Die
zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts wurde bereits als Umbruchsphase dargestellt.
Deutlich wird dieser Wandel auch an den verschiedensten Positionen gegenüber
der Barock-Allegorie - von der Ablehnung bis zur Anerkennung als höchste Aufgabe
des Künstlers - erkennbar und bringt die Krise einer überkommenen Ikonographie
zum Ausdruck.
Am
Beispiel Oesers kann dieser Tiefpunkt in der Kunst deutlich rekonstruiert
werden. Oeser galt bei den Befürwortern der Allegorie als einer der
bedeutendsten Künstler der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Dies belegt
unter anderen sein unmittelbarer Vorgesetzter Hagedorn, der an den Dresdener
Hof über Oeser schrieb, seine „Stärke ist Geschmack,
Belesenheit, Allegorie, und nicht sowohl die Staffelei, die Dekorationsmalerei
für Deckenstücke und Theater.
Wenn Winckelmann in seinen „Erläuterungen...“ seinen Freund als
„Nachfolger des Aristides, der die Seele schilderte, und für den Verstand malete,[...].“
charakterisiert
, wird Oeser durch diesen Vergleich als ein
zeitgenössischer Maler vorgestellt, der am ehesten in der Lage war, die Gedanken
des Altertumsforschers über die Allegorie umzusetzen. Demzufolge geht Herder
davon aus, daß in Winckelmanns Erstlingsschrift auch „Oesers feiner
Geist [...] bis auf die hohe Liebe zur Allegorie in ihr bemerkbar“
ist.
Und die „Deutsche Bibliothek...“ befindet, Oeser sei
„unter den jetztlebenden Malern vielleicht auch der größte
Meister der Allegorie“.Das von Kreuchauf 1782
verfaßte Buch über „Oesers neueste Allegoriegemälde“
verweist ebenso auf eine weitere zeitgenössische Wertschätzung Oesers zu
diesem Genre. Daß Kreuchauf solch umständliche,
detaillierte Beschreibung von Oesers Allegoriegemälden herausgibt, geschieht
nicht nur allein, um den Inhalt der Oeserschen Deckengemälde genau zu
protokollieren, sondern zeigt auch, wie wichtig jene Zeit, solche poetisch
malerische Ausschweifungen nahm, die im übrigen auch mancherlei von der
geistigen Einstellung und Ausdrucksweise der Zeit verraten. Noch zu Beginn des
19. Jahrhundert empfiehlt der bereits genannte
ehemalige Oeser-Schüler Hoffmann in seinem 1817 erscheinen
Buch „Versuch einer Geschichte der
mahlerischen Harmonie...“,
daß in den Allegorien „Oesers Geist“ wehen müsse.
Die
Anerkennung Oesers als Darsteller von Allegorien durch seine Zeitgenossen und
das Unverständnis seiner Kritiker aus dem 19. Jahrhundert, zeigen, daß sich das
Verständnis für die allegorische Figurensprache gewandelt hat. Oeser wird dabei
ein Festhalten an dieser alten Formensprache unterstellt. Das folgende Kapitel
soll klären, ob dieser Vorwurf auf Oeser tatsächlich zutrifft und ob Oeser es
nicht doch versucht hat, wie schon bei der Plastik gezeigt, sich einer
vereinfachten Zeichen- und Symbolsprache zu bedienen.
Auch
wenn sich die an der Antike orientierte mythologische Allegorie in der zweiten
Hälfte des 18. Jahrhunderts noch größter Beliebtheit erfreute, fand sie dennoch
gegen Ende des Jahrhunderts ihr endgültiges Ende. Bedingt wurde diese
Entwicklung durch die Periode der Empfindsamkeit und einer durch den
ästhetischen Sensualismus erhobenen Forderung nach emotioneller und sinnlicher
Wirkung der Kunst.
Damit war gleichzeitig auch eine Ablehnung einer nur abstrakt und
verstandesmäßig vermittelten Idee durch das Kunstwerk verbunden.
Letztendlich richtet sich diese Strömung gegen die von Winckelmann vertretenen
Ansichten.
Die
neu entstandenen Themenkreise und Gedanken der Aufklärung erforderten eine
Neuerung der allegorischen Formensprache. Die versuchte Anpassung an neuartige
Motive führte aber paradoxerweise zum Ende dieser Sinnbildkunst.
Die Allegorie, losgelöst
vom lebensgestaltenden Geschmack des Rokoko, sollte nun als Mittler von Wissen
und Nachfühlen fungieren.
In dieser Doppelfunktion war sie aber überfordert. Neue Begriffe mußten mit
neuen bzw. alten mythologischen Figuren dargestellt werden, was nicht immer zu
einer eindeutigen Sprache führte.
Die Kunsttheortiker waren zuerst noch darum bemüht, eine neue
sinnbildliche Sprachordnung zu schaffen, was an den zahlreichen Neuerscheinungen
emblematisch-allegorischer Werke deutlich wird. Angefangen bei Winckelmanns 1766
erschienenem „Versuch einer Allegorie, besonders für
die Kunst“
bis hin zu Karl Wilhelm Ramlers (1725-1798) mit kritischen Anmerkungen versehene
„Kurzgefaßte Mythologie oder Lehre von den fabelhaften
Göttern, Halbgöttern und Helden des Alterthums“
(1792).
Bereits kurz nach Erscheinen von Winckelmanns „Gedanken über die
Nachahmung...“, in der er sich leidenschaftlich für die Allegorie der
„Alten“ einsetzt, tun sich Zweifel an der Richtigkeit der antiken
mythologischen Allegorie auf. Einer der Skeptiker an Winckelmanns Ideen war der
Philosoph Moses Mendelssohn:
Wenn
man die Gebete, wie Winckelmann vorschlägt, nach dem Homer malen sollte, wer
weis, ob sie nicht ebenfalls
[...] Fehler haben
möchten?“
Zu
Winckelmanns unternommenen „Versuch einer Allegorie...“ von 1766 äußert
sich Johann Jakob Volkmann (1732-1803) ebenso kritisch:
„Es
bleibt aber allemal viel undeutliches bey solchen allegorischen Figuren, weil
mancher einen anderen Begrif mit der Sache verknüpft, als des Künstlers Absicht
gewesen, und vieles auch so unbekannt und schwankend ist daß sich die Absicht
der Vorstellung schwerlich errathen läßt.“
Ramler faßt am Ende des Jahrhunderts den nicht mehr
zeitgemäßen Zustand der Allegorie zusammen. Er sieht in der Beibehaltung der
griechischen und römischen Fabellehre und die Rückbesinnung auf deren Gedichte
und Kunst lediglich ein Anliegen von Liebhabern der Künste.
Das Problem stellt sich für ihn aus der Beliebigkeit der Deutung antiker Stoffe,
die sich sowohl aus Historie, Naturgeschichte, Staatskunst, als auch der
Sittenlehre zusammensetzen. Durch die Veränderung der ursprünglichen Bedeutung
im Laufe der Jahrhunderte, oblag es allein dem Künstler, welche Eigenschaften
er den Göttern zuordnete und in welchen Kontext er sie stellte.
Durch die willkürliche Handhabung geriet das allgemeine Verständnis für die
mythologische Allegorie in die Krise. Es gab keine verbindliche Zeichensprache
mehr. Das selbe galt auch für die Verwendung von Attributen,
deren Bedeutung sich mit der Zeit veränderte und somit laut Ramler vom Künstler
variabel, je nach Bedarf, eingesetzt werden konnten.
Allegorien sind laut Ramler bloße Gleichungen, tiefere Wahrheiten weisen sie
für ihn nicht mehr auf:
„Aus übertriebenen Hochachtung
für das Alterthum haben sich Einige bemüht in jede alte Fabel, und wenn sie auch
ein Ammenmärchen währe, Lehren der Weltweisheit und Staatskunst hineinzulegen.
So viel kann man aus ihr wider herausnehmen; sehr oft aber legt ein politischer
oder philosophischer Kopf eine Lehre hinein, woran die ersten Erzähler in diesem
rohen Weltalter gar nicht gedacht hatten.“
Es
wird wenig beachtet, daß sich aus dem Verlust der eindeutigen allegorischen
Bildersprache sich im 18. Jahrhundert ein neuer Umgang mit Bildern ergibt. Es
entsteht Freude an freier Assoziation oder spielerischer Andeutung des
Gemeinten.
Die Bilder erfüllen ihren Sinn in erster Linie im
Vorgang ihrer Entzifferung. Die verklausulierten und nur den Eingeweihten
vertrauten Ereignisse und Gestalten der allegorischen Bildersprache kommen
einer Geheimsprache gleich. Es ist schwer zu sagen, was Oeser und letztendlich
seine bürgerliche Auftraggeberschicht mit der humanistischen Allegorie und ihrem
unausgesprochenen Hinweis auf umfassende Zusammenhänge eigentlich erreichen und
aussagen wollten. Die Neigung zur Verschlüsselung der Gedanken läßt an die
Praxis der damals weit verbreiteten Freimaurerbünde und Geheimlogen denken.
Oeser, der selber Freimaurer war, war somit in die esoterische Geheimsprache
dieser Verbindungen eingeweiht.
Eine Untersuchung der Allegorie in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts unter
diesem Aspekt blieb bislang aus.
Diese Art des Umgangs mit einer Bildersprache war den Oeserkritikern nicht mehr
geläufig. Und so entwickelten sie ihre nicht ganz berechtigten kritischen
Positionen gegenüber Oesers allegorischen Gemälden. Wenn Chodowiecki
Schwierigkeiten hatte, Oesers Ausmalungen und Personifikationen im Tanzsaal des
Gewandhauses in Leipzig zu „entziffern“, verweist er gerade auf das gewollt
Zeitgemäße in Oesers Bildersprache:
„Es
ist eine alegorie, aber waß sie vorstellt hab ich nicht errathen, und auch nicht
darnach gefragt. Es ist in diesem Plafont ebenso wenig Colorit, Zeichnung,
Charakter und Attribute als in den andern.“
[sic]
Chodowieckis Äußerung macht den
Auflösungsprozess der alten allegorischen Ordnungen deutlich. Nach seinen Worten
kann für ihn die Allegorie seiner rationalen Überprüfung nicht mehr standhalten.
