei anderen von akademischem Klassizismus,
Rokoko-Klassizimus,
Pseudoklassizismus,
empfindsamem Klassizismus
oder Sturm und Drang
gesprochen. Der Barock, Rokoko und Klassizismus bedürfen also einer
begriffliche Erweiterung (bzw. Eingrenzung) mit den attributiv verwendeten
Eigenschaften „klassizistisch“ „akademisch“, „pseudo“ oder „empfindsam“. Die
kennzeichnenden Erweiterungen weisen allesamt auf eine Abmilderung eines
übergeordneten Stilbegriffs in seiner reinen Ausprägung hin. Dies gilt für den
sich allmählich auflösenden Stil vergangener Zeiten gleichermaßen wie für die
noch unterentwickelte Reinform des zukünftigen Stils eines Protoklassizismus.
Paradoxerweise wurde nicht sofort ein neuer Stil geschaffen, sondern, man
übernahm, um den Rokoko zu überwinden, vorerst noch dessen eigene Stilmerkmale,
die sich dann im Laufe der Zeit immer mehr aufzulösen begannen. Teilaspekte des
Übergangs vom Rokoko zum Klassizismus sind die Nebenströmungen: die
Empfindsamkeit, der Sturm und Drang und die Geniezeit. An den verschiedenen
klassizistischen Unterströmungen werden so „die
Eigentümlichkeiten von Lähmung und Fortschritt deutlich, die der Klassizismus in
der bildenden Kunst mit sich brachte“.
Die Begriffsvielfalt
veranschaulicht, in welch verworrener Umbruchsphase sich die Zeit zwischen den
Jahren von ca. 1750-1800 befand, die es erschwert, diese Jahrhunderthälfte
(falls dies überhaupt einen Sinn macht) stilistisch einzuordnen. Gerade aber in
den unterschiedlichen, sich gegenseitig bedingenden Strömungen liegt der Reiz
dieser Zeit. Allen o. g. „Klassizismen“ liegt eine gemeinsame Ausgangsbasis zu
Grunde, nämlich die Überwindung des Rokoko
bzw. der Bruch mit dem Barock.
Die völlige Loslösung von diesen beiden Stilformen war mit dem voll ausgeprägten
klassizistischen Stil erst um 1800 erreicht.
Verantwortlich für diese Entwicklung war allerdings übergeordnet ein völlig
neues Naturempfinden, aus der dann auch eine neue Art von Kunstrezeption
entstand. Laut Hamann konnte der Sturm und Drang den Rokoko nicht verdrängen, da
das neue Naturgefühl nur Utopien erzeugte.
Diese Wunschbilder bestanden aus Gegensatzpaaren. Sie wurden von der
Empfindsamkeit hervorgebracht, die den Hintergrund für den Sentimentalismus
abgaben. So stehen sich als Utopien für die Empfindsamkeit Natur-Kultur,
Landleben-Stadtleben, Kloster-Welt, Einsiedelei-höfische Geselligkeit und
Ruhe-Unrast gegenüber,
die die Vorstellungswelt des 18. Jahrhunderts beherrschten. Wie später noch zu
zeigen sein wird, war die Realitätsferne des Sentimentalismus der Hauptgrund für
die auftretende Kritik an den künstlerischen empfindsamen Darstellungsformen.
Krüger führt aus, daß das
Haupthindernis, von einer Epoche der „Empfindsamkeit“ in der Kunst zu sprechen,
darin liegt, daß er bereits als Oberbegriff für die „allgemeine
Kulturgeschichte“ beansprucht wird.
Doktor und Sauder sprechen daher von der „Empfindsamkeit“ als einer „Tendenz“,
die nicht als Stilbegriff verstanden werden darf.
Das Eigentümliche bestand darin, daß das Gegenständliche unabhängig
künstlerischen Stilmerkmalen gesucht wurde, um das Fühlen in Regung zu bringen.
Daraus wäre zu folgern, daß die Empfindsamkeit eine geistesgeschichtliche
Begriffsgröße darstellt, die lediglich die Betrachtungsweise der verschiedenen
kulturhistorischen und kunsthistorischen Teilbereiche erklärt und nicht deren
äußere Erscheinungsformen, was hieße, der Stil spielt keine Rolle sondern es
kommt in der Kunst, wie in der Literatur auf die Lesart bzw. die
Betrachtungsweise an.
