goethe


Timo John

Adam Friedrich Oeser 1717-1799
Studie über einen Künstler der Empfindsamkeit

I. Einleitung

Problemstellung, Zielsetzung und Vorgehensweise der Arbeit

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Bis in die jüngste Zeit genießt Adam Friedrich Oeser (1717-1799) ein zweifelhaftes Anse­hen. Obwohl man Oeser eine entscheidende Einflußnahme auf die Schriften Winckelmanns, die Kunstanschauung Goethes sowie eine herausragende Stellung bei der Verbreitung der klassizistischen Kunsttheorie für die zweite Hälfte des 18. Jahrhun­derts zugestanden hat, waren sich die Kunsthistoriker lange Zeit nicht einig, wenn es um die Bewertung des Ran­ges von Oesers künstlerischer Arbeit selbst ging.[1]

Der Vorwurf, die Oeserschen Arbeiten seien „nebulös“, hat seit Anfang des 19. Jahrhun­derts Tradition. Die zum Gemeinplatz gewordene Charakterisierung läßt den Verdacht auf­kommen, daß es sich dabei weniger um eine am Werk selbst überprüfte Wertung handelt. So gilt es die Ursache nach der nicht mehr in Frage gestellten Kennzeichnung zu klären. Allein die Divergenz zwischen zeitgenössischer Beurteilung und Einschätzung des 19. Jahr­hunderts gibt Anlaß, diese Kritik zu hinterfragen. Wie ist es zu erklären, daß ein Künstler, der eine derart uneingeschränkte Beliebtheit und Wertschätzung bei seinen Zeitgenossen erfahren hat, dem heutigen Urteil so wenig standzuhalten vermag? Oder anders gefragt: haben die damaligen Kritiker die viel zitierte „Mittelmäßigkeit“ des Künstlers nicht gesehen, oder hat die Kunstgeschichtsschreibung Oesers eigene Form von „Originalität“ nicht mehr entsprechend würdigen können? Sicherlich ist diese Frage nicht mit einem einfachen „Ja“ oder „Nein“ zu beantworten. Die vorliegende Untersuchung soll das sich wandelnde Meinungsbild gegenüber Oesers Werk aufzeigen und damit zu einer möglichen Antwort beitragen.

Der Bruch in der Bewertung Oesers vollzog sich mit seinem Tod. Die Frage, wie es dazu kam, kann nur beantwortet werden, indem man die Kritiker und deren Jahrhundert, bzw. deren Intentionen und Blickwinkel, aus dem die Beurteilungen heraus geäußert wurden, berücksichtigt. Manches Wesens- und Stilmerkmal, das von seinen Zeitgenossen noch als lobenswert eingestuft wurde, konnten die späteren Generationen nicht mehr als positiv bewerten. Bei manchem Kunstrichter vollzog sich selbst ein Wandel in der Kunst­auffassung, der dann folgenschwer für die Beurteilung Oesers wurde. Signifikante Beispiele hierfür stellen Goethe und Winckelmann dar. Und so gibt es außer Oeser wohl kaum einen zweiten deutschen Künstler der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, dessen Beurteilung in der Kunstgeschichtsschreibung so sehr von diesen beiden Geistesgrößen seiner Zeit geprägt wurde. Die vielfach geäußerte Ansicht „der Freund Winckelmanns und Zeichenlehrer Goethes“ gewesen zu sein, sei der einzige Grund für Oesers Nachruhm[2], läßt deutlich wer­den, daß eine Analyse von Oesers Œuvre aus der Sicht des 18. Jahrhunderts bislang aus­blieb und die verschiedensten Meinungen über ihn kaum überprüft wurden. Die noch am Ende des 20. Jahrhunderts ungebrochene Autorität Goethes und Winckelmanns führte dazu, daß bis heute das Urteil des Dichters und des Theoretikers Adam Friedrich Oeser gegenüber völlig unkritisch übernommen wurde. Bei keinem anderen Kunstrichter kommen dessen sich wandelnden Kunstan­schauungen so deutlich zum Ausdruck wie bei Goethe in seinem Urteil über Oeser. Diese Tatsache blieb in der Kunstgeschichtsschreibung oft unberücksichtigt. Wenn es um die Beurteilung Oesers geht, ist in gleicher Weise wie sein Name mit dem Goethes verbunden ist, der Name des Dichters mit dem des Schweizer Kunstgelehrten Johann Heinrich Meyers (1760-1832) vereint. Unter dessen Einfluß geriet Goethe während seines ersten Rom­aufenthalts 1786-1788. Die Frage, wie weit seine Einflußnahme auf Goethes Oeser­bild ging, wurde in der Forschung bislang kaum geklärt. Das sich wandelnde Oeserurteil Goethes unter Berücksichtigung des Einflusses Meyers soll im Verlauf der Arbeit unter­sucht werden.

