goethe


Georg Jäger

Rezeptionsdokumente zu Plenzdorfs Neuen Leiden des jungen W.

G. J.: Die Leiden des alten und neuen Werther (Literatur-Kommentare 21) München: Carl Hanser 1984, S.147-171. Redaktionell bearbeitet.

Inhalt

Zugehöriger Aufsatz:

»Ein Werther der DDR:

Plenzdorfs Neue Leiden des jungen W. im gespaltenen Deutschland«

http://www.goethezeitportal.de/index.php?id=154


Die Diskussion in der DDR

1. Robert Weimann: Goethe in der Figurenperspektive. In: Sinn und Form 25. 1973. H. 1. S.222-38. Mit dem Diskussionsbeitrag von Wieland Herzfelde, S. 238-40. Auszüge.

[...] Dies sei der Ausgangspunkt: Das höchst widersprüchliche, konfliktreiche Verhältnis des Individuums Edgar Wibeau zu unserer gegenwärtigen Gesellschaft wird im Spiegel des »Werther«, das heißt im Gleichnis poetisch gestalteten Verhältnisses zu einer vergangenen Gesellschaft, näher bestimmt, präzisiert, vielleicht sogar verändert. Eine Interpretation, die diesen merkwürdigen Vorgang erfassen und in der möglichen Ergiebigkeit und in der möglichen Begrenztheit seiner Gestaltung herausarbeiten will, wird nicht beim Helden des Goetheschen Briefromans, sondern bei dessen Funktion im modernen Werk ansetzen und diese Funktion im Aufbau des jugendlichen Verhältnisses zur Gesellschaft, zur Arbeit, zur Geliebten, zum Freund im Brennpunkt von Weltanschauung und Formgebung begreifen. Unter diesem Gesichtspunkt erweist sich sogleich die Zweischichtigkeit des Werther-Bezugs: Er wirkt im Gefüge der durch Figuren bewegten Handlung, die eine gewisse, noch näher zu betrachtende Parallele mit dem Geschehen im klassischen Briefroman besitzt; und er wirkt auf der Ebene der durch Goethe-Zitat verschlüsselten Selbstaussage des Helden. Die Darstellung des zeitgenössischen Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft wird daher zweifach vermittelt: durch das verbale Zitat aus und durch die strukturelle Parallele mit dem »Werther«. Diese zweifache Bezüglichkeit entspricht der Werther-Lektüre des Helden (und damit einer naiven Aneignung des Klassikers aus jugendlicher Sicht) und sie umschließt den Entwurf und den Ablauf der Handlung (und damit die gestaltete Bewußtheit in der Werther-Rezeption des Autors). Obschon die Werther-Lektüre des Helden gänzlich in seiner Figurenperspektive aufgeht, wird diese im Ablauf der Handlung durch die Perspektiven anderer Figuren durchkreuzt (und relativiert), aber doch nicht in ihrer Dominanz beeinträchtigt. Dennoch stehen beide Bezugsebenen, das Werther-Zitat und die Werther-Fabel, in einer bestimmten Wechselwirkung: Erst dort, wo als Resultat ihrer Wechselbeziehungen die Naivität der Figuren und die Bewußtheit der Gestaltung eins werden, können sich Kritik und Tradition in der Aneignung des Erbes verbinden und in ihrer Verbindung das tiefere Relief abstecken, vor dem sich weltanschaulicher Gehalt so ganz in sinnlich-figürlicher Gestalt verbildlicht.

Doch dies ist vorerst die allgemeine (und recht abstrakte) Formel, gemäß der sich das Werther-Zitat und die Werther-Fabel als naiv-bewußtes Medium der Darstellung eines widersprüchlichen Verhältnisses von jugendlichem Individuum und sozialistischer Gesellschaft bewähren (oder nicht bewähren). Solch eine verallgemeinernde Bestimmung vernachlässigt noch immer die konkreten künstlerischen Lösungen, innerhalb derer sich die Wirkung des »Werther« als konstituierendes Moment der einfühlenden und verfremdenden Gestaltung moderner Haltungen vollzieht. Denn als ein verbales und handlungsbestimmendes Element im Aufbau des Werkes ist der Werther-Bezug nur eine unter zumindest drei anderen strukturtragenden Schichten, die in der Reihenfolge ihrer Einblendung in das Szenarium etwa folgendermaßen zu unterscheiden sind:

Erstens die Tatsachenebene, dokumentarisch-knapp getragen von der vorangestellten Zeitungsnotiz und den drei Todesanzeigen, aus denen der dreifach gefächerte gesellschaftliche Aktionsraum des Helden programmatisch hervortritt.

Zweitens die szenisch-dialogisch objektivierten Erinnerungsperspektiven der Eltern und Arbeitskollegen, die in rückschauendem Klärungsversuch aus der relativen Beschränktheit ihres Wissens und Verstehens ein Mosaik der Motivierung und Verknüpfung ergeben.

Drittens der Jenseitskommentar des Helden, der nach seinem Tode spricht und aus der ironischen Transzendierung seiner Selbstdarstellung den Ausgang des Geschehens vorwegnimmt und die Spontaneität seiner Ausbruchshaltung durch eine zuweilen selbstkritische und zusammenfassende, aber nach wie vor höchst subjektive selbstdarstellerische Deutung nachvollzieht.

Erst im Gefüge dieser mehrfachen Darstellungsebenen gewinnen nun viertens die Brechung und Verfremdung der gesellschaftlichen Beziehungen des Helden im Spiegel des Werther-Zitats und der Werther-Fabel eine erhebliche, aber auch wiederum nicht zu überschätzende Bedeutung.

Während die objektiv beschränkte Erinnerungsperspektive der Eltern und Arbeitskollegen mit dem subjektiv noch stärker begrenzten Jenseitskommentar des Helden in einer Weise kollidiert, daß sich beide wechselseitig erhellen, aber in Teilen auch so verunklaren, daß auftretende Widersprüche den Leser zu selbständiger Deutung herausfordern, erfüllt das vierte Strukturelement eine ganz andersartige Funktion. Indem es die Konfrontation einer naiv-jugendlichen Erfahrung unserer Welt mit einer poetischen Erfahrung aus der Geschichte der bürgerlichen Dichtung herbeiführt, betont und überhöht es die Gegenwartsqualität der Vorgänge. Sie pointiert die Gegenwärtigkeit des Verhaltens eines jugendlichen Individuums zur Gesellschaft, seine Problematik und seine Konflikte, aber auch die durch den Tod des Helden ironisch verschobene Greifbarkeit einer Lösung dieser Konflikte.

Das Verhältnis dieser vierten Dimension des Erbes zur Abbildung der Gegenwart gewinnt in diesem Sinne die Qualität einer metaphorischen Beziehung von Entsprechung und Nichtentsprechung. In dem Bezug auf das Werther-Zitat und das Werther-Modell wirkt eine Parallelität der Vorgänge, Empfindungen und Namen, die jedoch nur scheinbar ist, in Wirklichkeit kunstvoll eingeschränkt und abgewandelt wird. Entsprechungen zwischen Werther und Wibeau, Charlotte und Charlie, Albert und Dieter, Wilhelm und Willi sind zwar hier und da vorhanden, aber insgesamt so vermittelt, daß das ausgeschriebene Epitheton »neu« im Titel der Erzählung viel schwerer wiegt als das abgekürzte »W.«, das eben die neuen Leiden des jungen Wibeau auf das alte Modell des Werther bezieht. Der Bezug auf das literarische Erbe und die realistische Aneignung der Gegenwart stehen in einem Zusammenhang, der weder durch Kongruenz noch durch völlige Diskongruenz gekennzeichnet ist, sondern durch etwas Drittes, bei dem die naive Verarbeitung des »Werther« durch das Ausschöpfen seines Widerspruchs zur Gegenwart erfolgt.