Die Philosophie des 18.
Jahrhundert hatte ergänzend zur vernunftbestimmten Theorie der Aufklärung von
Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716) und Christian Wolff den Nutzen der
sensitiven Wahrnehmung immer wieder betont. Wobei der Nutzen der „Empfindung“
erst aus der Voraussetzung eines vernunftorientierten Denkens erkannt werden
konnte. Der Philosoph Alexander Gottlieb Baumgarten definierte als erster in
seinen philosophischen Schriften („Ästhetica“ 1750/58)
den Begriff einer „sinnlichen Erkenntnis“ -Cognitio sensitiva-.
Für Baumgarten war sinnliche Erkenntnis eine Form des Bewußtseins,
über die die Künste erst zur Wahrheit gelangten.
Er löste die Kunst vom Verstand und ordnete sie der Sinnlichkeit zu.
Sie stand von nun an ergänzend der intellektuellen Erkenntnis gegenüber.
In den zahlreichen zeitgenössischen ästhetischen Schriften wurden die Theorien
von der Empfindsamkeit als Ergänzung zur Vernunft als ein wesentlicher
Bestandteil der Aufklärung festgeschrieben. Der Höhepunkt in der Diskussion
dieser Philosophie wurde mit dem Erscheinen der kritischen Werke Immanuel Kants
(1724-1804) zwischen 1780 und 1800 erreicht.
Die Popularphilosophen,
Ästhetiker und Schriftsteller als ästhetischen Vordenker trugen den Geist der
Aufklärung in Reflexionen und Dichtungen vor. Die bildenden Künstler blieben
lange noch in traditionalistischen Zusammenhängen befangen. Die Literatur griff
als erste Disziplin die von Philosophen vorgedachte Theorien auf. Der Philosoph
Johann August Eberhard (1739-1809) schreibt über die Aufgaben des Dichters und
sein Fach:
„Der Dichter trug die Rose des
Vergnügens in der Hand, der Philosoph zeigt wo sie gewachsen war, und wie man
auf diesem Felde nicht nur die Blume des Ergözens, sondern auch die Frucht der
Nutzbarkeit zu weiterem Fortkommen und Ausbreiten verhelfen könne.“
Die Nutzbarkeit bestand für die
Philosophen in erster Linie in der moralischen Empfindung, die sowohl in den
schönen Künsten als auch in der Wissenschaft zu finden war.
Dadurch, daß Wissenschaft und Kunst ein und den selben Endzweck verfolgten,
wurde die Kunst in den Augen der Gelehrten aufgewertet. Aus der Sicht der
moralisierenden Zweckbestimmung hat die Kunst für den Popularphilosophen und
Ästhetiker Karl Heinrich Heydenreich das Ziel, Empfindung und Phantasie zu
erzeugen
und den Menschen in seinem Glücksempfinden positiv zu beeinflussen.
Einen ähnlichen Standpunkt wie Heydenreich nimmt auch Friedrich Gottlieb
Klopstock (1724-1803) ein, der den Wert der Kunst und der Wissenschaft
ausschließlich in ihrer moralischen Schönheit ansieht:
„Der Vorzug der Künste vor den
Wissenschaften liegt darin, daß sie geeigneter sind, die Menschen moralisch zu
machen: sie erniedrigen sich und sind nicht mehr schön, wenn ihnen die
moralische Schönheit fehlt.“
Ebenso vertritt Moses
Mendelssohn (1729-1786) eine moralisch-sittliche Kunstauffassung. Über die
positiven Eigenschaften der Künste schreibt er 1757:
„Die Dichtkunst, die Malerei,
die Bildhauerkunst, wenn sie der Künstler nicht zu unedlen Zweck mißbraucht,
zeigen uns die Regeln der Sittenlehre in erdichteten und durch die Kunst
verschönerten Beispielen, wodurch die Erkenntnis belebt und jede trockne
Wahrheit in eine feurige und sinnliche Anschauung verwandelt wird.“
Die Popularphilosophie rückt die
Phantasie und Einbildungskraft wieder in den Mittelpunkt des philosophischen
Interesses. In ihrer scheinbaren „Irrationalität“ treten sie nicht in
Opposition zum Rationalismus, sondern Phantasie und Einbildungskraft nehmen
„ein handlungsbezogenes Verständnis von ästhetischer Reflexion in Anspruch“.