Geboren wurde Oeser 1717 im ungarischen Pressburg, dem heutigen Bratislava.[3] In den ersten 30 Jahren seines Lebens wurde er in seinem künstlerischen Schaffen im Wesentlichen von den barocken Residenzstädten Wien und Dresden geprägt. Nach einem längeren Aufenthalt in Wien, wo er eine für den kaiserlichen Hof ausgerichtete Kunstakademie besucht haben soll,[4] zieht er 1739 in die sächsische Kapitale Dresden. Dort gerät er in den Umkreis der Hofmaler Louis de Sylvestre (1675-1760), Anton Raphael Mengs (1728-1779) und Christian Wilhelm Dietrich (1712-1774) und lernt über den Reichsgrafen Heinrich von Bünau (1697-1762) auf Schloß Nöthnitz bei Dresden dessen Biblio­thekar Johann Joachim Winckelmann (1717-1768) kennen.[5] Die Kunstgeschichtsfor­schung des 19. Jahrhunderts hat aus der gemeinsamen Dresdener Zeit und den namentlichen Erwähnungen Oesers in Winckelmanns Schrift „Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst“ von 1755 geschlossen, daß Oeser mitunter der geistige Vater der Winckelmannschen Programm­schrift gewesen sein soll.[6] Sogar die Worte von der „Edlen Einfalt und stillen Größe“ werden Oeser in ihrer ganzen Bedeutung zugeschrieben.[7] Diese Annahme hat sich bis zum heutigen Tag gehalten. Inwieweit ein Einfluß Oesers auf Winckelmann tatsächlich gegeben war, gilt es im weiteren Verlauf der Arbeit nachzugehen.

Oeser verläßt 1755 Dresden[8], ein Jahr vor der Besetzung durch Friedrich II. während des siebenjährigen Krieges (1756-1763) und nutzt das Angebot des Grafen Bünau mit seiner Familie auf Schloß Dahlen bei Leipzig zu gehen. Die Unterbringung erfolgte un­entgeltlich und so malte er statt dessen das Schloß im Inneren aus. In Dahlen blieb die Familie Oeser bis 1759.[9] Es waren Meinungsverschiedenheiten mit dem Grafen und sein Unbehagen, innerhalb einer höfischen Gesellschaft zu leben, was dazu führte, daß Oeser, sich eher der neu emporsteigenden Klasse des Bürgertums zugehörig fühlend, die Adelsresidenz Dahlen mit der protestantischen bürgerlichen Universitäts- und Handelsstadt Leipzig tauschte.

In Leipzig war das wohlsituierte, selbstbewußte und finanzkräftige Patriziat wichtigster Auftraggeber und Käufer von Werken der bildenden Kunst. Einzelne Kaufleute beschränk­ten sich nicht auf die bloße Dekoration ihrer Wohnräume. Sie sammelten systematisch, so daß bedeutende private und öffentlich zugängliche Galerien entstanden, wie z.B. die Sammlung Gottfried Win(c)kler (1731-1795) oder die des Verlegers Thomas Richter (1728-1773). Demzufolge beschreibt Johann Gottlieb Fichte (1762-1814) den Zustand des Kunstschaffens in der Messestadt treffend: „Leipzig hat Kunstwerke genug, aber wenig Künstler, der Sitz derselben ist in Dresden.“[10] Dieser Umstand sollte sich mit der Neugründung der Kunstakademie und der Berufung Oesers zum Direktor ändern. Von nun an entwickelte sich zwischen Dresden und Leipzig eine Bipolari­tät in der sächsischen Kulturlandschaft.[11] Für einen Künstler der Stadt Leipzig, deren Be­wohner ein neues bürgerliches Zeitalter mitbegründeten, stellt sich konkret am Beispiel Oeser die Frage: wie kann ein Kunstschaffender seine Position in der Theorie, ebenso wie in seiner künstlerischen Aussage in einem derartig neu ausgerichtetem Umfeld finden?