Somit erweist sich der klassische Text nicht als Abbild, sondern als komplexe Metapher der dargestellten Wirklichkeit. Die scheinbare Parallelität der Figuren und Vorgänge birgt eine Dialektik von Entsprechung und Nichtentsprechung, die jegliche Identität der Leiden der zwei jungen »W.« ausschließt, vielmehr zur eigentümlichen Bestimmung der Gegenwart dient und dabei stets das nötige Moment der Analogie mit dem möglichen Dienst als Folie verbindet. Aus dieser metaphorischen Spannung von Analogie und Folie, Entsprechung und Nichtentsprechung, ist nun die spezifische Leistung des Erbebezugs für den Realismus dieser Gegenwartsprosa abzulesen. Diese Relation von zufälliger Ähnlichkeit und notwendigem Unterschied erscheint zwar nicht durchweg stimmig und nicht überall gleichermaßen bewältigt; insgesamt gesehen, bildet sie ein kritisches, doch produktives Moment in der weltanschaulichen Selbstverständigung dieser Prosa und damit auch in der Bestimmung und Qualifizierung einer naiven Subjektivität. Im Vordergrund steht eben nicht der subjektiv-charakterisierende Effekt, sondern die bewußte und sinnliche Funktion einer komplexen Metapher, die ihren Gegenstand durch die Spannung von Ähnlichkeit und Unähnlichkeit bestimmt, dabei aber der Diskongruenz das stärkere Bild und das höhere Gewicht zumißt.

Doch wird diese Spannung (die zugleich ein Verhältnis von Originalität und Tradition markiert) nicht durchweg bewältigt. Die mangelnde Stimmigkeit in der Einheit von Entsprechung und Nichtentsprechung wird überall dort spürbar, wo diese Einheit entweder zugunsten der Analogie oder auf Kosten der Folie preisgegeben wird. Das letztere ist der Fall, wo die Tiefe des Goetheschen Entwurfs verflacht und mißverstanden wird, also auch dort, wo die naive Lesart (etwa daß Werther sich nur aus Schwäche »durchlöchert«) nicht im Gesamtwerk aufgehoben wird; das erstere tritt dort ein, wo die Analogie formalisiert wird und sich zum Beispiel die Parallelität der Gestalten Albert – Dieter verselbständigt (was eine unnötige Blässe in der Charakteristik des Dieter und eine entsprechende Steigerung in der unmittelbaren Subjektivität des Helden zur Folge hat). In ähnlicher Weise ist wohl auch der tödliche Ausgang des Geschehens kritisch zu sehen, insofern er eine Parallele zwischer Werther und Wibeau durch die Finalität ihres Untergangs oberflächlich bekräftigt, aber weder der Tragik Werthers noch dem komisch-satirischen Gestus der modernen Fabel gerecht wird, diese vielmehr tragisch überfrachtet und zugleich die künstlerische Wahrheit in der poetischen Verallgemeinerung des Schicksals eines jugendlichen Ausreißers bedenklich strapaziert. (Die im Rahmen des Gesamtgeschehens überschwere Lösung wird allerdings durch die vorangestellte Vorwegnahme des tödlichen Unfalls relativiert und durch die diesseitige Lebhaftigkeit in der Jenseitsperspektive des Helden wie selbstverständlich hintergangen. Es ist dies eine gleichsam gegen das tragische dénouement 1 aufgebotene Wirkung, die denn auch eine unbeschwerte Reaktion des Lesers auf den Zufallstod des Helden wesentlich erleichert.)

Neben diesen und anderen Unstimmigkeiten wird aber doch ein gut Teil von zeitgenössischer Wirkung gerade aus der metaphorischen Spannung von Entsprechung und Nichtentsprechung eingebracht. Hier wäre besonders das Moment der Flucht nach innen zu nennen, die Wibeau durch ein Werther-Zitat zu rechtfertigen glaubt, in Wirklichkeit aber unversehens überwindet: »Ich kehre in mich selbst zurück und finde eine Welt«. Edgar Wibeau findet eine Arbeitsaufgabe, die ihn fesselt und die er im tödlichen Alleingang forciert. Er ist weit davon entfernt, sich — wie der »ulkige Werther« — jemals aufzugeben, und »Kumpels hätte er eins zu tausend massenweise gefunden. Zum Beispiel Thomas Müntzer oder wen...«

Hier wird deutlich, daß die Werther-Lektüre und die Werther-Fabel recht verschiedene Bedeutungsinhalte befördern: Während (an dieser Stelle!) die Lektüre in ihrer figürlichen Perspektive die Subjektivität des Helden (»Ich kehre in mich selbst zurück ...«) noch zu steigern scheint, wirkt der Bezug auf die Werther-Fabel in ganz anderer Richtung: Das Moment der Nichtentsprechung dominiert; an die Stelle der Selbstaufgabe tritt eine selbstgestellte Aufgabe, und die Subjektivität des Helden gewinnt vor der Folie der bürgerlichen Individualitätsproblematik den ganz andersartigen Inhalt einer produktiven Vergegenständlichung im Prozeß der Arbeit an seiner Erfindung. [...]

Wieland Herzfelde: Es gibt eine ungeheure Dimension neuer Realität, die weder Goethe noch — beinahe hätte ich gesagt Brecht — zur Kenntnis genommen haben, eine Realität, wie sie erst kürzlich in einer Rede von Gromyko 2 so außerordentlich konkret geäußert wurde wie von Politikern der Revolution bis dahin meines Wissens nicht. Da liest man zum Beispiel:

Die Existenz von Atomwaffen und ihre Aufhäufung haben die Vorstellung davon radikal geändert, welche Folgen militärische Konflikte für die Völker haben können ... Um eine atomare Katastrophe zu vermeiden, muß der Verzicht auf die Anwendung von Gewalt in den internationalen Beziehungen zum internationalen Gesetz erhoben und gleichzeitig der Einsatz von Kernwaffen verboten werden.

Ich glaube, diese Sätze hätten noch vor kurzer Zeit nicht geschrieben werden können. [...]

Es ist also ein erheblicher Teil neuer Welt entstanden, und diese Situation ist, soweit ich es weiß, erst sehr sehr in den Anfängen künstlerisch verarbeitet worden. Infolgedessen ist der Rest, der von früher bliebe, in Gefahr, lächerlich oder komisch, jedenfalls nicht im selben Licht gesehen zu werden wie jahrhundertelang, wo zum Beispiel der Untergang der Menschheit und der Tierwelt ernsthaft dargestellt wurde, nämlich als Sintflut: weil die Gefahr, daß die Menschengattung durch die Unmenschlichkeit von Menschen aus der Welt verschwindet, nicht existiert hat. Die ganze Klassik, auf die wir uns stützen, ist von diesem schrecklichen Schatten einer Welt, in der es vielleicht nicht mal mehr Pflanzen und Tiere gibt, geschweige Menschen, noch nicht überschattet. Aber heute leben wir in einer Welt, wo dieser Schatten, man denke nur an Vietnam, eine plastische und fast alltägliche Form angenommen hat. Die Schwierigkeit des Künstlers im allgemeinen und der Schriftsteller im besonderen, mit jener neuen Realität fertig zu werden, hat auch dem Erzähler Plenzdorf die Feder geführt. Wenn ich bei flüchtiger Bekanntschaft mit dieser Erzählung überhaupt etwas aussagen darf, so, daß dieser Widerspruch zwischen der klassischen Welt und der heutigen, dieses Lavieren zwischen einer Gegend, die man nur noch ungenügend kennt, oder einer, in der man sich noch nicht auskennt, das Charakteristische der Erzählung ist. Die starke Wirkung, die von ihr ausgeht, beruht unabhängig von den Leiden des W. auf den Leiden von A bis Z, mit denen sich heute jeder, der produziert, so oder so, auseinandersetzen muß, wehleidig, humoristisch, was weiß ich.