Dies bedeutete, daß Kunstbetrachtung zu einem Vorgang reinster Subjektivität
wurde.
Heydenreich führt in diesem Zusammenhang aus der erweiterten Sicht der
Kunstrezeption einen neuen Kunstbegriff ein, und spricht von „Künste der
Empfindsamkeit“ bzw. „Künste der Empfindung und
Phantasie“.
Das 18. Jahrhundert hatte offenbar wenig Mühe, die damals zeitgenössische Kunst
mit „Künste der Empfindsamkeit“ zu bezeichnen. Wobei es Heydenreich nicht
darauf ankommt, die Kunst mit einem neuen Stilbegriff zu belegen, sondern seine
Begriffsbestimmung lediglich anhand der Betrachtungsweise eine damit verfolgte
Wirkungsweise benennt.
Mit Heydenreichs philosophischer
Begriffsbestimmung zur Empfindsamkeit ließe sich die Frage Sauders nach einer
stilistischen Symbiose von Klassizismus und Empfindsamkeit
mit Hamanns Begriffsdefinition vom „empfindsamen Klassizismus“
beantworteten. Hamann schreibt:
“Die Zeit des empfindsamen
Klassizismus ist die einer Menschlichkeit. Die gleichmäßige gesellschaftliche
Atmosphäre, die im Rokoko in Frankreich herrschte und im deutschen Rokoko so
ganz fehlte, scheint erst die deutsche Kultur zu jener Einheit zu binden, in der
ein beherrschendes Bildungszentrum -Weimar und Goethe- die Einheit des Hofes in
Paris ersetzt.“
Hamanns Verbindung aus
Empfindsamkeit und Klassizismus mit dem hohen Ideal der Menschlichkeit deckt
sich mit der bereits zitierten Definition Hohendahls
„an der Empfindsamkeit teilzuhaben bedeutete, menschlich zu sein.“
Der bereits zitierte Karl Heinrich Heydenreich spricht
vom Wesen der Künste, die durch ihren Eindruck und ihre Wirkung den einzelnen
Menschen wie auch eine ganze Gesellschaft positiv beeinflussen und führt weiter
aus:
„Wenn nun die schönen Künste,
wie es niemand leugnen wird, vorzüglich auf Empfindung und Phantasie wirken, und
gesetzt auch sie hätten sonst gar keinen Nutzen, doch diese Kräfte in jedem
Falle üben, verfeinern und verstärken; so ist es offenbar, wie schon im
allgemeinen großen Einfluß auf Glückseligkeit haben. Die Sinne liefern die Masse
der Erfahrung, der Verstand ordnet sie nach Gesetzen, die schönen Künste beleben
sie mit Interesse und Feuer.“
Mit der „Tendenz“ der
Empfindsamkeit setzten sich nicht nur Literaten wie Gellert, Goethe oder Miller,
oder die Leipziger Popularphilosophen Platner und Heydenreich auseinander. Auch
bei den Kunsttheoretikern Sulzer und Hagedorn wurde der „Empfindung“ bei der
Kunstbeurteilung große Bedeutung zugemessen und in geringerem Maße auch bei
Winckelmann, woraus sich auch eindeutige Kriterien für eine zeitgenössische
Kunstbeurteilung ableiten lassen.
Für Deutschland ist die
Auswirkung von Johann Georg Sulzers, „Allgemeine Theorie der Schönen Künste“,
insbesondere auf die gebildeten Kreise und auf die philosophischen
Formulierungen neuer ästhetischer Grundbegriffe nicht zu unterschätzen.
Sulzer gilt als Eklektiker, der die verschiedensten ästhetischen Strömungen
seiner Zeit in lexikalischer Form zusammengefaßt hat. Sie liefern eine breite
Grundlage für die damals üblichen Ansichten. Für einen Mann der Aufklärung wie
Sulzer einer war, bestand der Endzweck der Kunst darin, Empfindungen zu
erzeugen, die vom Verstand und der Weisheit reguliert werden sollten.