Nachdem der siebenjährige Krieg das Land verwüstet hatte, wurden zum Aufbau und zur ökonomischen Wiederherstellung Sachsens 1764 drei neue Kunstakademien gegründet: Dresden, Leipzig und Meißen. Die Anstalten waren in erster Linie darauf ausgerichtet, Handwerker für die neuzuerrichtenden Manufakturbetriebe auszubilden. Der geheime Le­gationsrat und Generalintendant der sächsischen Kunstakademien Christian Ludwig von Hagedorn (1713-1780) schätzte Oesers künstlerische Begabung außerordentlich. Seine Lehrfähigkeit und sein Diensteifer waren es, die ihn veranlaßten, Oeser 1764 zum ersten Direktor und Professor der neu gegründeten Leipziger „Zeichnungs-, Mahlerey-, und Architectur- Academie“ sowie zum „Sächsisch-Churfürstlichen Hofmaler“ zu berufen.[12] Für die Ver­bindung von Kunst und Handwerkerausbildung schien Oeser wie geschaffen. Oeser strebte eine Synthese von bildkünstlerischem Gestalten und Zielen einer merkantilistischen Wirt­schaftspolitik an.[13] Das Tätigkeitsfeld in Leipzig, wo ein solches Ineinandergreifen hand­werklicher und künstlerischer Aufgabenstellungen funktionieren konnte, war die Buchillu­stration. Dank einem bürgerlichen Lesepublikum stieg die Buchproduktion im Bereich der „Schönen Künste und Wissenschaften“, der Erziehungsliteratur und des empfindsamen bürgerlichen Romans stetig an. Die Buchillustrationen Oesers gelten als seine bedeutendste künstlerische Leistung. Unter den von ihm illustrierten Büchern befanden sich unter anderen die Werke Goethes, Wielands, Gellerts und Winckelmanns.

Da die Akademie auch Studenten der Leipziger Universität kostenlos Zeichenunterricht gewährte, ergab sich für den Direktor Oeser neben der Kunst und Handwerkerausbildung eine weitere Aufgabe. Der bekannteste Zeichen­schüler war der bereits erwähnte damalige Jurastudent Johann Wolfgang Goethe (1749-1832). Über den Unterricht bei Oeser schreibt der Leipziger Kreissteuereintreiber Christian Felix Weiße (1726-1804) an Ludwig von Hagedorn:

„Oeser ist willfähig genug allen zu dienen, verspricht, korrigiert, zeichnet vor und zerstreut sich darüber so, daß er an eine eigene Ausarbeitung nicht denkt. Indessen stiftet er dadurch Nutzen, daß er brave Leute zieht und selbst dabei weniger groß wird.“[14]

Einige dieser Schüler wurden später professionelle Künstler, wie der Wiener Akademie­direktor Heinrich Füger (1751-1818), der spätere Leipziger Akademiedirektor und Nach­folger Johann Friedrich August Tischbeins (1750-1812) Hans Veit Schnorr von Carolsfeld (1764-1841) oder die Landschaftsmaler Christian Reinhart (1761-1847) und Friedrich Rehberg (1758-1835), die sich beide ab 1790 in Rom aufhielten.

Wenn Oeser selbst seine künstlerischen Ausführungen stark vernachlässigte, fand er den­noch Zeit neben dem Akademiebetrieb dem Verlangen der Leipziger Bürgerschaft nach Kunst nachzukommen. Es entstanden Deckengemälde in der Wincklerschen Gemälde­sammlung, in den Villen der Verleger Philipp Erasmus Reich (1717-1782) und Thomas Richter, im Gerhardschen Haus oder im Haus des Geheimen Kriegsrates und Bürgermeisters Dr. Carl Wilhelm Müller (1728-1801) im Brühl. Für die Stadt Leipzig ent­standen der Bühnenvorhang zum neuen Theater auf der Ranstädter Bastei (1766), auf dem die Geschichte der dramatischen Dichtkunst dargestellt war. Ferner malte er drei wei­tere Deckengemälde für das Gewandhaus (1781). Städtisch bürgerliche Wohlhaben­heit fand überdies ihren Ausdruck in architektonischer Pracht. Das Leipziger Bürgertum gab sich selbstbewußt, in dem es adelige Bauformen und deren Wohnkultur über­nahm. Ein her­ausragendes Beispiel stellt das heute noch vollständig erhaltene Gohliser Schloß dar[15]. 1770 gelangte das Schloß in den Besitz des kurfürstlich-sächsischen Hofrats Johann Gottlob Boehme (1717-1780). Er ließ das Gebäude umgestalten und beauftragte um 1779 Oeser mit der fest­lichen Ausmalung der Gesellschaftsräume. Fast sämtliche der oben genannten Wand- und Plafondgemälde der Bürgerhäuser der Stadt sind inzwi­schen zerstört oder nur noch in zeit­genössischen Kopien bzw. als Beschreibungen überliefert.[16]