Nicht nur die darzustellenden Inhalte waren schwer entzifferbar, auch die
Attribute waren für ihn unverständlich. Die barocke Bildersprache befand sich
sowohl im Inhaltlichen als auch in ihrer Zeichensprache in der Krise. Wie
Chodowiecki zu erkennen gibt, verliert für ihn die Figur den Ausweis ihrer
Eindeutigkeit. Für ihn war bei Oeser das Verhältnis von allegorischer Figur und
Attribut gestört. Aus diesem Grund sieht auch Ramler die Bedeutung der antiken
Götterlehre in einem völlig belanglosen Zusammenhang:
„Am brauchbarsten ist die
Mythologie für diejenigen, deren Zweck die Belustigung der Einbildungskraft ist,
für die Dichter nehmlich und die bildenden Künstler, und für diejenigen, die
sich an den Werken derselben vergnügen wollen.“
Auch der strengste
Oeser-Kritiker, der Klassizist Meyer, macht in seinen Äußerungen über Oeser auf
die allgemeine Strukturkrise der allegorischen Kunst aufmerksam:
„In der Erfindung zeichnen sie
sich
[Oesers Arbeiten]
nicht durch hohe Gedanken, wohl gewählten poetischen Schmuck oder glückliche
Allegorie aus.“
Aus derselben Richtung wie Meyer
kommend entwickelte Goethe seine Kritik an Oesers Allegorie:
„Weil er nun dabei eine
eingewurzelte Neigung zum Bedeutenden, Allegorischen, einen Nebengedanken
Erregenden nicht bezwingen konnte noch wollte, so gaben seine Werke immer etwas
zu sinnen und wurden vollständig durch einen Begriff, da sie es der Kunst und
der Ausführung nach nicht sein konnten.“
Meyer und Goethe erkennen nicht,
daß die Eröffnung unendlicher Gedankengänge nicht das ausschließliche Ziel
dieser Kunst war, sondern die Arbeiten waren bewußt auch auf eine spielerische
Verhüllung klarer Bedeutungen angelegt. Diese Position wurde von Ludwig von
Hagedorn vertreten, der meint:
„nur ein mässiges verhülltes, nicht aber ein verstecktes Geheimnis hat die
Gabe, uns zu gefallen. Dessen Auflösung reizet unsern Verstand, [...]“.
Für Hagedorn sollte die Allegorie in erster Linie „empfunden“ werden, denn,
„Was braucht man zu fühlen, wenn man erklären kann ?“
Hagedorn nimmt mit seiner Einstellung gegenüber der Allegorie zwischen den
Befürwortern und Gegnern eine Mittlerrolle ein. Er versucht, die Tendenzen des
Sentimentalismus und des Rationalismus der Aufklärung in dieser Kunstform zu
verbinden.
Auch wenn sich Oeser als
Allegorienmaler größter Beliebtheit erfreute, ging die Strukturkrise dieser
Ausdrucksform nicht problemlos an ihm vorüber. Oeser versuchte sie auf seine
Weise zu bewältigen, was im folgenden Abschnitt zu zeigen sein wird.
Wie weit ein Künstler die
kunsttheoretischen Forderungen seiner Zeit umsetzen konnte, liegt im Falle der
Allegorie auch am allgemeinen allegorischen Sprachverständnis.
Publikumsgeschmack und allegorisches Sprachverständnis der Kunstrezepienten
waren für Oeser letztendlich entscheidend für die Wahl des Motivs und die
Gestaltung eines Kunstwerkes. Aus diesem Zwiespalt entstanden die ihm oft zum
Vorwurf gemachten unverständlichen „Oeserschen“ Eigenheiten, die nicht, wie es
ihm seine Kritiker unterstellten, aus Faulheit oder künstlerischer Schwäche
entstanden.
Welche Schwierigkeiten sich für einen Künstler ergeben, wenn seine Sprache
inzwischen eine andere geworden ist, wie die, die das Publikum versteht, wird
selten erörtert. Das Problem der Eindeutigkeit der Aussagekraft der Allegorie
und die Frage nach dem Verstehen bereiten Oeser bei der Konzeption seiner
Arbeiten die meisten Schwierigkeiten. Diese Hauptfragen sollen im folgenden
Abschnitt an zwei bislang unbeachteten Textbeispielen von Oeser aufgezeigt
werden, die auch deutlich die Krise in der Kunst der zweiten Hälfte des 18.
Jahrhunderts und die damit für einen Künstler verbundenen Probleme
veranschaulichen. In zwei Briefen Oesers von 1755 an
den Verwalter des Grafen Bünau, Jakob Friedrich Freiherr von Fritsch nach
Weimar, haben sich die Beschreibungen zweier allegorischen Arbeiten erhalten. Es
handelt sich dabei um die Konzeption eines Deckengemäldes und eines
Reiterporträts auf Leinwand. Die Briefe zeigen Oesers Verlegenheit in der
Anwendung und Findung einer verständlichen Formensprache und belegen
anschaulich, welchen Verständnisschwierigkeiten seitens des Publikums er sich
bereits im Jahr 1755 gegenüber sah.
Der
erste Brief handelt von einer ausführlichen Beschreibung eines nicht mehr
erhaltenen Deckengemäldes. Oeser schreibt an den Freiherrn von Fritsch:
„Beygehend
übersende ich die Zeichnung zum Saal, ich habe verschiedene Versuche mit
Scheuchtzers Bibel gewaget,
aber sie hat mir wenig Hülfe geleistet, weil die Objecte darselbst zu klein
sind, und mein Saal bekam (?) das Aussehen einer Apotheke, also verließ ich
dergleichen Dinge, und suche das ganze Thema durch Figuren auszudrücken.“
Naturwahrheit war ein Losungswort der Aufklärung. Und so ist es wenig
erstaunlich, daß Oeser zuerst auf die Motive der von Jakob Scheuchzer
illustrierten biblischen Naturphänomene aus der sog. „Scheuchzer-Bibel“
zurückgreifen wollte. Demnach orientierte er sich hier bereits an der von
Lessing und Mendelssohn in der ersten Jahrhunderthälfte formulierten Theorie
vom „natürliche Zeichen“,
die die Kunst als Imitation der Natur auffaßte. Schon hier beginnt sich eine
Entwicklung abzuzeichnen, die in ihrem Fortgang vom „natürlichen Zeichen“
Lessings und Mendelssohns über Herders „symbolischen“ Naturbegriff bis hin zum
pantheistischen Natursymbolismus der Romantik führt.
Der
Rückgriff auf „Scheuchzers-Bibel“ deutet auf die Krise der darstellenden
Allegorie hin. Wie Oeser angibt, waren es in erster Linie formale Gründe, die
ihn von seinem ursprünglichen Vorhaben abbrachten und ihn wohl widerwillig auf
die konventionelle Figurenmalerei zurückgreifen ließen. Seine zweite gültige
Fassung des Deckengemäldes beschreibt er wie folgt:
„Oben im Plafonds ist die Betrachtung der Natur nebst dem Studio derselben; an
einer Seite die Winde wie sie die Wolken zusammentreiben, welche Gewitter
verursachen; auf der anderen Seite die Elemente. Und unten im Perspective einige
neu erfundenen Instrumente in der Physic zum ei[nen]:
die Electricitäts Maschine die dadurch erklärte Bewegung des Weltgebäudes; auf
dem Geländer liegen einige Bücher, die zur Sache gehören, darunter Scheuchtzers
Bibel mit ist. Ich glaube auf diese Art und Weise wird die Architectur nicht
verstellet, und der sicherste Weg ist unstreitig das Reelle zu wählen.“
Deutlich tritt bei dieser neuartigen Konzeption des Deckengemäldes, die im
ersten Teil des Kapitels angesprochene Problematik zu Tage. Oeser unterliegt dem
Druck eines aufgeklärten Rationalisierungsdrangs und sucht eine Verbindung
zwischen den Naturphänomenen und den modernen Ingenieurwissenschaften
einzugehen.
Letztendlich liegt in beiden
Entwürfen für das geplante Deckengemälde eine religiöse Dimension zugrunde. Die
Vorstellung einer natürlichen Religion wurde im 18. Jahrhundert als Zeugnis der
menschlichen Vernunft aufgefaßt. Diese Idee resultierte aus der unmittelbaren
Beschäftigung mit der Natur und den Naturgesetzen („Scheuchzers-Bibel“,
„Elektrizitätsmaschine“,
„Geräte der Physik“). Kennzeichnend für diese neue Auffassung war der
häufig unternommene Versuch, die Existenz Gottes aus der Ordnung der
geschaffenen Welt und der sie steuernden Naturgesetze abzuleiten. Diese
natürliche Religion wurde dann auch über den christlichen Glauben gestellt.
Für
Oeser hatte die klassische Mythologie zu diesem frühen Zeitpunkt ebenso
ausgedient. Durch die zunehmende Säkularisierung der „spätbarocken“
Deckenmalerei, geht Oeser hier rationalistischen Tendenzen der Aufklärung nach.
„Neu erfundene Geräte der Physik“ und eine „Elektrizitätsmaschine“
waren zwar „natürliche Zeichen“, mit Sicherheit aber keine gängigen
Motive für Attribute in der Deckenmalerei. Die Schwierigkeiten über das
Verständnis solcher neuartigen Schöpfungen und die sich daraus ergebende
Problematik wurden bereits angesprochen. Sein pädagogisches Programm, das er
mit seinen Allegoriekreationen verfolgte, war, die aus der Natur zu gewinnende
Erkenntnis, durch die Allegorie der „Betrachtung“ und das „Studium
derselben“ zu versinnbildlichen. Dieses für die Aufklärung typische Thema
kehrt in den Deckenmalereien des Gohliser Schlosses in Leipzig und dem Weimarer
Wittumspalais wieder. An entsprechender Stelle wird ausführlich auf das Motiv
einzugehen sein.