Sulzer gibt in seiner Schrift die klassische Forderung der Aufklärung nach
Einheit von Herz und Verstand wieder. Für den Schweizer Ästhetiker hat die
Empfindung eine psychologische wie moralische Bedeutung. Für ihn war eine
ganzheitliche Erziehung des Menschen nur im Zusammenwirken von Empfindung und
Erkenntnis zu verwirklichen. In psychologischer Hinsicht „entscheidet die
Empfindung über das, was gefällt, oder mißfällt, die Erkenntnis urtheilet über
das, was wahr, oder falsch ist.“ Im moralischen Sinn soll die Empfindung den
sittlichen Charakter der Menschen bestimmen.
Sulzer erkannte früh die unliebsamen Auswüchse, die die Empfindsamkeit annahm,
und warnte vor einer übertriebenen Empfindsamkeit, da sie den Menschen
verweichlicht und in erster Linie mehr schadet als nützt. Besonders hebt er die
zeitgenössischen Dichter hervor, die zu einer schier maßlosen Erregung des
Gefühls des Lesers neigten, und daß der eigentliche Zweck des Empfindens
verloren ginge.
Auch bei Sulzer waren es lediglich die „empfindelnden“ und ins Triviale
abgleitende Literaten, die er kritisierte und nicht die Empfindsamkeit an sich.
Aus Sulzers Haltung ergibt sich
die logische Konsequenz in der Beurteilung von Kunst. Für ihn nahm die
Ausführung und Beschaffenheit des Gegenstandes eine untergeordnete Bedeutung
ein und die Frage nach dem Stil spielt somit keine Rolle.
„Bey der Erkenntnis sind wir mit
dem Gegenstand als einer ganz außer uns liegenden Sache beschäftiget, bey der
Empfindung aber geben wir mehr auf uns selbst, auf den angenehmen oder
unangenehmen Eindruck, den der Gegenstand auf uns macht, als auf seine
Beschaffenheit, Achtung.“
Die Kunst der zweiten Hälfte des
18. Jahrhunderts war auf einen „Endzweck“ ausgerichtet, dieser stand im Dienst
der bürgerlichen Aufklärung zur sittlichen und moralischen Hebung des Menschen
und zur Läuterung des Verstandes. Sulzer sieht es als Unsitte an, Kunst nach
ihrer Ausführung zu beurteilen, unberücksichtigt der „Inhalte“, die sie
vermitteln soll. Im Gegensatz zu den meisten Kunstkritikern seiner Zeit, waren
es für Sulzer allein die „Intentionen“, die entscheidend für die Bewertung eines
Kunstgegenstandes waren und nicht die Machart. Demzufolge klagt er:
„Es ist ein großer Mißbrauch der
Kunst, daß noch so sehr durchgehends ein vollkommener Pinsel mehr als eine
vollkommene Erfindung gelobt wird. Dieses heißt Mittel ohne Rücksicht auf den
Endzweck schätzen.“
Bei Sulzer stand die Empfindung
im Vordergrund, bei Winckelmann konnte sich die Kunst in erster Linie nur über
das logische Denken vermitteln. In den „Gedanken über die Nachahmung...“
ist die Rede von „Gemälden, die von Gedanken leer“ sind, vom
„Künstler, der eine Seele hat, der denken gelernt“ und von einem „Maler,
der weiter denkt als der Pinsel reicht“. Gegen Ende der Schrift erhebt er
die Forderung „Der Pinsel, der den Künstler führt, soll in Verstand getunkt
sein [...]. Er soll mehr zu denken hinterlassen, als was er dem Auge
gezeigt“. In der „Erinnerung über die Betrachtung der Werke der Kunst“ von
1759 , empfiehlt er darauf zu achten „Ob der Meister
des Werks, welches du betrachtest, selbst gedacht oder nur nachgemacht hat“.