Obwohl Oeser 1739 der höfischen Gesellschaft Dresdens den Rücken gekehrt hatte, war er von ca. 1755 bis 1785 auf Vermittlung des Freiherrn Jakob Friedrich von Fritsch (1731-1814) fast dreißig Jahre zuerst für die Grafen Bünau in Oßmannstedt und Eisenach und später für den Weimarer Hof tätig.[17] Oeser war vor allem ab 1775 ständi­ger Gast am Musenhofe zu Weimar. Er zählte unter dem Patronat der Herzogin Anna Amalia von Sachsen-Weimar-Eisenach (1739-1807) zu einer bürgerlichen Aufstiegs­schicht, die ihn im Dienste der Kunst zu einem bürgerlichen Hofkünstler und schöpferi­schen Berater aus dem nicht adeligen Mi­lieu beförderte. Die Kultur von Weimar, wie sie Elias als einzig wirklich bedeutende höfische Kultur charakterisiert, wurde getragen von den „Idealen der Gelassenheit, der Mäßigung der Affekte, Ruhe und Besonnenheit, [...].[18], die ganz dem persönlichen Wesen Oesers ent­sprachen. In Weimar war die Formel von der „Edlen Einfalt und stillen Größe“ und des „Zurück-zur-Natur“ die Brücke zum Naturalismus. In der Frühphase des Klassizismus hatte Oeser an der Einlösung dieses Paradigmas mit der Ausmalung des Wittumspalais und der Gestaltung des „empfindsamen“ englischen Landschaftsgartens in Tiefurt maßgeblichen Anteil. Auch in der Orientierung an der Antike in der Garten-Denkmalplastik steckt ein Be­dürfnis nach Ruhe und Harmonie, das an den Werken Oesers deutlich nachzuspüren ist. Überprüft werden soll in diesem Zusammenhang, welchen theoretischen Grundlagen er da­bei folgte.

Oeser nahm aktiv am Prozeß der bürgerlichen Emanzipation teil. In seiner Kunst kommen die verschiedensten soziokulturellen Umbrüche zum Ausdruck. Seine Land­schaftszeich­nungen drücken ein neues Naturgefühl und die Sehnsucht nach Natürlich­keit aus. Die übersteigerte Hinwendung in die sagenhafte antike Welt zeugt letztendlich von einem bürgerlichen Religionsbedürfnis, das die orthodoxe Kirche nicht mehr einlösen konnte.

 

 

Die mythologische Allegorie der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wird zum Ersatz religiöser Ma­lerei, sieht sich aber bald in dieser Funktion überfordert. Die Verwendung dieser „Sinnbildkunst“ wird vor der Problematik zu untersuchen sein: In wie weit fallen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts theoretische Lehrmeinung in Bezug auf die Allegorie und ihre künstlerische Umsetzung auseinander und wo gehen sie Hand in Hand? Die Frage, die sich hierbei in Bezug auf Oeser stellt, lautet: Liegen in Oesers Arbeiten selbst entwickelte Bildthemen vor, die aus dem Geist der Aufklärung entsprungen sind oder sind seine Arbeiten lediglich ein Ausdruck der Überwindung konventioneller Bildthemen? Anhand der im 18. Jahrhundert geführten Auseinandersetzung um die Allegorie als künstlerisches Ausdrucksmittel soll der Versuch einer Positionierung von Oeser als Allegorienmaler unternommen werden[19]. Aus dieser „Sinnbild-Diskussion“ erwachsen scheinbar paradoxerweise neue religiöse Strömungen. Christus wird als Allegorie für eine „tugendhafte Heldengestalt“ entdeckt. Die religiöse Malerei nimmt demzufolge für die bürgerlichen Protestanten im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts eine immer bedeutendere Rolle ein. Neben zahlreichen Einzelaufträgen dieses Genre zählt Oesers Christuszyklus in der Leipziger Nikolaikirche, die sogenannte „Oeser-Bibel“, zu seinem Spätwerk und kann als eine seiner wichtigsten Arbei­ten betrachtet werden. Inwieweit Oeser in der religiösen Malerei zeitgenössische theologi­sche Intentionen zum Ausdruck bringt, soll in diesem Zusammenhang unter­sucht werden.