Erläuterungen und Anmerkungen

Herzfelde, Wieland: Geb. 1896 in Weggis (Schweiz). 1917-33 Mitbegründer (zus. mit seinem Bruder J. Heartfield) und Leiter des Malik-Verlages in Berlin, 1933-39 in Prag, 1939-48 Journalist, Buchhändler und Leiter des Aurora-Verlages in New York. 1948 Rückkehr, Prof. f. Soziologie der neueren Literatur der Univ. Leipzig, 1967-70 Sekr. der Sektion Dichtkunst und Sprachpflege der Deutschen Akademie der Künste. Seit 1972 Ehrenpräsident des Pen-Zentrums der DDR.

Weimann, Robert: Geb. 1928 in Magdeburg. Prof. für Lit.theorie und englische Lit.geschichte. Lehrtätigkeit an der Pädagogischen Hochschule Potsdam und an der Humboldt-Univ. Ostberlin. Mitglied des Redaktions-Beirates der Zs. Sinn und Form«. Seit 1978 1. Vizepräsident der Akademie der Künste.

 Aus einer öffentlichen Aussprache in der Akademie der Künste der DDR im Rahmen der Arbeitsgruppe >Literatur und Kritik< am 31. 10. 1972. Mit dem Abdruck eröffnet die Redaktion von Sinn und Form, die den Plenzdorfschen Text zuerst veröffentlichte (1972, Nr. 2), eine Diskussion über das Werk. — Weimanns Forderung nach >Einheit von Literaturgeschichte und -kritik< bestimmt den Stil des Beitrags.

1: Lösung des Knotens im Drama. zurück

2: Rede des sowjetischen Außenministers, Andrey Gromyko, vor der Vollversammlung der Vereinigten Nationen am 26.09.1972. zurück

________________________________

2. Der neue Werther. Ein Gespräch. In: Neue Deutsche Literatur. 21. Jg. 1973. 3. H. S. 139-49. Auszüge.

Vier Berliner Jugendliche (die Schülerin Monika Sch., die Studentinnen Eva K. und Gerhild F., der Lehrling im Wohnungsbaukombinat Hans-Peter S.) führten Anfang Dezember 1972 auf Einladung der NDL mit deren Vertretern Eduard Klein und Henryk Keisch das folgende Gespräch.

[...] Monika: Bestimmt! Es war eine ganz tolle Stimmung im Theater. Sonst, ehrlich gesagt, geht es mir so, daß mich Theater irgendwie bedrückt. Die sitzen alle so da in ihren feinen Sachen, so ehrfürchtig, und bestaunen einander. Aber diesmal waren wir erst mal ganz begeistert. Dann, in der Pause, versuchte ich mich mit welchen zu unterhalten, ich brauchte sofort Gesprächspartner, weil man einfach darüber sprechen mußte. Und als es zu Ende war, da hat es mich sehr gestört, daß ich allein nach Hause fahren mußte. [...] Es war eine großartige Stimmung, alle klatschten wie verrückt, es wurde auch mit den Füßen getrampelt und gerufen, einfach aus Begeisterung. Sonst ist es ja im Theater meistens so, daß man denkt: Nun amüsiert uns mal, die solln uns mal was bringen. Aber hier war man richtig dabei, man hätte am liebsten mitgemacht. Ich fand es einfach schau, man konnte sogar herzlich lachen zwischendurch. Und dann noch so viele echte Probleme von Jugendlichen!

E. K.: Zum Beispiel?

Monika: Na, das ist jetzt schwer, es waren so viele. Zum Beispiel, daß dieser Edgar Wibeau nicht so langweilig leben will, daß ihm alles zu langweilig ist. Er hat den Drang nach etwas Besonderem, und das ist meiner Meinung nach eine ganz allgemeine Eigenschaft von Jugendlichen. Bei Jugendlichen gibt es immer so was wie Sturm und Drang. Und das kam in vielen Sachen zum Ausdruck, auch daß er nicht einverstanden ist mit dem ganzen Trott, mit dem alltäglichen Trott. Da bricht er eben aus. [...]

H. K.: Kann man sagen, daß eure Befriedigung über das, was das Stück zeigte, etwas zu tun hat mit dieser Zuspitzung? Mit dem Zu-Ende-Denken, dem Zu-Ende-Treiben einer bestimmten Empfindung, einer bestimmten Haltung bei dem Jungen? Daß ihr also erfreut wart, weil ihr erlebtet, wie das aussieht, wenn einer bis ans Ende seines Charakters, seiner Impulse, seiner Hoffnungen und Sehnsüchte geht? Könnte man das so formulieren?

Monika: Zum erstenmal haben die unter die Tischdecke geguckt! Sonst sieht alles immer von oben so schön glatt aus und so schön weiß! Die haben mal drunter geguckt und haben das mal nach oben geholt, sozusagen umgedreht.

H.K.:Also Freude am Skandal?

Monika: Ach. Freude am Skandal! Was der Edgar tut, ist natürlich nicht alles lobenswert, aber jeder wünscht sich doch, wenn's ihm zuviel wird, daß er mal wirklich handelt, und der hat gehandelt.

E. K.: Du hattest also ein bißchen das Gefühl, er hat es für dich mitgetan?

Monika: Er hat es fertiggebracht, unsereiner kann es nicht. [...]

H. K.: Wie ist denn das überhaupt mit der Bewertung der Charakterzüge, die wir bis jetzt an Edgar so hervorgehoben haben, und wie bewertet ihr demgegenüber die viel weniger eindringlichen, viel weniger imponierenden, viel alltäglicheren Charakterzüge bei Charlie und vor allem bei Dieter, Charlies Verlobtem?

Monika: Charlie ist für Edgar was Besonderes, weil sie einen geraden Weg geht, einen Weg ohne Konflikte. Den Dieter mag er nicht. Aber Dieter ist doch im Grunde ein Mensch, der sich ernsthaft bemüht, der sich ein Ziel setzt und es erreichen will, er will studieren, Germanistik. Der klemmt sich dahinter, und dieser Fleiß, diese Energie, die er da reinsetzt, das ist auch sympathisch. Bloß, Edgar ist noch nicht an dem Punkt, wo er sehen würde: Ich hab da um was zu kämpfen. Edgar ist noch um ein paar Jahre zurück, und deshalb kann man das gar nicht vergleichen — Edgar und den.

Eva: Andererseits, der junge Mann, Charlies Verlobter, hat auch was von einem Streber, von einem Stiesel, wenn nicht gar einem Spießer. Edgar hingegen, wenn er einmal seinen Weg gefunden hätte, wenn er mit sich ins reine gekommen wäre und fleißig gearbeitet hätte, der würde trotzdem im Grunde der gleiche Kerl bleiben. Er würde das Leben nie so streng und so eng sehen. Bei dem Dieter habe ich mir gesagt: Um Gottes willen, auf keinen Fall so einen Mann! [...]

H. K.: Hast du nicht auch das Bedürfnis, die Motive und Gesichtspunkte der anderen, die Gesichtspunkte der Eltern, die Gesichtspunkte dieses Dieter etwas eindringlicher vorgeführt zu bekommen, um ihnen gegenüber gerechter sein zu können?

Monika: Dann müßten wir sechs Stunden im Theater sitzen. Im Theater kann man nur einen einzigen genauer betrachten. Es ist natürlich trotzdem traurig, daß Dieter so schlecht wegkommt. Du sagst Stiesel, das stimmt, mir kam er auch so vor, nicht direkt unsympathisch, aber auch nicht sympathisch. Dabei ist er aber doch ein Kämpfer, einer von denen, die die Gesellschaft vorantreiben, und solche brauchen wir auch. Der müßte genauer beschrieben werden. [...]