Selbst in der
„Abhandlung von der Fähigkeit der Empfindung des Schönen in der
Kunst und dem Unterricht in derselben“
gibt Winckelmann deutlich zu erkennen, daß er auf den
„Gedanken“ in der Ausführung und im Inhaltlichen mehr Wert legt als auf
die „Empfindung“:
„Ich füge diesem Unterrichte zur
Empfindung des Schönen in der Kunst folgende Erinnerungen bey. Man sey vor
allen Dingen aufmerksam auf besondere eigentümliche Gedanken in den Werken der
Kunst, welche zuweilen wie kostbare Perlen in einer Schnur von schlechteren
stehen, und sich unter diesen verlieren können.“
Zwar nimmt bei Winckelmann die
Ausführung und Beschaffenheit des Gegenstandes eine untergeordnete Gewichtung
ein, er konnte aber als strenger Formenrichter seine klassizistische Position
eher mit dem Intellekt als mit der ideellen Qualität der „Empfindung“ eines
Kunstgegenstandes verbinden. Winckelmann verlangt von der Kunst, daß sie neben
dem Empfinden des Schönen in erster Linie den denkenden Geist bzw. den Verstand
ansprechen muß. An den Kunstbetrachter gibt er die Anweisung:
„Unsere Betrachtung sollte
anheben von den Wirkungen des Verstandes, als dem würdigsten Theile, auch der
Schönheit, und von da heruntergehen auf die Ausführung.“
Winckelmann setzt seine
Erläuterungen über die Ausführung in der Weise fort:
„Da diese nicht das erste, das
höchste Augenmerk seyn kann, so soll man über die Künsteleyen in derselben, als
wie über Schönflecke, hinsehen: denn hier können die Künstler aus Tirol, welche
das ganze Vaterunser erhoben auf einem Kirschkern geschnitten haben, allen den
Rang streitig machen.“
Es wird erkennbar, daß sich bei
Winckelmann zwischen den Jahren 1755 und 1764 ein Wandel seiner Kunstanschauung
andeutet. Von dem rein rationalistisch verstandesorientierten Kunstbegriff
wendet er sich in der Tendenz hin zum einem „Kunstempfinden“, wobei der
verstandesmäßige „Gedanke“ immer noch die Oberhand behalten soll. Winckelmann
nähert sich im Ansatz den beiden in Einklang zu bringenden Grundintentionen der
Aufklärung in Deutschland.
Der Generaldirektor des
sächsischen Galerien und Kunstakademien Christian Ludwig von Hagedorn war in der
zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts mit seinen kunsttheoretischen Schriften
bereits einem Publikum über die Grenzen Sachsens und Deutschlands bekannt.
1762 veröffentlichte er seine „Betrachtungen über die
Mahlerey“,
die ab 1775 übersetzt auch einer französisch sprechenden Leserschaft zugänglich
waren.
Hagedorn war Bruder des für seine bukolische Dichtungen bekannte Friedrich von
Hagedorn (1708-1754), der mit Ewald von Kleist (1715-1759) zu den bedeutendsten
Vertretern der empfindsamen Dichtkunst seiner Zeit zählte.
Christian Ludwig von Hagedorn
war Diplomat in sächsisch kurfürstlichen Diensten, bevor er als
Kunstschriftsteller und Leiter des Galeriewesens in das Dresdener Kunstleben
eingriff.
Nicht unbeeinflußt von seinem Bruder und der zeitgenössischen Strömung der
Literatur, verfaßte Ludwig von Hagedorn seine kunsttheoretischen Schriften und
kann deshalb auch als einer der Hauptrepräsentanten des „sentimentalen
Klassizismus“ bezeichnet werden.
Indem Hagedorn, selbst den auf Horaz (65-8 v. Chr.) zurückgehenden Grundsatz „ut
pictura poesis“ in seiner Schrift formuliert
und somit eine Begrifflichkeit aus der Dramentheorie gebraucht, rückt er seine
Schriften in den Kontext der Literaturgeschichte. Winckelmann hatte die Kunst
dem Verstand zugewiesen, Baumgarten, der die Kunst vom Verstand emanzipierte,
verwies sie an die Sinnlichkeit.
Die Bedeutung der „Cognito sensitiva“- sinnliche Erkenntnis-
war für ihn die Verbindung von Kunst und Moral, die eine sittliche
Vollkommenheit der Menschheit zum Ziel hat. Von Baumgarten inspiriert, bezieht
sich auch Hagedorn bei seiner Definition der Vollkommenheit in der Malerei auf
die Fähigkeit des „sinnlichen Ausdrucks“ und zitiert dabei Baumgartens Gedicht:
„Sensitiua oratio perfecta“.