Autoren wie Winckelmann, Hagedorn, Klopstock, Gellert, Lessing, Herder, Spalding oder Jerusalem entwickelten Konzepte kultureller und geistiger Selbstbestimmung, die zusam­mengenommen einer Neufundierung des deutschen Geisteslebens gleichkamen.[20] Denkmal­plastiken für die Heroen des deutschen Geisteslebens, die Entdeckung der heimischen Land­schaft als Naturerlebnis und die religiöse Neuorientierung für die seelische Erbauung und moralische Läuterung entwickelten sich nicht nur aus dem Motiv emotionaler Erhebung. Die nach dem siebenjährigen Krieg einsetzende Suche nach einer kulturellen Identität des Bürgertums ging Hand in Hand mit dem Streben nach einer nationalen Identität und kultu­rellen Zugehörigkeit. Getragen wurde dies im wesentlichen vom bürgerlichen Mittelstand, der zum wichtigsten Repräsentant von Protestantismus und Auf­klärung und damit zum Hauptvertreter der neuen Geisteskultur überhaupt wurde,[21] die sich in sämtlichen Lebensbereichen wie der Religion, der Gefühlskultur, den Sitten, dem Ge­schmack, im Naturverständnis und der Kunst niederschlug. Gegen Mitte des 18. Jahr­hundert wurde der rein verstandesorientierte Rationalismus der frühen Aufklärung durch einen subjektiven Sensualismus ergänzt. Die dialektischen Verhältnisse aus Verstand und Emotion, Vernunft und Irrationalismus wurden zum Glaubenssatz für die zweite Hälfte des Jahrhunderts. Es entfaltete sich eine neuartige Gefühlskultur, die fast gleichermaßen vom Bürgertum wie vom Adel getragen wurde. Das „Fühlen“ wurde zum subjektiven Erleben des eigenen empfindenden „Ichs“ in einer sakrali­sierten und ästhetisierten Lebenswelt. Die Folge dieses Umstandes waren die Anfänge einer „Erlebnis“-Kunst und Erlebniswelt.

Der Auffassung der Kunstgeschichtsschreibung, Oeser sei ein „Klassizist“, steht die Ansicht gegenüber, Oeser sei lediglich „der“ Vorläufer des „Klassizismus“ bzw. Vertreter eines „Rokokoklassizismus“. Solche Begriffszuweisungen und Pauschalisierungen ver­fehlten bis­lang das Ziel einer differenzierten Beurteilung des Künstlers. Allerdings scheint eine Zuord­nung von Epochenbegriffen, aus der sich ein Stilbegriff für Oeser ableiten läßt, äußerst schwierig. Gerade weil sich die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts, im Politischen, Künstle­rischen, Gesellschaftlichen, Religiösen, Philosophischen oder Pädagogischen im Umbruch befindet und als „Achsenzeit“ bezeichnet wird, läßt dies zum Wagnis werden. Für die Ana­lyse von Oesers Werke soll ein Begriff zur Anwendung gebracht werden, der vornehmlich in der Literatur Verwendung findet, nämlich der Terminus „Empfindsamkeit“.[22]

Die Kategorisierung einer empfindsamen Literatur als Gattung prägte weitgehend die Lite­raturauffassung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Diese Klassifizierung geht mit der Periode des „Sturm und Drang“ weite Strecken parallel. Der zu Beginn des achtzehnten Jahrhunderts von englischen Aufklärungsphilosophen definierte Begriff wurde anschließend vor allem von den Literaten in Deutschland rezipiert. In der Literatur­wissenschaft wurden Geschichte und Bedeutung der „Empfindsamkeit“ bereits eingehend erörtert; viel zu wenig wird dabei berücksich­tigt, daß der Sinngehalt der „Empfindsamkeit“ ebenso auch auf die bildende Kunst ihren Einfluß ausübte und im Wesentlichen das Kunstverständnis der zweiten Hälfte des 18. Jahr­hunderts prägte. In der Kunstgeschichtsforschung wurde die „Stilstufe“ des „empfindsamen Klassizismus“ bislang viel zu wenig beachtet. Die Frage, die sich hierbei in Bezug auf Oeser stellt, lautet: Kann die Kritik gegenüber Oeser aus dem 19. Jahrhundert bis hin in unsere Zeit aufrechterhalten werden, wenn sein Œuvre an den Eigenschaften eines „empfindsamen Klassizismus“ überprüft wird?

Eine heute angemessene Beurteilung der Kunst im Zeitalter der Empfindsamkeit muß zunächst vor dem Hintergrund der im 18. Jahrhundert geführten Diskussion vorgenom­men werden. Hierbei bieten die Schriften des Philosophen Alexander Gottlieb Baumgarten (1714-1762), des Kunstgelehrten Christian Ludwig von Hagedorn, des Kunsttheoretikers Johann Georg Sulzer (1720-1779) und des Gartentheoretikers Christian Cay Lorenz Hirschfeld (1742-1792) wertvolle Einsichten in die Geschmacks­diskussion dieser Zeit. Viele der geistigen Wegbereiter des Zeitalters der „Empfindsamkeit“ gingen aus der Universitätsstadt Leipzig hervor, wie z.B. die Popular­philosophen Ernst Platner (1744-1818) und Karl Heinrich Heydenreich (1764-1801) oder die Literaten und Dichter Christian Fürchtegott Gellert (1715-1769) und Friedrich Heinrich Jacobi (1743-1819). In vielerlei Hinsicht sah sich auch die Kunst mit ihren ästhetischen Mitteln verpflichtet, dem Bedürfnis nach Emotionalität nachzukommen. Oeser, der über Jahrzehnte das künstlerische Leben der Stadt Leipzig be­stimmte, kam in der künstleri­schen Umsetzung und Verbreitung dieses Phänomens eine zentrale Rolle zu. Es wird überdies der Versuch unternommen, den Terminus der „Empfindsamkeit“ als kunsthisto­rischen Epochenbegriff, als einen Teil des „Klassizimus“, zur Anwendung zu bringen, um damit die spezifischen Beziehungen zwischen Oeser und den zeitgenössischen popular­philosophischen und ästhetischen Theorien untersuchen zu können. Am Beispiel Oesers soll außerdem geprüft werden, ob der Begriff der „Empfindsamkeit“, als eine wesentliche Qualität der frühen klassizistischen Kunstauffassung zu sehen ist. Die Beantwortung der Hypothese, daß diese „Eigenschaft“ sowohl mit dem intellektuellen Anspruch als auch mit der ästhetischen Struktur der Arbeiten Oesers verbun­den ist, wird das Ergebnis der Arbeit zum Ausdruck bringen.