Oeser verhält sich bei der Wahl des Themas für das
Deckenstück völlig gegensätzlich zu Winckelmanns Erneuerungsbestrebungen, der
ein ständiges Schöpfen aus der Kunst der „Alten“ forderte:
„[...]
der erste
[Weg] ist, alten
Bildern eine neue Bedeutung zu geben und bekannte Allegorien in neuem und
eigenem Verstande zu gebrauchen.
[...]
Der zweite Weg ist, Allegorien aus Gebräuchen, Sitten und Sprichwörtern des
Altertums, wenn dieselben nicht sehr unbekannt sind zu ziehen.
[...]
Der dritte Weg zu neuen
Allegorien ist die alte sowohl heroische als wahre Geschichte, aus welcher
ähnliche Fälle auf die vorzustellende Begebenheit, oder die auf den Ort, wo sie
stehen sollen, ein Absehen haben, angebracht werden. Es muß jenes Bild aber
entweder ein einziger Fall sein, welcher nicht seinesgleichen hat, oder es muß
die Hauptfigur des Bildes aus alten Denkmalen bekannt sein.“
Oeser verwendet eigene Bildthemen. Er ordnet keiner
mythologischen Person einen allgemeinen Begriff zu, sondern richtet seine
Bildthemen bewußt auf zeitgemäße Aktualität aus. Mehrere Stellen aus seiner
Korrespondenz verweisen auf ein kritisches Verhältnis zu den
Verteidigungsschriften über die mythologische Allegorie der „Alten“
Winckelmanns. Bereits 1768 schreibt Oeser an Goethe:
„Wie vergnügt bin ich, da Sie
mir in Ihren Brief sagen, wie Sie sich mit der Kunst beschäftigen, und Ihr gutes
fühlbares Herz daß das Schöne empfindet, wird Sie für Ihren Eifer belohnen.
Laßen Sie uns immer dieses Vergnügen erweitern, laßen Sie uns über die witzigen
Köpfe von Hertzen lachen, welche glauben, es sey schon genug nur viele Sprachen
zu wißen und durch Nachschlagung, und angeführte Stellen der Alten gründlich
entscheidente Urtheile, ohne die geringste practische Kenntnis fällen zu
können.“
Oeser lehnt offenbar die Theorien der Buchgelehrten ab.
Wie es Mendelssohn als Kritiker Winckelmanns empfahl, kreierte Oeser seine
eigenen allegorischen Schöpfungen nach folgendem Prinzip:
„Mann sammelt Eigenschaften und Merkmale eines abstrakten Begriffs, und bildet
sich daraus ein sinnliches Ganzes, das auf der Leinwand durch natürliche Zeichen
ausgedrückt werden kann.“
In
dem zweiten bereits angekündigten Werk, einem Herrscherporträt, tritt Oesers
Unsicherheit bei der Verwendung von „Personalitäten“ noch deutlicher zu
Tage als bei dem bereits vorgestellten Deckengemälde. Für ihn scheint es bereits
zur Selbstverständlichkeit geworden zu sein, der Allegorie aus dem Fundus der
„Alten“ das „natürliche Zeichen“ vorzuziehen. Letztendlich war aber
entscheidend für die Wahl der Motive, der Publikumsgeschmack bzw. die Sprache,
die es zu verstehen vermochte.
Wenn
die Allegorie - vor allem zur Propagierung gemeiner humaner Ziele und zum
Lobpreis „aufgeklärter“ Fürsten - für die frühklassizistische Kunst eine
besondere Rolle spielte, so stand dabei für die Theoretiker ebenso wie für die
Künstler das Streben nach klarer Lesbarkeit solcher bedeutungsvoller Sinnbilder
im Vordergrund. Schwer oder kaum erschließbares Allegorisieren war verpönt. Wie
sehr sich Oeser in Schwierigkeiten befand, wird aus einem weiteren Brief an von
Fritsch deutlich.
Während ein zuvor erwähntes Kniestück (Abb. 68a) und ein weiteres lebensgroßes
Poträt (Abb. 68b)
des späteren Herzogs von Sachsen-Weimar-Eisenach Ernst August Constantin
(1737-1758) noch völlig ohne ein allegorisches Figurenprogramm auskommt,
beschreibt er im folgenden Text ein Reiterporträt desselben
(Abb. 69)
und die Probleme, die sich für ihn aus der Anlage des Bildes ergaben. Der im
Brief erläuterte ursprüngliche Entwurf wurde scheinbar von einem Laienpublikum
heftig kritisiert. Oeser hatte ihn so lange verbessert und verändert, bis er
allgemein für gut befunden wurde. Anfänglich entwarf er das Reiterporträt Ernst
August Constantins in einer, wie er schrieb „angenehmen Gegend“. Der
Prinz sollte in Begleitung eines „Oberhofmeisters“ und eines
„Oberstallmeisters“, die hinter ihm ritten, und eines weiteren Pagen sein.
Es ist durchaus bemerkenswert, daß es für Oeser nicht als selbstverständlich
galt, bereits in einem ersten Entwurf Allegorien zu verwenden. Er stellt den
jungen Prinzen lediglich in seiner natürlichen Umgebung, begleitet von „realen“
Figuren dar. Dennoch kamen Zweifel an der Richtigkeit der Wahl der den Prinzen
umgebenden Personen. Die Bedenken lassen sich wohl aber in erster Linie auf den
Publikumsgeschmack einer solchen Darstellung zurückführen. Oesers Unsicherheit
bestand darin: „...was wird die Welt urtheilen?“, „Was wird man in Gotha zu
diesem Bild sagen?“. Über eine kritische negative Beurteilung würde er sich
in seiner Künstlerehre getroffen fühlen, und er fürchtete, es könnte der
Eindruck entstehen, „[...] der Maler muß nichts wißen und keine
Gedanken haben !“.
Um
den höfischen Geschmack der Auftraggeber zu treffen, greift er schließlich auf
die altbewährte Formensprache zurück, indem er den Prinzen mit lauter
weiblichen allegorischen Figuren als Begleitpersonal umgibt. In der Einleitung
zu seiner Bilderklärung faßt er die Grundprinzipien seiner gewählten
allegorischen Sprache zusammen:
„Erklärung“:
„Die Haupt Absicht
bey diesem Bilde ist eigentlich auf das Portrait Ihro Hochfürstl. Durchlaucht
dem Herzog welcher hier zu Pferde erscheint. Das übrige sind allegorische
Figuren, die aus einem ungezwungenen Einfall entstanden sind neben den Zügen des
Gefühls auch zugleich Züge der Rede und der hohen Eigenschaften, welche aus
jenen hervor leuchthen, und den künftigen Zeiten die glücklichste Regierung
versprechen, auf eine ruemliche und zur Verschönerung der Wahrheit dienende Art
vorzustellen. Ihre Bedeutung wird aus folgenden erläutert werden.“
Erneut wird offenkundig, daß Oeser seine Allegorien selber kreiert hat. Die
„Züge des Gefühls“ kommen der von Hagedorn aufgestellten Forderung nach dem
auslösenden Empfindungen der Allegorien nach. Mit den „Zügen der Rede“
greift Oeser den von Hagedorn und Winckelmann vertretenen Horazischen „ut
pictora poesis“ Topos auf. Durch die „Verschönerung der Wahrheit“ spielt
Oeser auf die in der Aufklärung geforderte Natürlichkeit an. Oeser ist weit weg
von der traditionellen barocken Allegorie, er vollzieht hier eine gemäßigte
Transformierung des Gedanklichen ins Sinnliche. Beide Gegenpole sind
gleichberechtigt in seiner Komposition vorhanden. Bei der Beschreibung der
Hauptallegorie gibt Oeser als erstes an, daß er, wie Winckelmann forderte,
letztendlich gezwungenermaßen wieder auf den Fundus der Antike zurückgreift:
„Die
alten bildeten die Fama
geflügelt und gaben ihr 2 Trompeten, die eine von Gold und die andere von Silber
in die Hände. Mit der ersten sollten die Preißwürdigen und großen Thaten, und
mit der 2ten die schlechten ausgebreitet, überhaupt aber damit angezeigt
werden, daß keine Handlung, sie mögen beschaffen seyn wie sie wollten verborgen
bleibe. Dieses SinnBild nun schwebt gantz aufmerksam hinter Ihro Durchlaucht dem
Hertzog, und von dem Gegenwärtigen auf das Zukünftige schließend, ergreift sie
mit einer Art von Überzeugung die goldene Trompet. Die Hoffnung mit einem
blühenden Zweig in der Hand bekräftiget der Fama ihre Meynung. Vor dem Hertzog
stehen 2 Figuren die vorderts mit einem Diadem auf dem Kopf und mit dem
Hertzoglichen Mantel umkleidet hält in beyden Händen ein Küßen, auf welchem 2
Hertzogshüthe liegen, um die 2. Herzogthümer Weymar und Eisenach anzudeuten,
zur Seite stehet die Regierung gleichfalls mit einem Diadem auf dem Haupt, mit
Hermelin gekleidet und mit einem Commando Stab welcher mit Ranken umwunden ist,
und den sie auf das Küßen legen will, ehrfurchtsvoll stehen sie gleichsam
wartend auf den herrannahenden ZeitPunkt der anzutretenden Regierung.“
Oeser ist bemüht, eine Sprache zu sprechen, die keiner
zusätzlichen Erklärung mehr bedarf.
Seine Maxime war: Was ich sagen
will, steht da: das andere interessiert mich nicht.
Dabei befindet er sich in einer paradoxen Situation. Auf der einen Seite erkennt
er, daß sich die klassische ideale Bildsprache nicht mehr aus sich selbst heraus
trägt, auf der anderen Seite sieht er sich gezwungen, sich dem
Publikumsgeschmack unterzuordnen und über Jahrhunderte geprägte Formen
anzuwenden, obwohl die Ikonographie aus der antiken Mythologie keine
allgemeinverständliche Zeichensprache mehr war.