Gerhild: Edgar stirbt dann zum Schluß, weil die Maschine, die er da gebaut hat, nicht richtig funktioniert, oder weil der Strom falsch angeschlossen ist. Ich möchte dazu mal was sagen. Nämlich, Edgar will selber was Eigenes auf die Beine stellen. Sonst werden ihm solche Sachen immer aufgegeben, er darf was schaffen, aber immer wird ihm von anderen gesagt, was er schaffen soll. So war es auch in der Schule, du mußt gute Zensuren bringen, hieß es da. Er wollte aber selber was schaffen, und da macht er es allein, und so passiert der Unfall. Wenn er diese Maschine mit seinem Kollektiv gebaut hätte, die war zustande gekommen, da wäre keiner gestorben. Aber trotzdem, Edgar ist eben nicht so einer, der sich der Messe der Meister von morgen 1 angeschlossen hätte, weil das wieder was Organisiertes wäre. [...]

E. K.: Es wäre vielleicht auch ein bißchen seltsam gewesen, wenn man am Ende des Stückes den Edgar Wibeau als vierzigjährigen Meister erlebt hätte, der nun seinerseits wieder Jugendliche ausbildet.

Monika: Man kann sich nicht vorstellen, daß der einen geraden Weg findet, darum mußte der wahrscheinlich sterben. Ich stelle mir vor, das Stück wäre aus, Edgar lebt, er sagt auf Wiedersehen, macht winke, winke, dann würde man sich doch fragen müssen, wie geht das weiter mit dem? Irgendwie ist da ein Widerspruch. Ich kann nicht sagen, warum der sterben mußte, aber daß er sterben muß, finde ich beinahe besser, als wenn er weitergelebt hätte. [...]

Gerhild: Ich habe noch etwas zu dieser Frage, warum Edgar sterben mußte. Vielleicht um die Gefahr zu zeigen, in die man kommen kann, wenn man sich vom Kollektiv löst auf Grund dieser Probleme und Konflikte. Erst durch diesen Tod konnte der Autor den nötigen Abstand schaffen. Dadurch, daß Edgar tot ist, hat er Abstand zu seinem Leben und kann auf dieses Leben zurückschauen und kann es jetzt bewerten und vieles zurücknehmen und sagen, das habe ich falsch gemacht und das nicht. Ich glaube, wenn er weitergelebt hätte, wäre das Stück längst nicht so stark gewesen.

Eva: Vielleicht empfindet man es auch deshalb so, weil der Tod vorweggenommen wird. Man weiß am Anfang, wie es ausgeht, man wartet also nicht auf die Lösung.

Monika: Ich habe verblüffte Gesichter um mich gesehen, als Edgar gerade in dem Augenblick, wo er stirbt, sagt: Und da wurde mir's blau vor den Augen, oder so ähnlich. Das war absolut nicht traurig, was er da sagte, irgendwie noch ganz lebendig, und das fand ich nicht schlecht.

Hans-Peter: Aber dieser sehr intensiv lebende Mensch, wie der dann tatsächlich weggeht, so aus dem Leben, und sagt: Macht's gut!, in mir hat's geruckt, ein klein wenig. Es hat mich tief bewegt, daß er an seiner Aufgabe scheitert oder daß er sie nicht ganz zu Ende führen kann.

H. K.: Könnte man es vielleicht so ausdrücken: Es sieht aus wie ein Scheitern, ist aber in Wirklichkeit die Besiegelung von Edgars positiver Haltung im Leben, nämlich der Haltung, die wir als im Grund positiv herausgearbeitet haben. Das kann ein dialektischer Widerspruch sein. [...]

 

Anmerkungen

1: Die von den Jugendkollektiven (bis 25 jährige) entwickelten Neuerungen (auf dem Gebiete der Rationalisierung, Industrialisierung etc.) werden alljährlich auf zahlreichen Messen der Meister von Morgen und schließlich auf der Zentralen MMM präsentiert (DDR Handbuch. 2. Aufl. Köln 1979). zurück

 

________________________________

 

3. Gabriele Herzog: Maßstab Publikum. Publikumsmeinungen über zwei Aufführungen des Landestheaters Halle. In: Theater der Zeit (Berlin/Ost). Jg. 28. 1973. 4. H. S. 4-8. Auszug.

Auffallend bei allen Theaterabenden und Dialogen: Befürchtungen, das Stück könnte »irgendwie schief« ankommen, sind umsonst, sind ein Mißtrauensantrag an das ständig wachsende politische Bewußtsein und die Wirklichkeitserfahrung unseres Publikums. Ein sehr geringer Teil unserer älteren Gesprächspartner vertrat die Ansicht, Edgar Wibeau würde kritiklos zum Idol der Jugendlichen. Interessant war, daß gerade die Jugendlichen sehr wohl die gesellschaftliche Wertigkeit dieser Figur einschätzten: »Edgar ist keine typische Person: Er ist auch keine Ausnahme! Er ist eine erdachte, eine Kunstfigur. Es wurde versucht, viele Probleme, die das Leben mit sich bringt, in ihm zu vereinigen.« –

»Die Korrektur in Edgars Verhalten kommt von ihm selbst, das macht die Figur so sympathisch.« — »Mir gefällt an Edgar, daß er über alles nachdenkt, was ihm begegnet. Er nimmt nichts als selbstverständlich hin.« — »Gut, daß die Geschichte aus Edgars Sicht erzählt wird, er hat vieles eingesehen. Er hat vieles aus Opposition gemacht. Die Zuspitzung seines Verhältnisses zur Umwelt ist gut auf der Bühne.« — »Edgars Situation ist eine, die uns alle angeht. Sie provoziert die Frage nach dem Unterschied zwischen Erziehung und Dressur. Dressur provoziert die Kritik der Jugendlichen. Die Jugend will mitdenken und mithandeln.«

Zentrales Thema aller Gespräche war die Beziehung der Probleme des Stücks zur eignen Lebenspraxis: »Das Stück liefert konkrete Anstöße. Ein Kollege von mir z.B. betrachtet durch das Bekanntwerden mit dem Stück die Reaktionen und Verhaltensweisen seines Sohnes mit etwas anderen Augen.« — »Zum Schöpferisch-Werden gehört doch auch, daß man, wie Edgar, sich mal was von >Außen< angucken will.« — »Es ist gut, daß keine Lösungen gezeigt werden. Die Erwachsenen werden angeregt, zum Nachdenken. Sie müssen begreifen, daß ihre Kinder anders sind als sie.« — »Gut, daß im Stück die Problematik der Schüler oder Lehrlinge mit >Funktionärseltern< aufgegriffen wurde. In unserer Klasse ist das auch so, daß diese sich alles erlauben dürfen und die besseren Zensuren bekommen.« — »Die dargestellte Jugendproblematik läßt sich auch auf die Erwachsenensphäre übertragen. Die Überlegungen, die man aus dem Stück mitnimmt, können in der täglichen Praxis nützen.«

Der dramatische Aufbau — ein Toter erzählt seine Geschichte — regte ständig zum Meinungsaustausch an, wobei der Tod Edgars als ein legitimes Kunstmittel begriffen wurde, nie als unabdingbare Konsequenz seines Handelns. »Tod als Zufall und Anlaß des Stücks. Die Eltern versammeln sich, der >Fall Edgar< wird aufgerollt. Der Tod ist nicht die Kardinalfrage des Stücks.« — »Der Tod Edgars ist ein gutes Mittel, die Geschichte in Gang zu bringen, wenn er am Leben geblieben wäre, hätte sich niemand so ehrlich geäußert.« — »Ich sehe den Tod als tragischen Unglücksfall. Er ist keine Folgerung von Edgars Leben. Edgar ist ein hoffnungsvoller Typ.« — »Der Tod als Theatermittel ist legitim, aber muß das immer sein? Muß man nicht einen Menschen auch während seines Lebens erziehen können, auf ihn einwirken?« — »Edgars Tod ist vielleicht gar nicht gut – das könnte für einige doch auch bedeuten: solche Art Leben provoziert zwangsläufig den Tod. Aber das stimmt ja nicht. Man kann ein guter Mensch, Staatsbürger, Sozialist sein, auch wenn man anders als gewöhnlich ist.«