Das künstlerische Œuvre Oesers ist im wesentlichen auf seine drei Wirkungsstätten Dres­den, Leipzig und Weimar verteilt. Bei der Fülle des umfangreichen Materials war es notwendig, eine kritische Auswahl typischer Beispiele zu treffen, um den sentimentali­stischen Stil Oesers veranschaulichen zu können. Ebenso befinden sich in den Archiven und Bibliotheken der o. g. Stätten zahlreiche Autographen von bzw. an Oeser. Die schriftlichen Quellen umfassen die Verwaltungsakten der Leipziger Kunstakademie, die sich in Dresden und Leipzig befin­den. Aus Oesers Nachlaß ist eine umfangreiche Brief­korrespondenz erhalten, die sich zum Großteil in der Autographensammlung des Oeser Biographen Alphons Dürr befindet. Um eine genaue Beurteilung des Künstlers vornehmen zu können und die vorformulierten Fra­gestellungen ausführlich zu beantworten, wurden die zahlreichen Originalquellen neu bzw. zum Teil erstmals gesichtet und ausgewertet.

So soll für die Kunstgeschichte am Beispiel des Künstlers Adam Friedrich Oeser, dessen Schaffensperiode die gesamte zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts ausmacht, ein Beitrag zur näheren Bestimmung des Begriffs der „Empfindsamkeit“ innerhalb der Kunst geleistet werden. Außerdem gilt es, Verbindungen zwischen seinem künstlerischen Œuvre, den verschiedensten zeitgenössischen geistesgeschichtlichen Strömungen und kunsttheoreti­schen Schriften herzustellen und zu untersuchen. Darauf aufbauend ist im Anschluß danach zu fragen, worin das eigentliche zeitgebundene Moment der Malerei, der Graphik, der Zeichnung sowie der Plastik Oesers besteht. Anhand eines Auswahl­kataloges soll exempla­risch aus allen Gattungen seines Œuvres die Charakteristik der Arbeiten sowohl inhaltlich als auch formal untersucht werden. Es soll darüber hinaus der Versuch unternommen wer­den, dem Künstler Adam Friedrich Oeser unter Berücksichti­gung der zeitlichen Umstände, eine angemessene Stellung in der Kunstgeschichtsfor­schung zuteil werden zu lassen. Unter anderem gibt hierzu der bevorstehende 200. Todes­tag Oesers (1999) Anlaß, seine Position aus geistesgeschichtlicher Sicht neu einzuordnen.


 

[1] Franke, Martin, Adam Friedrich Oeser und die Leipziger Akademie; in: „...die ganze Welt im kleinen...“, Kunst und Kunstgeschichte in Leipzig, Hrsg. Ullmann, Ernst, Leipzig, 1989, S. 144

[2] Dürr, Alphons, Adam Friedrich Oeser, Ein Beitrag zur Kunstgeschichte des 18. Jahrhunderts, Leipzig, 1879, S. 4. Sämtliche biographische Daten, sofern sie nicht selber überprüft wurden, werden ohne weitere Angaben von Dürr übernommen.

[3] Aussagen über Oesers Kindheit und Jugendjahre sind schwierig zu treffen, da er auch gegenüber seinen Kindern wenig Angaben darüber machte; vgl. Wustmann, Gustav, Aus Briefen Friederike Oesers, in: Quellen zur Geschichte der Stadt Leipzig, Leipzig, 1891, S. 136; ebd. Benyovszky, Karl, Adam Friedrich Oeser, Der Zeichenlehrer Goethes. Auf Grund unveröffentlichter Briefe, Leipzig, 1930, S. 50f.