Ein
weiteres Beispiel dafür gibt Oesers Beitrag zu den alljährlichen
Akademieausstellungen aus dem Jahr 1766 in Dresden. Oeser schreibt klagend, daß
seine vereinfachte allegorische Sprache nicht mehr verstanden wird:
„[...]
weil es eine Sache
der hohen Landes Herrschaft ist, dieses hat mich verleitet allegorisch zu
dichten, ich sehe aber es ist dieses Feld noch zu frühe berührt, denn so lange
man bey der Allegorie nicht sich gewöhnet allgemein zu denken, und man
Personalitäten suchet, so wird man ins kleine und verwirrte fallen, und weil die
Allegorie selbst noch nicht bestimmt genug ist, so möchte man mit einem Stäbgen
dabey stehen, und es den gantzen Tag absingen, aber was hat die Kunst übrig, als
das Portrait mahlen sich über ungeschehene Dinge ausdrücken, und in den
Portraits muß man den Schneider studieren, wodurch es das Erhabene verliert.“[42]
Oeser rückte von der altbekannten Formensprache ab, die es
dem Publikum nicht mehr erlaubte, mythologische Gestalten zu suchen, vielmehr
fordert er „allgemein zu denken“. Oeser hatte offenbar einem allgemeinen
Begriff eine Allegorie zugeordnet, deren Verbindung dem Publikum noch nicht
geläufig und noch zusätzlich erklärt werden mußte. Wenn er als Beispiel den
„Schneider“ anbringt, verweist dies durchaus auf die Anforderung an die
Allegorie, wie sie Goethe bzw. Meyer in den Propyläen formuliert haben, daß der
Dargestellte auf allgemein-menschliche Wesenheiten verweist und die Handlung
sich anschaulich in ihrem bloßen Vollzug ausdrücken muß.
Berücksichtigt man die allgemeine Allegoriediskussion, die immer wieder die
Forderung nach Allgemeinverständlichkeit erhob, kann Oesers Forderung nach einer
Deutung für den Betrachter nicht aus künstlerischem Unvermögen verstanden
werden, sondern aus der Tatsache heraus, daß das Publikum eine
antik-mythologische Denkungsart nicht mehr und das neuartige Begriffsvermögen
der „natürlichen“ Zeichen noch nicht verstand. Oeser gibt zuvor
unmißverständlich zu verstehen, daß der Künstler eine zeitgemäße Sprache
sprechen muß und dabei auch eine distanzierte Haltung gegenüber Winckelmanns
antiquiertem Allegoriebegriff einnimmt.[44]
Oeser versuchte, wie gezeigt, schon seit 1755 eine vereinfachte, verständliche
Zeichensprache darzustellen und stieß dabei auf Verständnisschwierigkeiten. In
seinem Bestreben orientierte er sich eher an der nach Mendelssohn und Lessing
definierten Forderung nach einem „natürlichen Zeichen“.
Über
das Verständigungsproblem zwischen Künstler und Betrachter war sich Oeser
durchaus bewußt, ebenso, daß dabei die Sprache aus der Antike eine nicht
förderliche Rolle für die Kunst spielen würde:
„Nicht nur der tiefe Denker,
oder Altertumskenner, muß
[...]
befriedigt werden, der Mündige, muß auch darbey empfinden können, und aus
dieser Ursache, thun die simpelsten Ideen die meiste Wirkung. Wir müßen auch
nicht mit unseren Empfindungen hin und herwanken, und das Volk irre machen,
sondern nur gleichförmige Sprache führen, damit es uns verstehet, und mit
unseren Vorstellungen so bekannt wird, daß es endlich weiß was wir wollen. Der
Sinn eines Aschekruges ist zu uns herüber gekommen, das versteht ein jeder,
[...].“
Oeser
macht gegenüber Knebel auf die Sprachverworrenheit in der Kunst aufmerksam und
fordert eine verbindliche vereinfachte allgemeinverständliche Sprache in der
Kunst. Wenn er den „Aschekrug“ als vereinfachtes Zeichen anspricht, so
verweist dies erneut deutlich auf Mendelssohns Definition von einem
„natürlichen Zeichen“.
Allerdings räumt er ein, daß, wenn man sich von der überkommenen Antike abwendet
und sich zeitgenössischen Themen bzw. Motiven, zuwendet, man noch
„Anleitungen zu denken und empfinden [...] nach der Denkungsart, der
Sitten, und Begriffe der jetzigen Menschen“ geben muß.
Diesem Umstand zur Folge sind auch die ausführlichen Beschreibungen Kreuchaufs
verfaßt worden.
Am
Beispiel für eine Grabmalplastik mahnt Oeser darüber hinaus an, daß die
Gedanken, die dabei zum Ausdruck gebracht werden sollen, in Einklang mit der
Sache an sich, oder wie hier mit Taten des Verstorbenen stehen müssen:
„Es ist verhältnismäßig wahr,
daß dem guten Bürger ein Stein mit ein paar guten Worten gehört, aber nicht
immer bleibt es das Beste, das Schicklichste, sondern wird es nur, wenn sich der
Gedanke zu seiner That schickt
[...].“
In
dem hier zitierten Brief werden genau zwei Eigenschaften der Allegorie
kritisiert, die auch Lessing anmahnte. Für Lessing sagt die Allegorie der Alten
etwas anderes aus als man landläufig zu meinen glaubte, so daß aufgrund dieser
Fehldeutung ihr Sinn schwer zu entschlüsseln ist. Der Zusammenhang zwischen
Zeichen und Bezeichnetem darf nicht allein aus dem reinen Verstandesdenken zu
erschließen sein sondern aus intuitiver Erkenntnis.
Oeser erläutert Knebel seine Vorstellungen, die sich denen Lessings und
Mendelssohns anschließen, am Beispiel eines Gleichnisses:
„Als unterm Victor Amadeus Turin
belagert wurde, kam die Rettung der Stadt, auf die Sprengung einer Bastion an,
die der Feind inne hatte, man unterminierte dieselbe, und bedete einen
gemeinen Soldaten, die Mine anzuzünden. So bald er glaubte daß die meisten
Feinde auf der Bastion wären, wie dieser brave Soldat den rechten Zeitpunkt zu
haben glaubte, wandte er sich unerschrocken zu seinem Ofizier, und sagte zu ihm:
Der König sorge für meine Kinder! und sprengte sich mit in die Luft. Verdiente
dieser gemeine Soldat, der so edelmüthig seine Vaterstadt rettete, nicht etwas
mehr als einen Stein. Gelehrsamkeit ist nicht zureichend, die Wirkung zu
beurteilen, die Werke der Kunst auf die Menschen machen, ein gewißes inneres
Gefühl, Liebe und Beschäftigung damit, sind sichere Mittel.“
Für
Oeser reicht die am Verstand orientierte Sprache der Kunst eines Winckelmanns
allein nicht aus. Oeser möchte in Verbindung mit dem Verstand über eine
verinnerlichte Reflexion zu einer erweiterten Erkenntnis gelangen. Aus den
formalen Anforderungen, die Oeser an ein Kunstwerk stellt,
müssen die Empfindungen wahr und
dem Gegenstand adäquat sein. Wenn er das Beispiel vom allgemeinverständlichen
„Aschekrug“ anführt, so heißt dies, die Empfindungen müssen vom Objekt
selbst ausgehen und nicht gedanklich in das Objekt hineingelegt werden. Herz und
Kopf haben dabei dennoch in einem harmonischen Wechselverhältnis zu stehen.
Verliert durch eine falsche Sprache die Empfindung das natürliche Verhältnis zur
Realität, wie er an der Grabinschrift zu erläutern versucht, dann artet sie in
das aus, was der Empfindsamkeit in der späten Aufklärung heftige Kritik
eingebracht hatte. Die natürliche Empfindung wird nämlich dann zur Schwärmerei,
oberflächlich, äußerlich, modisch und unnatürlich.
- Das
Gohliser-Schlößchen
Als ein weiteres Beispiel für
den Umgang mit der alten Formensprache und den Versuch einer zeitgemäßen
Auslegung können die Ausmalungen des Festsaales im Gohliser Schloß bei Leipzig
gelten. Der bürgerliche Landsitz
vor den Toren Leipzigs gelangte 1770 in den Besitz des
kurfürstlichen-sächsischen Hofrats Johann Gottlob Boehme. Er ließ das Gebäude
umgestalten, und Oeser wurde die festliche Ausgestaltung der Gesellschaftsräume
aufgetragen. Das Deckengemälde entstand um 1778. Anhand einer Analyse des
Bildprogrammes soll nochmals die Problematik der Bildfindung und einer damit
verbundenen verständlichen allegorischen Sprachregelung verdeutlicht werden.
Das Deckenbild des Festsaals im Gohliser Schloß mit dem Thema „Der Lebensweg
der Psyche“ wurde von Kreuchauf ausführlich beschrieben.
(Abb. 70).
Über den Plafond verteilen sich
insgesamt vier mythologische Personengruppen.
Auf der ersten Wolkenbank lagert Apoll mit einer Lyra, von einem Glorienschein
umgeben. In Rückenansicht ist ein muskulöser Herkules dargestellt. Die zweite
Gruppe links von den beiden Göttern zeigt ca. sechs Musen mit den Attributen
einer Himmelskugel, einem aufgeschlagenen Buch und Schreibzeug. Ihnen ist Apoll
als Gott der Künste und der Weissagung zugeordnet und gilt somit als der Führer
der Musen. Oberhalb der Musen formiert sich eine Dreiergruppe, die die
„Entschleierung der Natur“ durch die „Betrachtung“ darstellt. Ihr zur Seite ruht
eine Allegorie der Architektur mit einem Kapitell als Attribut. Sie verkörpert
die Idee einer Baukunst, die sich an der Natur orientiert. Am rechten Rand des
Bildes befinden sich noch einige Putti, die ein Medaillon des Landesherrn
emportragen und die Kunst der Malerei symbolisch darstellen, die vom Kurfürsten
gefördert wurde. In der Mitte dieser Dreieckskomposition befindet sich die
Hauptgruppe des gesamten Bildes. Zweifelsfrei ist auf den ersten Blick die
Gestalt der Psyche zu erkennen, die im weiteren, falls sich der Betrachter an
das überlieferte Märchen von „Amor und Psyche“ erinnert, auf eine weitere ihr
zugedachte Figur eines Amor schließen läßt. Oeser hält sich nicht an die
literarische Vorlage, denn die zweite Figur kann nicht als Amor identifiziert
werden. Statt von einem Amor wird die Psyche von einer weiblichen Gestalt, die
ein Stundenglas in Händen hält, begleitet. Er verbindet Figurengruppen aus
verschiedenen mythologischen Stoffen und der Poesie zu einem neuen
zusammenhängenden Figurenprogramm. Die Komposition basiert somit im Einzelnen
auf bekannten Figurenvorlage mit geläufigen Inhalten, die Oeser gemäß den
Bedürfnissen seiner Zeit abwandelt und uminterpretiert.