Nicht oft entbrennen um die Behandlung der Sprache in einem Gegenwartsstück so heftige Diskussionen, wie wir es erleben konnten: »Der Autor beabsichtigte eine poetisch-überhöhte Sprache, eine Sprachverdichtung. Das ist ihm gelungen.« — »Die Sprache ist treffend. Edgars Sprache ist auch charakteristisch für seinen Konflikt mit der Wirklichkeit.« — »Geht nicht durch die >popigen< Ausdrücke im Stück das Nachdenken über die Probleme ein bißchen verloren?« — »Jugendliche unterhalten sich nicht so. Die Vulgarismen stören sehr.« –

Eine Schülerin: »Unsere Deutschlehrer gehen gegen die Sprache Edgars vor. Aber sie hören uns ja nur im Deutschunterricht und deshalb denken sie, wir reden immer so.« — Eine Deutschlehrerin: »Man muß die Jugendlichen auch mal in ihrer Sprache anhören, da können sie manchmal produktiver werden als wenn man sie gängelt. Das Stück verstehe ich als Aufforderung zum gegenseitigen Miteinandersprechen.«

 

Erläuterungen

Die Uraufführung fand im Landestheater Halle am 18. Mai 1972 statt (Regie: Horst Schönemann, Edgar: Reinhard Straube). Obige Zusammenstellung von Publikumsmeinungen erfolgte nach 36 Theaterabenden und über 20 Diskussionsrunden. »Dieses Stück ist tatsächlich Gesprächsstoff der Pausen, der Heimwege nach den Vorstellungen, der nächsten Tage und Wochen, ob in Werkkantine, Schulklasse oder Seminarraum.« (S. 8)

 

________________________________

 

4. Wilhelm Girnus. Redaktion Sinn und Form: Lachen über Wibeau ...... aber wie? In: Sinn und Form 25. 1973. H.6. S. 1277-88. Auszüge.

Die sozialistische Gesellschaft steht. Das ist seit langem eine geschichtlich unverrückbare Tat-Sache. Und offenbar hat sich etwas davon sogar bereits im Westen herumgesprochen. Trotz Strauß und Springer. Aber für den Sozialismus gilt ebensosehr, wie überall im Leben: Was du ererbt von deinen Vätern hast, erwirb es um es zu besitzen. Stellen Sie sich vor, hochverehrte Gouvernanten, der Sozialismus ist für unsere Jugend bereits ein Erbe! Ein Erbe eben, das es zu erwerben gilt. Und das stets aufs neue. Das ist keine »Generations«-Frage (Was ist überhaupt eine Generation? Wird das Denken und Handeln der Menschen nicht durch historisch-gesellschaftliche Zäsuren gezeichnet? Durch Krisen, Kriege, Revolutionen ... nicht aber durch biologische?), eine Forderung des Tages ist es, die sich jedem von uns ständig aufs neue stellt. Doch denen, die in diese Welt neu hineinwachsen, in besonderer Intensität, versteht sich. Ihr aber meßt die Welt mit eurem Maß, und wie könntet ihr anders. Bei euch sind die »dropouts«, die Hippies in der Tat tragische Gestalten einer todkranken Welt, gebrochen, verlassen, geschmäht, ohne Hoffnung, ohne Licht. So oder so, die Jugend bei euch fühlt, daß eure Welt den Keim des Todes in sich trägt, und wer nicht mit ihr untergehen will, wer über genügend Entschlossenheit verfügt, schlägt sich zu ihrem revolutionären Totengräber; wer aber nicht gegen sie anzutreten vermag, weil er schon zu müde ist oder seelisch gelähmt, der flieht in die »künstlichen Paradiese« mit LSD – oder Hasch, in die Auréovilles, 1 in die Illusionen der Diogenes-Pose, in das Nirwana irgendeiner erkünstelten »unio mystica«, die ebenso schnell in sich zusammensinkt, wie sie aus dem geistigen Moder eurer Welt aufquillt. Warum sind sie, die sich so eifrig um die »Dechiffrierung« von Plenzdorfs Skizze als Tragödie besorgt geben, 2 außerstande, die komische Grundsubstanz dieser in das Gewand der Parodie gehüllten Umkehrung der Werther-Tragödie zu erkennen? Ganz einfach, weil sie über Wibeau nicht lachen können. Wie Wibeau es vermag. Und wir. Und warum können sie's nicht, wenn sie selbst wollten? Weil Lachen über Wibeau hier an dieser Stelle besagt: Der Sozialismus siegt. Wie3 einst besagte: Die bürgerliche Welt siegt. Weinen über Wibeau, das könnte euch passen! Das nämlich hieße, eure Welt wäre die bessere. Wibeau ein Opfer. Lachen über Wibeau bedeutet, unsere Welt ist die bessere, unsere Welt ist vorn. Wibeau aber läuft hinter der Weltgeschichte her; nein, eigentlich ist er doch schon dort, wo er sein Hängenbleiben und sich selbst ironisiert. Es ist das Wesen des komischen »Helden«, daß er auf einem Nebengleis im Bummelzug sitzt, wo die Weltgeschichte längst im Expreß dahinjagt; sieht man erst einmal die Sache vom Standpunkt der geschichtlichen Dynamik. Subjektiv enthüllt sich die Komik darin, daß ihr »Held« vermeint, er sei der Geschichte voraus. Es ist das Wesen des tragischen Helden, der Geschichte voraussein zu müssen, für dieses Voraus mit dem Leben einzustehen, notfalls mit ihm zu zahlen. Edgar Wibeau ein tragischer Held? Wahrhaftig, ein Gipfel der Komik, das. Ja, aber Edgar segnet doch das Zeitliche! Gewiß! Und das nun wäre die Signatur des Tragischen? Corneille schon wußte es besser. Bestimmt sich das nicht aus der Funktion, aus der Bedeutung dieses Abscheidens im Ganzen des Werks? Übrigens, so ganz stimmt das nämlich gar nicht, daß dieser Wibeau am Ende abschwimmt! Er hat das Zeitliche bereits gesegnet, als die Geschichte sich literarisch in Szene setzt. Das eben schlägt das Grundmotiv der komischen Situation an: Daß er sich selbst persifliert, als er als dieserunserer Leser beunruhigt oder sogar irritiert hat, besonders jugendliche). Er ist Parodie, eben mit dem genau umgekehrten Sinn begabt wie im Werther. Werthers Tod bedeutet: Die Gesellschaft taugt nichts, der Werther durch ihn entflieht. Wibeaus Flucht liegt vor seinem sogenannten »Tod«. Sein »Tod« bedeutet, »Bin am Ende meiner Sackgasse, Leute! Halali. Grüß Euch, Leute.« [...] Lachen über den Bourgeois – Gentilhomme Wibeau gar nicht mehr da ist. Was also bedeutet dann dieser Tod? [...]