Hagedorn mißt der Ausführung eines Gegenstandes ebenfalls keine nennenswerte
Bedeutung bei, vielmehr geht er davon aus, daß der Beobachter bei der
Kunstbetrachtung alle künstlerischen Kunstgriffe vergißt und
„er unterhält sich nur mit den vorgestellten Gegenständen. Die
damit verbundene Rührung ist das höchste Ziel dieser angenehmen Kunst“.
Daraus ergibt sich seine Nähe zur geistigen Richtung der „Empfindsamkeit“.
Hagedorn entwickelte in seinen Schriften eine Kunstanschauung, die dem damaligen
Zeitgeschmack entsprach und richtetet sich an ein breites Publikum. Seine
Kunstkritik war vornehmlich von Subjektivität und „Empfindung“ bestimmt. Somit
kann Hagedorn als Antithese zu der von Winckelmann vorwiegend
verstandesorientierten Kunstbetrachtung gesehen werden.
Dem Charakter einer
„empfindsamen“ Ausdrucksweise entspricht auch Hagedorns literarische Form seiner
„Betrachtungen der Mahlerey“ von 1762, als Brieffolge an einen
fiktiven Freund (wie der „Werther“ etc.). Durch die Beschreibung
einzelner Gemälde, die er zusätzlich zu den Erläuterungen der Kunstregeln als
Belebung des Textes mit einbringt, soll dem Betrachter die Einsicht in die
Ordnung der „Maschine des Gemäldes“
erleichtert werden. Die Beschreibungen bedienen sich einer angemessenen Sprache,
die den Anspruch erhebt, Kunst mit Kunst zu beschreiben. Durch diese sprachliche
Form, die dem Leser zum Genuß bei der Betrachtung von Gemälden geben soll, war
bereits ein wesentlicher Unterschied zu Winckelmanns Schriften gegeben. Hagedorn
bringt seine sentimental ausgerichtete Grundhaltung bereits im Vorbericht
seines zweibändigen Werkes deutlich zum Ausdruck und spricht sich gegen einen
strengen akademischen Regelkanon aus. Als Repräsentant der Aufklärung geht er
davon aus, daß die Möglichkeit der Läuterung durch die Kunst nur möglich ist,
wenn, wie bereits schon mehrfach angedeutet, Herz und Verstand gleichermaßen bei
der Betrachtung eines Kunstwerkes angesprochen werden. Dennoch wertet er im
Gegensatz zu Winckelmann die natürliche Fähigkeit zu empfinden höher als die
Gelehrsamkeit:
„Möchte dieser Versuch einer
Verbindung auch witzige Köpfe unter den Gelehrten aufmuntern, die Theorie der
schönen Künste mit der Erfahrung eines geübten Auges, und der Empfindung des
mahlerischen Schönen zu verknüpfen!
[...]
Nur schade, daß Grundsätze nicht das Vermögen geben, zu empfinden
[...]
Empfinden?--Dieses ist vielleicht das bescheidene Los der eigentlichen
Gelehrsamkeit ? - Ich wollte wünschen, daß die Empfindung niemals ersticket
hätte. Vereinbaret dienen sich beyde einander zur Ausschmückung. Bey Beobachtung
der Gemählde ist der mit dem wesentlichen der Kunst beschäftigte Verstand
insgeheim der wahre Vertraute des Herzens.“
In dem zurückliegenden Kapitel
wurde das Kunstverständnis der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ausführlich
dargestellt. Es konnte gezeigt werden, wie aus der Ästhetik einer emotionalen
Kunstbetrachtung eine Ethik wurde. Somit konnte die Kunst weitgehend frei von
jeglichem stilistischen Zwang sein. Kunstbetrachtung wurde zum subjektiven
Kunsterlebnis. Kunstschaffen wurde ebenso zum individuellen Schöpfungsakt unter
dem Primat einer auf sanfte Empfindung angelegten Kunst und einer damit
verbundenen moralischen Zweckdienlichkeit. Diesen Vorgaben unterlag das
Kunstschaffen Oesers, das im folgenden Kapitel eingehend dargestellt werden
soll.
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Hutcheson, Francis, An inquiry into the original of our ideas of beauty and
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Baumgarten, Alexander Gottlieb,
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