Der Reiz solcher Bilder lag beim Betrachter im Vergleichen von Bekanntem und neu
Gestaltetem. Um das Bild allerdings annähernd vollständig zu enträtseln, mußte
man noch laut Oeser „Anleitungen zu denken und empfinden [...] nach
der Denkungsart, der Sitten, und Begriffe der jetzigen Menschen.“ geben.
Diese Aufgabe übernahm Kreuchauf in seinen Bildbeschreibungen. An den Beginn
seiner Ausführung stellt er ein Motto, das den Inhalt des Bildes knapp
zusammenfaßt:
„Nimm, edle Seele,“
sagt
das Gemälde, „des
Lebens rechten Zeitpunkt wahr, in welchem du am fähigsten bist, Wahrheiten zu
erforschen und durch deren Erkenntnis weise und glücklich zu werden.“
Den Grundgedanken, die Psyche
als eine Allegorie der Seele darzustellen, behält Oeser bei, die weiteren
Teilnehmer an der „Geschichte“ werden ausgetauscht, ebenso wie eine neue
inhaltliche Aussage kreiert wird. Oeser beschreibt den Lebensweg der Psyche als
einen allegorisch angedeuteten Tagesablauf. Apollo steht als Repräsentant der
Sonne und des Morgenlichts. Als Führer der Musen repräsentiert er ein „an den
Künsten orientiertes pädagogisches Bildungsprogramm“.
Die Psyche wird zu Beginn ihres Lebens, der durch den „Morgen“ versinnbildlicht
ist, durch die Künste gelehrt. Herkules stellt den zweiten wichtigen
erzieherischen Punkt in der Unterrichtung der jungen Psyche dar:
„[...]
da Verstand und
Tugend, die sich ihr früh mitteilen, in Apollos und Herkules Gestalt die Musen
herbeiführten, in welcher Umgang sie gebildet ward, und nun die Aufgeklärte zur
glücklichsten Stunde dem Schoße ihrer Lehrerinnen entriefen.“
Die vorgestellten mythologischen
Personen wurden zwar in einen neuen Kontext gestellt, konnten aber aufgrund
ihrer eindeutigen Lesbarkeit im einzelnen vom zeitgenössischen Betrachter
entschlüsselt werden. Spätestens bei der Begleiterin der Psyche stellt sich ein
Bruch mit der Konvention dar. Von Kreuchauf wird diese Figur ausführlich
beschrieben. Er spricht allerdings von einer männlichen Person, die die Psyche
begleitet. Die Begleitung ist eindeutig als weibliche Gestalt auszumachen. Mit
ihrem Attribut, einem Stundenglas, verkörpert sie als Chronoide, einer Tochter
des Chronos [Saturn], die verrinnende Zeit.
„Sie wird über ihnen
[den
Musen] himmelan
steigend vom Mittage des Lebens, ihrem fähigsten Führer, gelenkt
[...].
Psyche strebt fort mit ihrem holden Führer, der, selbst jung und edel, als
Beförderer des anwachsenden Vorglanzes ihrer jungfräulichen Würde, nicht sondern
Sorgfalt kühn, sie auf eine lichtvolle Bahn leitet. Sein Haupt blüht neben dem
ihrigen mit ebenso frischen Wangen und offner Stirn, ohne bezeichnende Zierden
in den Locken, und seine ganze Figur bis zu den Fersen hinab blieb frei davon,
als sei er schon in dem aus der Natur selbst genommenen Bilde völlig erreichter
Reise des menschlichen Lebens kenntlich. Deutlicher kündigt er sich ihr als
Saturns rastlosen Sohn an, der vom greisen Urvater nichts als das Hauptattribut
der Zeit bekam. Das unabgelaufne Stundenglas in der Hand, empfiehlt er ihr den
weislichen Genuß seines schnell hinschwindenden Daseins. Obschon von beiden nur
sie auf leichten Fittichen sich hebt, er aber von unsichtbaren Kräften
fortgetrieben wird, scheint es doch, daß er stärker beflügelt sei und den Flug
der Forschenden beschleunige.“
Der eigentlich als Begleiter der
Psyche zu erwartende Amor wird zu einer Chronoide, einer Göttin des Tages,
umfunktioniert. Somit kann die Psyche auch nicht mehr ihrer traditionelle
Deutung als Verkörperung der göttlichen Liebe entsprechen. Obwohl Oeser hier
eine Neuschöpfung in der Zusammenstellung der Figuren vornimmt, bleibt das
Gesamtprogramm verständlich.
Die Chronoide erhält ihre Funktion, indem sie die Abfolge der Tageszeiten als
Ordnungsprinzip und als Gleichnis den Lebensweg der Psyche verkörpert. Die
Psyche, die nun nicht mehr die göttliche Liebe personifiziert, schwebt mit ihrer
Begleiterin der Figurengruppe der „Entschleierung der Natur“ entgegen,
die Kreuchauf folgendermaßen beschrieb:
„Die Betrachtung zieht der Natur
vor der denkenden Seele den Schleier ab. Der Rest des leichten Gewandes
entfließt eben dem sichtbar werdenden Haupte im Angesichte der emporgehobenen
Psyche,
[...].
Keine künstelnde Hand hat ihr in ihrem bekannten Bilde einigen Schmuck gegeben
oder etwas umher zu ihrer Verherrlichung gethan, und die Baukunst ruht, des
Studierens müde, auf gehäuften Büchern am Fuße der aufgedeckten Bildsäule.“
Obwohl der Personifikation der
Natur keine Attribute zugefügt wurden, veranschaulicht sie aufgrund ihres
nackten Körpers, ihre Grundeigenschaft als Figur der Natur und erklärt sich
somit aus sich selbst heraus. Die personifizierte „Betrachtung“, die die „Natur“
entschleiert, repräsentiert das Sehen als einen bewußten Akt des Nachdenkens.
Der Vorgang der Enthüllung hat seine Parallele in der Enträtselung der
einzelnen Personifikationen durch den Betrachter und entspricht im Zeitalter der
Aufklärung dem Prozeß der Wahrheitsfindung durch den Menschen.
Angesichts der großen Popularität dieses Motivs, kann davon ausgegangen werden,
daß der zeitgenössische Betrachter auch ohne begleitende Lektüre das Thema „Natur-Wahrheit-Vernunft“
verstanden haben müßte. Die Natur als Vorbild im Ausbildungsgang des Menschen,
den die Psyche hier repräsentiert, ist allgemeines Ziel der Aufklärungszeit in
Deutschland. An diesem Prozeß, dem Menschen die Natur zu erschließen, sieht sich
Oeser als Künstler maßgeblich beteiligt. In seinen bereits 1764 verfaßten
moralphilosophischen Aufzeichnungen sah er seine Funktion als Künstler durch die
göttliche Gabe sanktioniert.
Der in seinem Gohliser
Deckengemälde vertretene Topos der „Naturenthüllung“ verweist in seiner
humanistischen Tradition auf die unerschöpfliche Naturwahrheit und
Naturerkenntnis. In diesem Zusammenhang schreibt er: „Wer
der Natur nachlebt, kan selten arm seyn; wer der Einbildung
nachlebt, kann nimmer reich sein.“
Um die Natur dem Betrachter zu erschließen, bedurfte es nach seiner Auffassung
des Künstlers und der Kunst, mit deren Hilfe man zur „Erkenntnis“ gelangte.
Diesen Zusammenhang stellt Oeser in einem Deckengemälde im Vorraum zum
Musiksaal im alten Leipziger Bibliotheksgebäude dar. Kreuchauf schildert es
folgendermaßen:
„Das Deckenstück schildert des
gesunden und bescheidenen Beurtheilers der Kunst treueste Führerin, die
Erkenntnis, im Schoße einer Wolke, von welcher sie, im gemilderten Glanze
ausgegoßner Klarheit, leicht umdämmert wird. Tief in forschenden Gedanken zur
Prüfung versenkt, sammelten sie alle ihr verliehenen Kräfte, bey aufgethanem
Buch und brennendem Lichte. Daneben verräth sich, unbemerkt von ihr, der
wachsende Aufklärungstrieb, im Bilde eines muntern Knaben, welcher mit der
Schere die Flamme reinigt: daß das Licht der Erkenntnis allen Augen heller
leuchte.“
Durch die Umsetzung der
mythologischen Themenkreise in „allgemeine Begriffe“ hat Oeser einen Versuch
unternommen, tradierte Stoffe einem sich wandelnden, rational denkenden Publikum
in neuer Form zu vermitteln. Durch das Wegfallen des Amors und sämtlicher
erzählerischer Elemente im Gohliser Deckenbild nimmt er eine Umdeutung des
klassischen Stoffes vor. Die Verbindung läßt den Schluß zu, daß Oeser hier ein
Konstrukt geschaffen hat, um einen zeitgemäßen aufklärerischen Gedanken
darzustellen. Der Grundgedanke des Lebenswegs der Psyche als
Entwicklungsgeschichte der Seele im platonischen Sinne wurde beibehalten. Die
klassischen Embleme können zwar über den reinen Intellekt enthüllt werden,
dennoch bleibt in manchen Verknüpfungen ein unenthüllbarer tiefsinniger Rest,
der nur in seiner literarischen Fassung entziffert werden kann. So zum Beispiel
die Frage nach der Verbindung zwischen der Psyche und der Allegorie der Natur.