Situation und Diktion, Parodie und Argot sind eindeutig Determinanten eines ironischen Assoziationsfeldes, dem jedes einzelne Moment dieses Monologs rigoros untersteht. Auch die laufende Konfrontation mit Werther — hier scheint uns Robert Weimann zu einseitig literaturgeschichtlich vom Standpunkt der Rezeption Goethes aus der Figurenperspektive zu interpretieren 4 — ist ein notwendiges Element der ironischen Absetzung nicht nur vom Tragischen, nicht auch nur von einer völlig anderen gesellschaftlichen Konfiguration und Epoche, sondern geschieht, um — angefangen vom Titel bis hin zum Schluß &mdasch; mit dem Mittel einer ständig hinter den Kulissen mitwirkenden Parodie dieses ironische Assoziationsfeld unter Spannung zu halten, von dem aus dann jede Einzelheit ihre semantische Dimension bezieht. Werther wirkt sozusagen als der imaginierte Kontrast-Komplice Wibeaus. Ohne dieses assoziative Kontrastfeld würde Wibeau in der Tat hart in die Nähe einer Tragödie rutschen, und zwar einer ganz miserablen. Daß jedoch Wibeau sich in einem Disput aus dem Jenseits mit seiner Mutter — und mit uns — unterhält (in ironischer Distanz zu sich selbst als einem untergegangenen Individuum), ist nicht nur an sich bereits eine komische Situation, sondern läßt uns wissen, daß er in keiner Weise ein »Verhaltensgestörter« ist, sondern ein Unreifer, dem es noch nicht gelungen war, ein klares und ausgeglichenes Verhältnis zu seiner Umwelt zu gewinnen. Aus der ironischen Distanz zu sich selbst jedoch spricht bereits ein neuer Wibeau, dem diese seine eigene Vergangenheit schon Geschichte ist. Auf diese Weise bedeutet er uns, nicht Wibeau überhaupt ist gestorben, sondern dieser Wibeau in ihm, von dem er dann später selbst berichtet: »Immer nur die eigene Visage sehen, das macht garantiert blöd auf die Dauer. Man braucht Kumpels, man braucht Arbeit. Bloß so weit war ich noch nicht.« Dem Wörtchen »noch« kommt hier die entscheidende semantische Schlüsselposition zu. Dieses »noch nicht« zwingt zum Extrapolieren über den als vergangen geschilderten Zustand hinaus. Ohne dieses ironische Assoziationsfeld, in dem sich der Monolog Wibeaus über seine eigene Vergangenheit bewegt — seine ganze Rede steht im Imperfektum! —, wahrzunehmen, geht jede Interpretation dieses Stücks Prosa an seiner Substanz vorbei. Gerade darauf zielten die Suggestionsversuche westlicher »Interpreten«. Ihnen indessen gilt gleichermaßen das Wort, das Brecht zwar für das Theater formuliert hat, das aber ebensogut für Prosa steht: 5 »Ein Theater, in dem man nicht lachen soll, ist ein Theater, über das man lachen soll. Humorlose Leute sind lächerlich.« [...]

 

Anmerkungen

1: Auroville bei Pondicherry, Indien. Nach den Vorstellungen G. Aurobindos 1969 angelegtes internationales Reform- und Meditationszentrum. zurück

2:Tragisch wurde das Werk auch in der DDR genannt (s. Nr. 2, S. 148): »Es ist das tragische Scheitern einer großen aktiven Idee, eines aktiven, schöpferischen Verhaltens.« Die Polemik trifft nur wenige Kritiker in der BRD, etwa Fritz J. Raddatz (Ulrich Plenzdorfs Flucht nach Innen. In: Merkur. 27. Jg. 1973. H. 12. Dez. S. 1174-78): Bei Goethe wie bei Plenzdorf handelt es sich um »die Neuentdeckung des Subjekts«; »die Gesellschaft verstößt den Einzelnen«, erzählt wird »von einem gesellschaftlichen Mord«. zurück

3: Molière: Le bourgeois gentilhomme, 1670. zurück

4: s. Nr.1. zurück

5: B. Brecht: Der Messingkauf. Bruchstück zur vierten Nacht. Die fröhliche Kritik (Schriften zum Theater 5. Frankfurt a. M. 1963. S. 234). zurück

 

Die Aufnahme in der BRD


5. Wolfram Schütte: Zu spät fällt die Figur dem Autor ins Wort. Ulrich Plenzdorfs »Die neuen Leiden des jungen W.«. In: Frankfurter Rundschau. 29. Jg. 1973. Nr. 110. 12.05. S. 11. Auszug.

[...] Plenzdorf ist zahm, alle Leute mochten seinen Edgar »eigentlich«, er »spinnte« halt bloß ein bißchen: Friede, Freude, goldgelber Eierkuchen.

Es gibt im Sozialismus keine antagonistischen Widersprüche, lautet die offizielle These. Von mir aus, aber es gibt Widersprüche, die tief reichen, die etwas mit Altersunterschieden, mit differenten Erfahrungen zu tun haben; Widersprüche, Auseinandersetzungen, die durch Traditionen, welche sich erhalten haben, fortdauern, und Widersprüche, die in einer Leistungsgesellschaft fast notwendigerweise nebenbei entstehen und sich gegen Leistungsverweigerer richten. Man kennt das, hier und dort. Plenzdorf spielt diese Problematik jedoch herunter, sänftigt sie ein.

[...] Dieses »Ich hatte nichts gegen ...« kommt immer wieder vor, beschwörend fällt da der Autor seinem Helden ins Wort. Das funktioniert wie ein Reflex: kaum fallen kritische Bemerkungen z. B. über Marx, Engels, Lenin, Van Gogh oder Goethe — oder über einen Spießer —, sofort wird die freche Schärfe wieder abgeschliffen und stumpf gemacht. Es bedrückt einen, dieser kleinbürgerlichen Harmonisierung in diesem Prosastück, das doch wohl kritisch sein will, laufend zu begegnen. Der Mut, die Kraft, welche Goethe besaß, um einem Widerspruch auf den Grund zu gehen und ihn auszuhalten, fehlen diesem Autor. Er kämpft nicht (auch Edgar kämpft nicht, verteidigt sich nur); Plenzdorf möchte nur ein bescheidenes Plätzchen für seinen bescheidenen Außenseiter und Ausreißer. Er wirbt um Sympathie und Verständnis. Das haben Typen wie Edgar hier und da nötig, gewiß; nur: ob ihnen damit auch geholfen ist, und ob diese Nettigkeit auf mittlerer Ebene sowohl Edgar als auch der Gesellschaft, in der es ihn gibt, gerecht wird? Die jungen Leute, die sich in Edgar erkennen — hören sie nur auf die Vordersätze?

Daß man mich nicht falsch versteht: Ich vermisse in Plenzdorfs »Die neuen Leiden des jungen W.« nicht das Porträt des antikommunistischen Widerstandskämpfers. Ich vermisse vielmehr die Marxsche Radikalität, welche die Dinge an der Wurzel faßt; und die Radikalität, aus dem Werther-Stoff etwas anderes zu machen als diese Wasserfarben. [...] Werther begeht bewußt Selbstmord, weil er der eigenen Verführung erliegt. Plenzdorf läßt seinen Edgar eher zufällig umkommen, sein Tod hat keine Beziehung zur Enttäuschung über seine hoffnungslose Liebe. Das ist eine mögliche Korrektur Goethes heute.

Jedoch was »bedeutet« dieser Tod? Edgar, der Individualist, richtet sich selbst (und sein Vergehen, der Gesellschaft sich entzogen zu haben), indem er durch individualistische Bastelei — ohne die schützende, helfende Gegenwart der anderen — zu Tode kommt; er rettet sich vor einem negativen Urteil der Gesellschaft dadurch, daß er trotzdem Großes, die Gesellschaft Förderndes wollte. Ein säkularisierter Opfertod, in dem Schuld und Rechtfertigung zwei Seiten einer Sache sind: des »zufälligen Todes«. Noch in der planvollen Zufälligkeit dieses Todes, dem damit alle Ironie verbittert wird, schlägt magisch der Preis durch, den Plenzdorf für seinen »Werther« einer gesellschaftlichen Ideologie der absoluten Integration ins Hier und Jetzt — ohne Utopie und radikale Selbstkritik — zu entrichten hat: denn er war unser, weil er etwas Nützliches tun wollte. Dagegen steht nur ein kleiner harter Satz, den Edgar ganz zuletzt ausspricht (und prompt hat der denn auch das Mißfallen eines Plenzdorf gegenüber sehr wohlwollenden und sogar enthusiastischen DDR-Germanisten gefunden): »Aber ich wäre doch nie wirklich nach Mittenberg zurückgegangen.« »Wirklich« hat Plenzdorf kursiv gesetzt: ein Wort des Aufbegehrens. Hier, endlich, ist dem Autor seine Figur ins Wort gefallen. Aber, ich denke, zu spät. So recht glaubt man das diesem Edgar Wibeau schon nicht mehr.