[4] Im Hinblick auf Oesers Ausbildung gibt es keine Selbstzeugnisse des Künstlers. Bis in die jüngste Zeit hinein übernimmt die Forschung völlig unkritisch die oft zweifelhaften und anekdotenreichen Überlieferungen der älteren Literatur. Eine Überprüfung bzw. Richtigstellung ist für die Fragestellung der vorliegenden Arbeit unerheblich. Pückler-Limpurg und Dreißiger gehen beide davon aus, daß Oeser niemals eine akademische Ausbildung erfahren habe; vgl. Pückler-Limpurg, Siegfried v., Der Klassizismus in der deutschen Kunst, München, 1929, S. 7; Dreißiger, Christa-Maria, Denkmalsentwürfe Adam Friedrich Oesers, Diplomarbeit, (masch. unv.), Leipzig, 1971, S. 4; s. auch Stahl, Annette, Der Christuszyklus in der Leipziger Nikolaikirche von Adam Friedrich Oeser, unv. Magister-Arbeit, Freie Universität Berlin, 1993, S. 11ff.

[5] Ebenso wie die Zeit in Wien liegt der Aufenthalt Oesers in Dresden völlig im Dunkeln. Die Literatur stützt sich fast ausschließlich auf Sekundärquellen. Künstlerische Arbeiten haben sich aus dieser Zeit bis auf einige zweifelhafte Zuschreibungen nicht erhalten. Da der Schwerpunkt der vorliegenden Arbeit auf der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts liegt und in erster Linie die Zeit Oesers in Leipzig zwischen 1764-1799 behandelt, sind die ungesicherten Aussagen zu Oesers ersten zwanzig Lebensjahren hier nicht von wesentlicher Bedeutung.

[6] Benyovszky, 1930, S. 6

[7] Justi, Carl, Winckelmann in Deutschland, Bd. I, Leipzig, 1866, S. 410

[8] Oeser schreibt über die Gründe seines Weggangs aus Dresden bzw. Sachsen an den Verwalter des Grafen Bünaus, den Freiherrn Jakob Friedrich von Fritsch nach Weimar; Goethe-Schiller Archiv Weimar (GSAW) 20/I 3, 10, s. Quellentext Nr.5. Einem weiteren Brief vom 15. Juni 1752 ist zu entnehmen, daß Oeser in Bayreuth gewesen war. Es kann nur vermutet werden, daß er dort mit dem Hof in Verhandlung stand. Universitätsbibliothek Leipzig/ Handschriftenabteilung (UBL) Rep. VI 25 zh 2.

[9] Während dieser Zeit folgten noch weitere Arbeiten: für das Schloß Dahme bei Potsdam (1757), der Herzogin von Kurland und auf dem Gut Oßmannstedt (1758) der Grafen Bünau bei Weimar, dem späteren Gut Wielands.

[10] Schulze, Friedrich, Adam Friedrich Oeser der Vorläufer des Klassizismus, Leipzig, o. D., S. 60f.

[11] s. Kat. Leipzig Stadt der Wa(h)ren Wunder, 500 Jahre Reichsmesseprivileg, Veröffentlichungen des Stadtgeschichtlichen Museums Leipzig, Hrsg. Rodekamp, Volker, Leipzig, 1997, S. 262f..

[12] Hagedorn schreibt 1771 in einem tabellarischen Aufsatz über die Akademie der Künste über Oeser: [...] Aber alle Künstler, die diese Stärke besitzen, haben nicht zugleich die Gabe, die Triebfeder eines Instituts zu sein.“, Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden (SHStAD) Loc. 859 Vol. III; hier erstmals veröffentlicht. Oeser hatte die Wahl als Akademieprofessor nach Dresden oder Leipzig zu gehen; er entschied sich freiwillig für Leipzig.

Auf Oesers Tätigkeit als Akademiedirektor soll in der Arbeit nicht weiters eingegangen werden, da diese Thema in der Dissertation von Handrick, Willy, Geschichte der sächsischen Kunstakademien, Dresden und Leipzig und ihre Unterrichtspraxis 1764 - 1815, Diss. (masch., unv.), Leipzig, 1957 ausführlich behandelt wurde. Weitere Lit. Gräfe, Kristina, Adam Friedrich Oeser und die Gründung der Kunstakademie in Leipzig, in: Leipzig um 1800, Beiträge zur Sozial- und Kulturgeschichte, Hrsg. Topfstedt, Thomas; Zwahr, Thomas, Beucha, 1998, S. 127ff.

[13] Handrick, 1957, S. 11

[14] zit. nach: Nestler, Gerhard, Adam Friedrich Oeser. Eine Monographie, Diss. (masch., unv.), Leipzig, 1926, S. 138, Brief Christian Felix Weißes vom 21.2.1768 an Hagedorn.