Oeser gibt die Antwort für ein im Hagedornschen Sinne formuliertes „mäßiges
Verhüllen“ denn,
„Gelehrsamkeit ist nicht
zureichend, die Wirkung zu beurteilen, die Werke der Kunst auf die Menschen
machen, ein gewißes inneres Gefühl, Liebe und Beschäftigung damit, sind sichere
Mittel.“
Das selbe Thema, das Oeser für
einen bürgerlichen Auftraggeber wählte, formulierte er 1775 für das
Deckengemälde des Ballsaales im Wittumspalais der Herzogin Anna Amalia in
Weimar.
Das Wittumspalais war ihr Witwensitz, gelangte durch den literarischen Zirkel
der Herzogin, der sogenannten „Tafelrunde“ zu Berühmtheit und wurde zum
Inbegriff des Musenhofes Weimar. Das Palais stellte gleichzeitig auch einen
Musentempel dar. Die privaten Gemächer der Regentin im Westflügel des Palais
umfaßten neben dem Grünen Salon, ein Musikzimmer und ein Malzimmer. Bis 1785
bringt Oeser in jedem der Räume ihrer Funktion entsprechend allegorische
Deckenmalereien an.
Es kann vermutet werden, daß sich hinter den dargestellten Musen der Literatur,
der Malerei und der Musik eine Personifikation Anna Amalias zu sehen ist.
Die Hauptgruppe des „Grünen
Salons“ stellt eine Athena dar, die von drei leichtbekleideten Frauenfiguren
umlagert ist, eine davon überreicht ihr Blumen. Die zweite gegenüberliegende in
Untersicht dargestellte Hauptfigur eilte der Athena entgegen. Sie hält ebenfalls
in beiden Händen Blumen. So stehen sich in dem Figurenprogramm die Athena als
Schutzgöttin der Künste und vier Allegorien als „Naturwahrheiten“ gegenüber.
Seine Fortführung erfährt das ikonographische Programm in den beiden neben dem
Grünen Salon liegenden Mal- und Musikzimmer.
Den Höhepunkt bilden die
Ausmalungen des Hauptraumes, dem ein Stockwerke höher liegenden Ballsaal (Abb.
71). Das allegorische Personal setzt sich hier aus zwei Gruppen zusammen. Oben
links lagert eine Gruppe von drei weiblichen Gestalten, wobei die eine mit dem
Attribut eines Kapitells die Architektur vorstellt und somit in Ergänzung zu
den bereits drei genannten Musen der Literatur, der Malerei und der Musik im
unteren Stock tritt. Die beiden weiteren Figuren Mildtätigkeit und
Gerechtigkeit tragen als Attribut ein Rutenbündel und eine Reitgerte. Sie
dürften auf Anna Amalias milde Strenge und gerechte Gesinnung während ihrer
Regentschaft und der Zeit danach anspielen. Die Hauptgruppe des Deckengemäldes
stellt erneut eine Athena mit einem Helm und eine Personifikation der Natur mit
entblößtem Oberkörper und einem Füllhorn als ihr Attribut dar. Die Frauen lagern
auf einer Wolkenbank. Die Gruppe wird von einem baldachinartigen Tuch, das von
Putten getragen wird, bekrönt. Daß auch hier die Athena als Göttin der Künste
Anna Amalia zugedacht war, liegt auf der Hand. Oeser bezeichnete die Herzogin in
einem Brief als „durchlauchtigste Schutzgöttin der
Kunst“,
einige Jahre zuvor schrieb er an Knebel, er wolle eine Marmorbüste der Herzogin
anfertigen, er wünschte das Bildnis der Herzogin
„als Minerva oder Muse
aufzustellen“.
In Anna
Amalias Sommerschloß in Tiefurt wurde aus Porzellan eine Figur der Pallas Athena
aufbewahrt, die wohl symbolisch die musischen Neigungen der Herzogin
symbolisierte. Christoph Martin Wieland schrieb 1784 an Johann Heinrich Merck
(1741-1791):
„Unsere Herzogin-Mutter scheint
an allen Qualitäten, die eine Fürstin allen Mensche, die Zutritt bei ihr haben,
lieb und verehrenswert machen müssen, mit jedem Jahre zuzunehmen. Sie ist unsere
Pallas und unser Palladium zugleich, und ich begreife nicht, wie wir ohne sie
existieren wollten.“
Der eigentliche Bedeutungsinhalt
des Gemäldes im Wittumspalais ist auf dieselbe Formel zu bringen, wie beim
Gohliser Deckengemälde. Die Nacktheit der Natur symbolisiert den Begriff der
„Naturwahrheit“. Ihre Entschleierung, die durch das aufgehobene Tuch dargestellt
wird, führt zu einer weiteren Erkenntnis über die Natur, was nur mit den Mitteln
der Kunst erreicht werden kann.
„Athena“ umarmt die „Natur“ schwesterlich, beide weisen sie in die Richtung der
Räume im unteren Stockwerk, dem Tafelrundenzimmer, dem Mal- und Musikzimmer, was
auf ihre untrennbare Einheit und den gemeinsamen zu beschreitenden Weg
hindeutet.
„Naturwahrheit“ und „natürliche
Empfindung“ sind, wie die besprochenen Deckengemälde zeigen, zwei Grundmaxime
der Aufklärung, die seither in umfangreichen allegorischen Bildprogrammen
veranschaulicht werden. Diese komplexen Konstrukte wurden von Oeser mitunter
auch in einer zusammenfassenden Form eines natürlichen symbolhaften Zeichens
dargestellt. Als künstlerisches Motiv gab es hierfür nur eine Lösung, nämlich
das Kind als „natürliches Zeichen“. Oft als überkommene Form der barocken Putti
abqualifiziert,
gewinnt es bei Oeser eine eigene Bedeutung, aus der heraus eine Entwicklung bis
hin zur Romantik ihren Lauf nimmt. Oeser, der
„Kinderfreund“,
denkt bei seinen Kinderszenen in erster Linie an „reale“ Kinder anstatt an
barocke Engelskinder nach dem Vorbild antiker Eroten. Eine Ausstellungskritik
aus dem Jahr 1755 schreibt: „Oeser hat sich dieses Jahr
in Kinder verliebt, und diese macht er immer ausnehmend schön“.
Dem „Kind“ als künstlerisches Ausdrucksmotiv kommt in Oesers Werk eine besondere
Bedeutung zu, da sie in allen Kunstgattungen zu finden sind. Die früheste
bekannte Kinderdarstellung ist das Rezeptionsbild für die Dresdener
Akademieausstellung von 1766. Oeser stellt hier seine eigenen vier Kinder als
Allegorie der Künste dar (vgl. Abb. 6), am signifikantesten sind die
Kindermotive des Gellert-Denkmals (vgl. Abb. 2), die als ein Zeichen einer
natürlich empfundenen Trauer stehen.
Daß Oeser auch von der aktuellen
zeitgenössischen Aufklärungspädagogik nicht unberührt blieb, zeigen folgende
Beispiele. Kindern das freie Spiel zu ermöglichen, war eine Grundmaxime der
Reformpädagogik, der Philantropen Basedow, Campe und Pestalozzi. Diese Gedanken
beschreibt Oeser in einem Entwurf für ein nicht ausgeführtes Deckengemälde:
„Die Belohnung sitzet in dem
Wolcken, und theilet ihre verschiedenen Gaben aus. Ich glaubte daß dieser
Gedancke sich in das Ringel-Rennen schicken möchte, und machte einige Kinder die
zum Spiel gehen vorn noch dazu
[...].“
Oeser
beschreibt mit der Allegorie der „Belohnung“ ein weiteres, von der
Aufklärungspädagogik neu entdecktes Mittel der Kindererziehung. Ursprünglich
ausgehend von Basedow, war dies auch eine von Gellert propagierte Maßnahme der
Kindeserziehung.
Kreuchauf beschreibt in einem weiteren Deckengemälde nochmals Kinder, die hier
in ihrer Natürlichkeit die zwangfreie Natur verkörpern:
„Hier versammelte sich ein
kleiner Haufen ungeschmückter, gewandloser Kinder, edle Geschöpfe, die gesellig
und mutvoll; so wie sie aus der Hand der guten Mutter Natur hervorblühten, sich
der ersten Empfindungen des Lebens freuen.“
Im Sinne Novalis´ (Friedrich von
Hardenberg 1772-1801) entsteht eine Gegenwelt zur zivilisatorischen Welt. Der
Dichter schreibt: „Wo Kinder sind, da ist ein goldnes
Zeitalter.“
Natürlichkeit, Unbefangenheit, aufklärerische Neugier
waren die wichtigsten Eigenschaften, die Kinder verkörperten. Frei von jeglicher
zivilisatorischer Konditionierung waren sie in der Lage, sich natürlich zu geben
und zu empfinden.
Das Ziel „Natürlichkeit“
darzustellen, wurde auf unterschiedliche Weise verfolgt. Ende der 70er Jahre
erschien Chodowieckis Bilderserie „Natürliche und
affectirte Handlungen des Lebens“.
Das von Oeser wie Chodowiecki verbildlichte
„Sozialisationsideal“
und auch die damit verbundene Kritik an der gekünstelten Zivilisation ist bei
beiden Künstlern dasselbe. Ihre Formensprache kann allerdings nicht
unterschiedlicher sein. Chodowiecki konnte aus naheliegenden Gründen an Oesers
Kindern nichts finden. Die völlig verschiedenartige Herangehensweise an ein und
dasselbe Thema, veranlaßte Chodowiecki sogleich auch am Formalen Kritik zu üben.
In ihren Darstellungen waren seiner Meinung nach Oesers Kinder zu leblos „der
Leib ist wie ein Sack, der Hinterste mager, und die Beine immer Paralel
gestellt.“ [sic]
In seinen moralphilosophischen
Aufzeichnungen, widmet Oeser den Kinder einige Zeilen, was auf deren
tiefergehende Bedeutung für ihn schließen läßt:
„Viel Gelehrsamkeit zeigt, wie
wenig die Sterblichen wissen;/
viel Güter zeigen, wie wenig die Welt Kinder genießen/
können. Aufs höchste belustigen sie uns mit unendlichen Pup-
penspielen, und erhalten uns in der Kindheit, bis wir zu/
Staub zerfallen.“
Oeser
sieht neben der Empfindung einer Natürlichkeit im kindlichen Verhalten noch
einen anderen Aspekt, dessen sich die damals „zivilisiert“ Welt nicht mehr
bewußt war. Kinder können durch ihr Verhalten dem Erwachsenen Vergnügen bereiten
und in ihm die „kindliche Seele“ im Sinne einer natürlichen Reaktion bewahren.