 

Erläuterungen

Schütte, Wolfram: Geb. 1939 in Frankfurt/M. Studium der Germanistik, Philosophie und Soziologie in Frankfurt. Mitherausgeber von »Filmstudio« (1962-66), der »Reihe Film« (1974 ff.). Seit 1967 Feuilletonredakteur der Frankfurter Rundschau.

 

________________________________

 

6. Michael Schneider: Die Leiden des jungen W. In: konkret, das wochenmagazin für politik, wirtschaft und kultur (Hamburg). 1973. Nr. 27. 28. Juni. S. 46-47. Auszug.

Edgar Wibeau verkörpert ein neues Selbstbewußtsein der DDR-Jugend, die nach 25 Jahren sozialistischen Aufbaus es nicht mehr nötig hat, sich belehren zu lassen (wie vielleicht noch die Väter-Generation, der — nach dem Zusammenbruch des 3. Reiches — der Sozialismus »von oben« gebracht werden mußte). Die DDR-Jugend ist erwachsen geworden. [...]

Worin besteht das Neue an den »neuen Leiden des jungen W.«? Edgar W. leidet nicht an einer enttäuschten Liebe, nicht so sehr an Charlotte (wie man auf den ersten Blick meinen könnte); sein Leiden hat weniger private, vielmehr gesellschaftliche Ursachen; er leidet an einer bestimmten (rigiden und humorlosen) Form der »proletarischen Erziehungsdiktatur«, die das Proletariat, zumal das junge, heute in der DDR nicht mehr nötig hat. Er rebelliert gegen einen moralischen und kulturellen Überbau, der gegenüber der konsolidierten sozialistischen Basis hoffnungslos in Rückstand geraten ist.

Doch hat Plenzdorfs Jugendheld auch einige sehr problematische, ja beunruhigende Seiten. Seine neue Sensibilität, sein neuer Jargon wirkt in vielem wie ein Plagiat der westlichen Underground- und Hippie-Scene [...]. Edgars neue Sensibilität ist gegen den kapitalistischen Konsum-Virus nicht ganz gefeit. Er vergleicht »Die synthetischen Lappen aus der Jumo« mit »echten Jeans« und zieht diese jenen — sicher zu Recht — vor; doch wo bleibt der Vergleich zwischen den gesellschaftlichen Verhältnissen, in denen die »echten Jeans« bzw. die synthetischen Hosen produziert werden?

Wenn Edgar über die Mauer schaut, dann bekommt er leicht den melancholischen Blick zu kurz gekommener Konsumenten. Warum schaut er nicht zuallererst mit den Augen des Produzenten auf die westliche Konsumlandschaft? [...]

Und noch etwas ist beunruhigend: Edgars Liebe zu Charlotte haftet etwas ungeheuer Exklusives, Privates an. Es ist eine Liebe, die in der Gartenlaube beginnt und endet, die also jede Beziehung zur gesellschaftlichen Produktion verloren hat, Edgar nennt seine Gartenlaube nicht zufällig »meine Kolchose«, d. h., er liebt und arbeitet fast ausschließlich privat. Auch seine »Erfindung«, eine auf hydraulischer Grundlage arbeitende halbautomatische Farbspritze, die er in seiner Gartenlaube zusammenbastelt, macht er allein, ja in geheimer Konkurrenz zu seinen Kollegen von der Arbeitsbrigade, die zur selben Zeit an einer ähnlichen Spritze basteln.

Ist diese Flucht ins Private vielleicht die späte Quittung, die nachträgliche Trotzreaktion für einen zu reglementierten, zu rigiden Vergesellschaftungs- und Erziehungsprozeß beim sozialistischen Aufbau nach 1945?

Der klassische Werther begeht aus enttäuschter Liebe Selbstmord, der »neue« Werther erleidet beim Bau seiner elektrischen Farbspritze einen »Betriebsunfall«. Plenzdorf sucht dem Leser einzureden, daß sein Held »rein zufällig«, aus purer Fahrlässigkeit, umkommt. Dies erscheint um so unglaubwürdiger, als Edgar geradezu ein Musterlehrling (mit Durchschnitt 1,1), also in technischen Dingen bestimmt kein Dilettant war. Mir scheint vielmehr, daß Edgars »Betriebsunfall« eine Art unbewußter Ersatz- bzw. Symptomhandlung ist, deren »Sinn« Plenzdorf aus gutem Grund zu verschleiern sucht: Edgar bestraft sich selbst am Ende für seinen luxurierenden und privatistischen Rückzug aus der sozialistischen Arbeitsgemeinschaft.

Wenn dem so ist, dann wäre Plenzdorfs literarischer und politischer Erfolg allerdings ein sehr zwielichtiger: dann wäre er ein Indiz nicht nur für das neue Selbstbewußtsein der DDR-Jugend, sondern auch für eine unter dem Deckmantel der »Entspannungs«- und »friedlichen Koexistenz«-Politik sich erschleichende Reprivatisierungsideologie im anderen Teil Deutschlands. [...]

 

Erläuterungen

Schneider, Michael: Geb. 1943, studierte Naturwissenschaften, Soziologie und Religionswissenschaften. Promotion 1974. Lektor und Dramaturg, freier Schriftsteller. Publikationen u.a.: Neurose und Klassenkampf (1973), Den Kopf verkehrt aufgesetzt oder Die melancholische Linke (1981).

________________________________

 

7. Joachim Kaiser: Schwarzes Schaf mit gutem Kern. Plenzdorfs »Die neuen Leiden des jungen W.« in den Münchner Kammerspielen. In: Süddeutsche Zeitung (München). 29. Jg. 1973. Nr. 220. 24. Sept. S. 10. Auszug.

[...] Also: ein lustiges Zeitstück mit vielen, garantiert positiven Menschen trotz kleiner Schwächen. Ein Held, der glänzend absahnt (trotz Premieren-Forciertheit). Ein Aufsässiger, mit dem jedermann sich gern identifiziert.

Nur: mit Einsicht, mit der Erklärung von Menschen und Sachen, mit Phantasie oder gar mit einem Kunst-Gehalt hatte dieses clevere Potpourri nichts zu tun. Plenzdorf sagt über seine Figuren genau jene lustigen Banalitäten, die nie ganz falsch sein können. Er hat eine Marktlücke erkannt, hat die (berechtigten) Wünsche des Publikums durchschaut. Jetzt befriedigt er sie mit der Präzision eines Zigaretten-Reklame-Texters. Doch indem er so gut bedient, bemogelt er hemmungslos. Es sind ihm keine Szenen eingefallen, sondern nur Versatzstücke. Der grimmige Chef, aber zur Selbstkritik bereit. Der Vater mit der benachthemdeten Geliebten. Der Philologe mit dem Ordnungssinn und leiser Wut, weil er Felle und Freundin davonschwimmen sieht... Kinder malen so lieb und haben Asoziale gern, die Farbspritze saust dem erschrockenen Vorarbeiter ins Gesicht (fast so komisch wie im Stummfilm die Sahnetorte). Und die Mutter ist wohl irgendwie zu streng gewesen.