[15] Hocquél-Schneider, Sabine, Das Gohliser Schlösschen zu Leipzig, Hrsg. Freundeskreis „Gohliser Schlösschen“ e.V., Leipzig, 2000

[16] Kreuchauf, Franz Wilhelm, Oesers neueste Allegoriegemälde, Leipzig, 1782; in: Wustmann, Gustav, Franz Wilhelm Kreuchaufs Schriften zur Leipziger Kunst 1768-1782, Leipzig, 1899,
S. 63ff. Kreuchaufs Schrift, enthält zum Teil auch ältere Beschreibungen von Arbeiten Oesers, die bereits schon in der „Neuen Bibliothek der schönen Wissenschaften und freyen Künste“ veröffentlicht wurden. In Leipzig in der Katharinenestraße 21 wurde unlängst ein fragmentarisches Deckengamälde von Oeser wiederentdeckt was derzeit restauriert wird.

[17] Der anekdotenreiche Goethekult des 19. Jahrhunderts hätte es gerne gesehen, wenn Oeser von seinem ehemaligen Schüler in Weimar eingeführt worden wäre; vgl. Geyser, 1858, S. 129; Geiger, Ludwig, Aus Briefen der Friederike Oeser; in: Westermanns Monats-Hefte, 39. Jhg., H. 353, Febr. 1886, S, 580. Oeser war schon sehr viel früher in Weimar für den Grafen Bünau und den Freiherrn von Fritsch beschäftigt; s. Briefe Oesers vom 25. Januar u. 24. Februar 1758, UBL Rep.VI 25zh 2. Vermutlich aber war Oeser schon drei Jahre zuvor dort tätig; vgl. Quellentext. Nr. 5. Offiziell wurde Oeser im August 1775 von Freiherr von Fritsch, dem damaligen ersten Staatsmann in Sachsen-Weimar, am Hof vorgestellt. Oeser sollte mit den Ausmalungen für das Wittumspalais, das vormals von Fritsch gehörte und inzwischen von Herzogin Anna Amalia übernommen wurde, beginnen. Oeser schreibt an seine Tochter, wie er, nachdem er dem Herzog und seinem Bruder vorgestellte worden war, im Anschluß an ein Konzert vom Hof begrüßt wurde: [...] Sie kamen wieder zu mir und unterhielden mich mehr als ich Sie, auf das gnädigste, der ganze Hof hatte auf einmal gegen mich ein gewißes Etwas das ich nicht vermuthen konnte, alle Die ersten Geheimden Räthe sprachen aufs gnädigste mit mir, und der Geheimde Rath von Fritsch am wenigsten mit mir, ich sah aber aus seinen Gesicht eine stille Freude die mir verriet daß alles nach seinen Willen so gut gieng und derselbe mit mir zufrieden war [...].“, Brief Oesers vom 27. August 1775 aus Weimar an Tochter Friederike, UBL, Kestner ICI 648. Von Goethe war in dem Brief nicht die Rede. Dieser siedelte erst am 7. November 1775 von Frankfurt nach Weimar über.

[18] Elias, Norbert, Die höfische Gesellschaft. Untersuchungen zur Soziologie des Königtums und der höfischen Aristokratie. Mit einer Einleitung: Soziologie und Geschichtswissenschaft, Frankfurt/M., 19926, S. 171

[19] Wenzel, Michael, Adam Friedrich Oeser und Weimar, Theorie und Praxis in der Kunst zwischen Aufklärung und Klassizismus, Weimar, 1999, S.69ff. (Veröffentlichung der gleichlautenden Magister-Arbeit von 1995, geschrieben an der Universität Heidelberg).

[20] Wiedemann, Conrad, Zwischen Nationalgeist und Kosmopolitismus. Über die Schwierigkeiten der deutschen Klassiker, einen Nationalhelden zu finden; in: Patriotismus, Hrsg. Birtsch, Günter, 4. Jhg., Heft 2, Hamburg, 1989, S. 87

[21] Rasch, Wolfdietrich, Freundschaftskult und Freundschaftsdichtung im Deutschen Schrifttum des 18. Jahrhunderts, Halle, 1936, S. 82

[22] Sauder, Gerhard, Empfindsamkeit, Bd. I, Stuttgart, 1974; Doktor, Wolfgang, Die Kritik der Empfindsamkeit, Bern, Frankfurt/M., 1975; Hohendahl, Peter Uwe, Der europäische Roman der Empfindsamkeit, Wiesbaden, 1977; Miller, Norbert, Der empfindsame Erzähler, Untersuchungen an Romananfängen des 18. Jahrhunderts, München, 1968; Hansen, Klaus P., Empfindsamkeiten, Passau, 1990; Kemper, Hans-Georg, Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit, Bd. 6/I, Empfindsamkeit, Tübingen, 1997

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