Das Streben nach Wissen und Besitztum hat den Menschen unfähig gemacht, mit
Freude Kinder zu genießen. Deutlich tritt hier eine bürgerliche
Zivilisationskritik hervor. Im selben Zusammenhang bemerkt Schiller in seiner
Schrift „Über naive und sentimentalische Dichtung“ zur kindlichen Natur:
„Besonders stark und am
allgemeinsten äußert sich diese Empfindsamkeit für Natur auf Veranlassung
solcher Gegenstände, welche in einer engern Verbindung mit uns stehen und uns
den Rückblick auf uns selbst und die Unnatur in uns näherlegen, wie z.B. bei
Kindern und kindlichen Völkern.“
Das Kind steht als
Hoffnungsträger für die Zukunft einer besseren Welt und gleichzeitig als
Diesseitsbejahung. Mußten sich die mythologischen Allegorien Winckelmanns
zwangsläufig in erster Linie an den Verstand wenden, so richteten sich die
Kindergestalten Oesers in ihrem Symbolgehalt an das Gefühl.
Das künstlerische Interesse,
Kinder darzustellen, beschreibt Oehler anhand der zahlreichen
Kinderdarstellungen in Oesers´ Buch-Vignetten (vgl. Abb. 3 u. 4), die fern
jeglicher antikisierende und allegorisierende Formensprache waren, denn:
„Der Beweggrund zu dieser
häufigen Verwendung des gleichen Motivs kann nur die gesunde Künstlerfreude an
der unverfälschten Natur, an der köstlichen Naivität des künstlichen Körpers
gewesen sein.“
und diese
realistischen Elemente, schreibt Oehler weiter, sind
„aus dem selben Quell hervorgequollen wie das große Interesse für alle
Naturgegenstände“.
Als weiteres Beispiel aus Oesers
Werk kann hier der Jahreszeitenzyklus mit Kindern angeführt werden (Abb.
72-75). Die hier gezeigten Kinder blicken nicht aus dem Bildraum hinaus, sondern
sind völlig von ihrem Spiel erfüllt, von dem sie, wie der Wirklichkeit
entrückt, völlig absorbiert zu sein scheinen. Die kleinen halbnackten, molligen
Kinder, verweisen auf den Satz von Ovid [43-18 n. Chr.]:
„omnia mutantur nihil interit“
und somit auch auf das Wesen des Zyklischen. Nicht Anfang und Ende, keine
Endstation Winter, die in Kohle und Feuer das Gewesene repräsentiert, sondern
die Kinder vollenden im winterlichen Bild den Wechsel von Wachsen, Blühen und
Reifen. Ihre Blumen, Insekten, Ähren, Trauben und Kastanien stellen nicht die
Negation von Verblühen dar, sondern veranschaulichen den Zyklus von Heranreifen
und Gedeihen bis hin zur Ernte (Ähren, Kastanien). In ihrem Zusammenhocken
stellen die wie aus Porzellan geschaffenen Kinder die Jahreszeiten dar, deren
Früchte sie gemeinsam betrachten und einander reichen.
Der Jahreszeitenzyklus
entspricht in mehrfacher Weise den Intentionen der Aufklärung und verbildlicht
zwei Grundlagen aus Pestalozzis Reformpädagogik: die Erziehung in freier Natur
und das sich gegenseitige Unterrichten der Kinder.
Die Kinder erkunden im Spiel die verschiedensten Wahrheiten der Natur. Im
Frühling untersuchen sie mit einer Lupe Insekten, der Sommer läßt sie mit dem
Spiel der Flöte (den Künsten) beschäftigen, im Herbst lesen sie aus den
Idyllendichtungen des Theokrits, im Winter beschäftigen sie sich mit den
Früchten der Natur (Kastanien) und dem Naturelement Feuer. Das Kind wird zum
Symbol des natürlichen Verhaltens und Umgangs mit der Natur, es erfährt
Erkenntnis aus der Beschäftigung mit der Natur und ihrer Beobachtung. Ein
Hilfsmittel dazu war die Kunst, die die Natur näher erklären konnte.
Bei der Betrachtung dieser
Kinderdarstellungen ist man geneigt, den Herderschen „Natursymbolismus“ zu
erproben. War das natürliche Zeichen bei Mendelssohn und Lessing noch als reine
Naturimitation aufgefaßt, können die Oeserschen Kinder bereits nach Herders
Definition als „Symbole“ einer Naturerscheinung aufgefaßt werden, was zu dem
späteren Begriff eines religiösen „Natursymbolismus“ führt,
der erst in der Romantik voll ausgebildet und bei Philipp Otto Runge zu einem
Motiv naturmystischen Christentums wurde.
Schiller beschreibt das Kind bereits im Sinne der Romantik als einen
„heiligen Gegenstand“:
„Das Kind ist uns daher eine
Vergegenwärtigung des Ideals, nicht zwar des erfüllten, aber des aufgegebenen,
und es ist also keinesweges die Vorstellung seiner Bedürftigkeit und Schranken,
es ist ganz im Gegenteil die Vorstellung seiner reinen und freien Kraft, seiner
Integrität, seiner Unendelichkeit, was uns rührt. Dem Menschen von Sittlichkeit
und Empfindung wird das Kind deswegen ein heiliger Gegenstand sein, ein
Gegenstand nämlich, der durch die Größe einer Idee jede Größe der Erfahrung
vernichtet; und der, was er auch in der Beurteilung des Verstandes verlieren
mag, in der Beurteilung der Vernunft wieder in reichem Maße gewinnt.“
Herder schildert die Eindrücke
der Natur während der Kindheit und Jugend als die, die am nachhaltigsten wirken.
Nur Kinder sind es, die in ihrer naiven natürlichen Unbefangenheit die Natur
wahrnehmen können. In ihrem Naturerleben spiegelt sich die innere Gemütshaltung
in ihrem äußeren Ausdruck wieder:
„Wenn der Lenz erwacht, erwachen
wir und fühlen in ihm den Lenz unsres Lebens; mit jeder Blume spriessen wir auf,
wir blühen in jeder Blüthe. Uns klappert der wiederkommende Storch, uns singt
die Nachtigall und die Lerche. An der Munterkeit und dem neuen Frühlingsleben
jedes Geschöpfs nehmen Kinder brüderlich=schwesterlich Antheil. Idyllen sind die
Frühlings= und Kinderpoesie der Welt, das Ideal menschlicher Phantasie ihrer
Jugendunschuld. Aber auch jede Scene der Natur in allen Jahreszeiten hat für
gesunde Menschen ihr Angenehmes, ihr Schönes; Sommer und Herbst, selbst der
rauhe Winter. Thätigkeit ist die Seele der Natur, mithin auch Mutter alles
Genußes, jeder Gesundheit.“
Als ein herausragendes Beispiel für Oesers
Allegorienkunst gilt der Theatervorhang (Abb. 76) für das 1766 neu eröffnete
Leipziger Komödienhaus (Altes Theater), das auf eine nahezu zweihundertjährige
ruhmvolle Vergangenheit zurückblickte. Kein Leipziger Kunstwerk dürfte im
zweiten Drittel des 18. Jahrhunderts besser bekannt gewesen sein.
Über den Vorhang verfaßte der Leipziger Dichter und Professors der Philosophie
Christian August Clodius (1738-1784) folgende Zeilen:
„Mit Hagedorns Geschmack und
Raphaels Genie/ Und Rubens kühner Meisterhand/ Trägt Oeser, unterstützt von der
Allegorie/ Das Schicksal des Cothurns auf beredt Gewand;/ Die Wahrheit giebt ihm
Stoff, und ordnet sein Gedicht/ Zum Ruhm des Tempels, den er weyht,/ Die Grazie
den Reiz, Empfindung, Feinheit, Licht;/ Er krönt den Sophokles
[497/96-406
v. Chr.], ihn die
Unsterblichkeit.“
Selten wurde ein Gemälde während dieser Zeit
häufiger beschrieben, gedeutet, auch mißverstanden und war deshalb Gegenstand
entsprechender Kontroversen. Der Theatervorhang wurde auch von dem Oeserfreund
Kreuchauf nach einer Skizze des Theatervorhangs im Wincklerschen Kabinett,
beschrieben. Kreuchauf verfaßte allerdings keine eigenen Text, sondern er
übernimmt den von dem Leipziger Dichter Clodius gehaltenen Eröffnungsprolog zur
Veranschaulichung des perspektifisch-illusionistischen Kunstwerkes.
Daß Kreuchauf die von Clodius verfaßte umständliche, detaillierte Beschreibung
erneut wiedergibt, geschieht nicht nur allein um den Inhalt der Oeserschen
Vorhangmalerei so genau zu protokollieren, sondern zeigt auch, wie wichtig jene
Zeit solche poetisch malerische Ausschweifungen nahm, die im übrigen auch
mancherlei von der geistigen Einstellung und Ausdrucksweise der Zeit verraten.
Clodius beschrieb den Vorhang mit:
„Zween Säulengänge, nach
Dorischer Ordnung, umstellen den runden Vorhof des Tempels der Wahrheit, welchen
man entfernt in der Mitte siehet. Er ist von allen Seiten offen, und läßt die
von aller Bedeckung entblößte Bildsäule der gefälligen Göttin sehen, die den
Herzutretenden die offenen Arme zeigt. Beym Eingange des Vorhofes, mitten auf
dem Gemälde, stehen die in Bronze gegossenen Bildsäulen des Sophokles und
Aristophanes
[445-385 v. Chr.],
der größten dramatischen Dichter
[...].
Auch die andern großen Dramatiker des Altertums sind vertreten. Hinter den alten
Dichtern
[...]
stehen einige ihrer deutschen und französichen Nachahmer. Im
Vorhofe sieht man den unnachahmenden Shakespear, welcher die alten Originale
vorbeygegangen ist, gerade dem Tempel der Wahrheit zu eilen.“
Den zentralen Gedanken Oesers,
einen „Tempel der Wahrheit“ vorzustellen, griff Clodius in seiner Eröffnungsrede
bereits bei der Charakterisierung des Komödienhauses mit folgenden Zeilen auf:
„Du, Tempel des Geschmacks, der
Wahrheit aufgestellt,/ Die lachend, durch den Reiz der Grazien, gefällt;/
Ehrwürdig Monument, geschaffen, künft´gen Zeiten/ Empfindung und Geschmack und
Künste zu verbreiten;
[...].“
Das
Leipziger Theaterpublikum nahm die ersten deutschen Aufführungen von William
Shakespeares (1564-1616) Dramen begeistert auf, und Oeser war einer der ersten
bildenden Künstler in Deutschland, der sich dem von den Literaten neuentdeckten
englischen Poeten annahm.
Der Umschwung, der sich nun auf den Bühnen Leipzigs durch die Dramen und
Dichtungen Shakespears vollzog, wird in Oesers Theatervorhang signifikant.
Shakespeare galt als ein Dichter fern jeder Regelstrenge, seine Dichtungen
ermöglichten die Ablösung von der am antiken Versmaß orientierten Poesie und den
antiken Dichtern, was von den Stürmern und Drängern der Geniezeit begeistert
aufgenommen wurde. Der Künstler sollte von nun an aus seiner eigenen natürlichen
Begabung heraus schöpferisch tätig sein und so Werke schaffen, die der Natur am
ähnlichsten werden. Wenig wird beachtet, daß Oeser dieses zukunftsweisende
Leitmotiv für die Kunst 1766 in seinem Vorhang bereits verbildlichte.
Der
Vorhang zeigt links im Vordergrund einen Putto, der auf eine Theaterdekoration
einen Baum bzw. Zweig malt. Bei genauerer Betrachtung ist festzustellen, daß der
gemalte Zweig nach oben wächst und bereits über die Malfläche hinaus ragt. Oeser
stellt hier den Gedanken eines dialektischen Kunstprinzips vor. Zum einen, daß
die Natur nur mit den Mitteln der Kunst erklärt und nachgeahmt werden kann, zum
anderen, daß eine vollendete und wahre Kunst nur aus einer inneren Natürlichkeit
heraus zu erreichen ist. Der von Oeser dargestellte Putto versinnbildlicht, als
reales gedachtes Kind, daß er in seiner ganzen Ungezwungenheit nicht den
akademischen Grundsätzen unterliegt, sondern frei und unbefangen in seinen
künstlerischen Ausführungen ist. Oeser vertritt hier eine Kunstanschauung, die
bei der ab 1785 erfolgten Umgestaltung der Nikolaikirche zum Programm werden
sollte. Das Motiv der Palmzweige, die aus den Kapitellen der Säulen
herauswachsen, unterliegen demselben Grundgedanken,
wie er fast zwanzig Jahre zuvor auf Oesers Theatervorhang in einem
„Nebengedanken“
dargestellt wurde. Es kann davon ausgegangen werden, daß Oeser nicht nur die
malerische Ausgestaltung der Nikolaikirche oblag, sondern er auch die
architektonische Umgestaltung maßgeblich mitbeeinflußte.
Goethes Beschreibung des Theatervorhanges im 8. Buch von Dichtung und Wahrheit
war nicht ganz frei von Ironie und Kritik, er schrieb:
„Doch machte die Erbauung des
neuen Theaters zu meiner Zeit das größte Aufsehen, in welchem sein
[Oesers]
Vorhang, da er
noch ganz neu war, gewiß eine außerordentlich liebliche Wirkung that. Oeser
hatte die Musen aus den Wolken, auf denen sie bei solchen Gelegenheiten
gewöhnlich schweben, auf die Erde versetzt. Einen Vorhof zum Tempel des Ruhms
schmückten die Statuen des Sophokles und Aristophanes, um welche sich alle
neueren Schauspieldichter versammelten. Hier nun waren die Göttinnen der
Künstler gleichfalls gegenwärtig und alles würdig und schön. Nun aber kommt das
Wunderliche! Durch die freie Mitte sah man das Portal des fernstehenden Tempels,
und ein Mann in leichter Jacke ging zwischen beiden obgedachten Gruppen, ohne
sich um sie zu bekümmern, hindurch, gerade auf den Tempel los; man sah in daher
im Rücken, er war nicht besonders ausgezeichnet. Dieser nun sollte Shakespearen
bedeuten, der ohne Vorgänger und Nachfolger, ohne sich um die Muster zu
bekümmern, auf seine eigne Hand der Unsterblichkeit entgegengehe.“
Diese Schilderung des
Theatervorhang gibt eine leisen, aber doch deutliche Spöttelei zu erkennen, daß
Goethe Oesers künstlerische Lösung für nicht mehr ganz gelungen erachtete. Bei
einem genaueren Vergleich der beiden Beschreibungen von Clodius´ und Goethe
fällt auf, daß Goethe mit seiner Veranschaulichung des Vorhangs aus der
Erinnerung heraus mit der Clodius´ nicht ganz übereinstimmt. Während Clodius die
architektonische Illusionsmalerei Oesers als einen „Tempel der Wahrheit“
bezeichnet, sieht Goethe darin einen „Tempel des Ruhmes“. Die erste
zeitgenössische Beschreibung kommt wohl eher den Vorstellungen Oesers entgegen,
zumal er das Thema der Wahrheit bzw. Wahrheitsfindung durch die Künste mehrfach
in Deckengemälden des Gohliser Schlosses oder im Wittumspalais darstellte.
Der Oeserschen
Shakespearedarstellung als Rückenfigur konnte Goethe ebenfalls nur eine
spöttische Bemerkung abgewinnen. Über die Bedeutung und Popularität Shakespeares
in England lieferte Voltaire eine äußerst bildhafte Deutung, die gerade für
einen Künstler des 18. Jahrhunderts reizvoll gewesen sein mag, sie auf Leinwand
darzustellen. Oeser dürfte bei seiner Shakespearedarstellung Voltaires Gedanken
gefolgt sein. Der französische Philosoph bescheinigt Shakespeare die Bedeutung
eines Genies, was es ihm erlaube, sich über sämtliche Regeln und Traditionen der
antiken Dichtung hinwegzusetzen. Voltaire schreibt hierzu:
“Das ist die Freiheit des
Erfindergenies: Er bahnt sich einen Weg den niemand vor ihm beschritten hat, er
eilt kunstlos ohne Leitlinien; er verliert sich in seinem Lauf, indessen läßt er
alles weit hinter sich was nur Vernunft und Genauigkeit ist.“
Nicht nur aus mangelnder
physiognomischer Kenntnis mußte Oeser Shakespeare als Rückenfigur darstellen,
auch aus der Voltairschen Vorstellung heraus, daß Shakespeare sämtliche antiken
Dichtervorbilder hinter sich läßt und über Seitenwege seinen eigenen Weg zum
Ziel, dem Tempel der Wahrheit findet.
Der Vorhang vereinigt drei
verschiedene Stilepochen, die den Stilpluralismus der zweiten Hälfte des 18.
Jahrhunderts deutlich werden lassen: „das malerische
Grundgefühl ist klassizistisch, die architektonische Anlage ist barock empfunden
und im Detail finden sich rokokohafte Züge.“
Oeser sah sich hier zwar in seiner Formensprache noch alten Traditionen
verbunden, orientierte sich aber inhaltlich an einer zukunftsorientierten
Kunstanschauung. Der Vorhang macht einmal mehr deutlich, daß sich noch lange
bevor der Höhepunkt der klassizistischen Antikenrezeption um 1800 erreicht war,
bereits eine Gegenströmung in der Kunst und Literatur sich abzeichnete, der sich
auch Oeser verpflichtet sah. Mit seinem am Naturalismus orientierten
Kunstprinzip, die erstmalige Verwendung der Figur Shakespears in einem groß
angelegten öffentlichen Kunstwerk, war Oeser an der Verbreitung dieser neuen
Kunstanschauung beteiligt und sah sich nicht mehr ausschließlich der
Winckelmannschen Antikenrezeption verpflichtet.
Vielmehr verhalf Oeser mit den Leitgedanken: „Kunst aus der Natur“ und „Natur
aus der Kunst“, einen Naturalismus vorbereiten, wie er in seiner reinsten
Ausprägung dann erst im 19. Jahrhundert erreicht wurde.
Oeser ist in der Mitgliederliste der Leipziger Freimaurerloge „Balduin zur
Linde“ unter der Matrikelnummer 20 aufgeführt; in: Die Freimaurerloge
Balduin zur Linde in Leipzig, Leipzig, um 1926, Geheimes Staatsarchiv
Preussischer Kulturbesitz Berlin (GStPKB) 5.2.L 18, Nr.
68. Dem Protokoll vom 11. 6. 1776 ist zu entnehmen, daß „nahmentlich,
Adam Friedrich Oeser, der Zeichnungs-, Mahlerey- und Architecturakademie in
Leipzig Direktor, und Professor der Academie in Dresden, evangh. Luth.
Religion, bey derselben nach geleistetem Handschlag als rechtes und
würkliches [sic.] Meistermitglied angenommen“ wurde. Die Aufnahme
erfolgte „einstimmig von allen anwesenden Logenbrüdern“; GStPKB 5.2.
L 18 Nr. 220, Protocoll 1776-79 Bd. I). Ab dem 25. Juli 1783 wird Oeser laut
Protokoll nur noch als Ehrenmitglied geführt (GStPKB 5.2. L 18 Nr. ?), in
den folgenden Mitgliederlisten fehlt sein Eintrag (GStPKB 5.2. L 18 Nr. 223,
Protokolle 1787-88 Nr. V). Oeser war folglich nur von 1776 bis 1783 Mitglied
der Leipziger Freimaurerloge „Balduin zur Linde“; vgl. Lit.: Schlesinger,
Joachim, Die Freimaurer in der Stadt Leipzig, Leipzig, 1993,
S. 66
W. A., Bd. 31, Abth. 1, Bd. 27, S. 156f.