Diese grenzenlose Banalität — armes Szenarium eines besonders bescheidenen UFA-Filmes (am besten noch die Witze Edgars) — wird scheinliterarisch aufgepulvert, weil der junge Mann sein Seelenleben, statt es zu leben, mit Goethe-Zitaten (»Werthers Leiden«) ausdrückt. Das wirkt knapp, wenn er für die eigene Befindlichkeit zwei Worte sagt und dann Goethe zitiert. Den er — sozialistisch-realistisch keck — auf dem Kloo zerrissen und angelesen hat, was natürlich keine »Schweinerei« ist, sondern nur überflüssig. Kraft-durch-Freude-Heiterkeit mit Toiletten-Hintergrund.

Wenigstens eine DDR »Love-Story«? Gewiß nicht. Außer, daß er sie »haben« und »rumkriegen« will, erfahren wir nichts. Und weil Intellektuelle oft eher verklemmt sind, ist hier auch die gesunde junge Frau eigentliche Aktivistin: »Küß mich«, sagt sie erfreulicherweise, Bring mir die Zange wieder (wenn wir allein sind), fordert sie auf.

Die Sprache ist clever und jargon-freudig. Geschickt stilisiert, läßt sie nichts durch. Kein »Leiden«, keine Mehrdeutigkeit, keine Einsicht. Mit Salinger oder auch mit Kästners gleichfalls berlinisch asozialem »Fabian« darf man diese flotte Synthese überhaupt nicht in einem Atem nennen. Man kann auch nicht sagen, daß der Kontext Goethe : Plenzdorf irgend etwas erbrächte — so wie doch immerhin in Christopher Hamptons »Menschenfreund« die Beziehung zum Molièreschen »Menschenfeind« nicht bloß Lesefrüchte mitteilte ...

Nein, das Stück ist auf der einen Seite heiter-überdeutlich-banal — und auf der anderen, wo es anfangen müßte, dumm und stumm. Jetzt erst erkennt man, wieviel reicher Thornton Wilder war, der in seiner »Kleinen Stadt« ja auch Tote vergangenes Leben kommentieren ließ. Jetzt fällt einem ein, daß im »Zauberberg« die Madame Chauchat einen Bleistift (allein, absichtsvoll) zurückhaben wollte, so wie hier Charlottchen die »Zange«. Jetzt erst fällt einem ein, daß Sartres Witz (im »Ekel«), den Humanisten als jemanden vorzustellen, der das Konversationslexikon von A bis Z pedantisch durchackert, doch besser ist, als wenn hier der Humanist seine Bücher nicht alphabetisch, sondern dooferweise der Größe nach ordnet. [...]

 

Erläuterungen

Kaiser, Joachim: Geb. 1928 in Milken (Ostpreußen). Theater-, Literatur- und Musikkritiker. Ab 1951 Mitarbeiter der FAZ und der Frankfurter Hefte, 1954-58 Redakteur beim Hessischen Rundfunk, dann Feuilletonredakteur bei der Süddeutschen Zeitung, seit 1977 o. Prof. an der Staatl. Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Stuttgart. 1965 Theodor-Wolff-, 1970 Johann-Heinrich-Merck-Preis, 1973 Salzburger Kritiker-Preis.

Regie der Aufführung in den Kammerspielen, München: Klaus Emmerich, Edgar: Bernd Herberger. — Die vielbeachtete Aufführung, die die theatralischen Möglichkeiten voll nutzte, aber Problematisierungen vermied, hat auch bei anderen Kritikern zu einer Abwertung des Stücks geführt. Hermann Dannecker: Banal mit Goethe-Zitaten, in: Schwäbische Zeitung (Leutkirch) 1973, Nr. 225, 28.09.: »banale Machart«, »Kabarett in Nummern«; Annemarie Czaschke: Kritik an Moritz, nicht an Marx, in: Frankfurter Rundschau, 1973, Nr. 227, 29.09., S. 20: Die »zur Identifikation einladende Illustration pubertären Lebensgefühls« wirkt in der Münchner Aufführung »nahezu brav, um nicht zu sagen affirmativ«. Edgar: Figur »ohne Widerhaken«; Georg Ramseger: Es stimmte: Sonnenschein nach Regen, in: Basler Nationalzeitung, 1973, Nr. 316, 10.10., S. 35: »Fragwürdiges wird durch Bodenturnen oder Hoch-Gymnastik ersetzt. Aber die Kesse der Mache und das Flotte [...] erbringt Theaterkost für Auge und Ohr.« Gegen Kaisers »philologisch mäkelnde Besprechung«: Über die Verantwortung der Gesellschaft, in: Deutsche Volkszeitung (Düsseldorf) 1973, Nr. 40, 04.10., unterz. -ra: Das Stück ist zwar »literarisch gesehen nicht mehr als versierte Gebrauchsliteratur«, doch ein »auch hierzulande diskutabler Entwurf zu einem lebendigen Volkstheater« und nicht zuletzt »ein Exempel kritischen Vergnügens«. — Kaisers Meinung nach ist der Roman »keineswegs reicher oder differenzierter oder prinzipiell anders [...] als die geschickte Theater-Adaption«.

Genannte Vergleichstexte: Erich Segal: Love Story, 1970 (dt. 1971; als Taschenbuch 86.-100.Tsd. 1975). — Erich Kästner: Fabian. Die Geschichte eines Moralisten, 1931. — Christoph Hampton: The philanthropist: a bourgeois comedy, 1970. — Thornton Wilder: Our town, 1938. — Thomas Mann: Der Zauberberg, 1924 (Kap.5, Walpurgisnacht, Ende). — Jean-Paul Sartre: La Nausée, 1938.

 

________________________________

 

8. Götz Großklaus: West-östliches Unbehagen. Literarische Gesellschaftskritik in Ulrich Plenzdorfs Die neuen Leiden des jungen W. und Peter Schneiders Lenz. In: Basis. Jahrbuch für deutsche Gegenwartsliteratur 5. 1975. S. 80-99, 233. Auszug.

Drei Thesenreihen lassen sich aufstellen. Sie sind jeweils geschichtlich, individuell oder gesellschaftlich perspektiviert.

Die Thesenreihe der >geschichtlichen< Faktoren.

1.These: Das individuelle Verweigerungsexperiment Wibeaus ist anachronistisch. Unter Voraussetzung geschichtlicher Entwicklungsschübe von bürgerlichen zu nachbürgerlichen, von kapitalistischen zu postkapitalistischen, von technischen zu technologischen Gesellschaften ist das altbürgerliche Sozialisationsmuster der Individuierung funktionslos geworden.

2.These: Das individualistische Einzelgängertum Wibeaus ist als Verhaltensmuster vergangenheits- und nicht zukunftsbezogen; es bleibt randständig im Kontext geschichtlich neuer kollektiver Sozialisationsmuster.

3.These: Die altbürgerlichen Individualkonzepte haben ihre historische Pflicht getan: sie weichen anderen Konzepten gesellschaftlicher Reproduktion. Komplexe Massengesellschaften lassen sich nicht über altbürgerliche Kategorien integrieren. Das Individuum ist keine natürliche, sondern eine geschichtliche Kategorie.

Die Thesenreihe der >individuellen< Faktoren.

1.These: Die individuelle Verweigerung Wibeaus ist ein Akt gesellschaftlicher Frustration. Die »im Generalplan der gesellschaftlichen Richtlinien« vorgesehene individuelle Wesensverwirklichung schließt ein für allemal Diskussion und Kontrollen von Plan und Planziel durch die Individuen aus. 1 Zur mündigen Verwirklichung seiner selbst als Gesellschaftswesen aber würde es gehören, dem Individuum Überprüfungschancen einzuräumen. Eine Dauerkommunikation über Steuerwerte des Planens, über Rahmenbedingungen der Vergesellschaftung wäre nicht nur einzurichten zwischen »Experten und Entscheidern«, 2 sondern vor allem zwischen diesen und der Masse der betroffenen Individuen. Ausschluß von Kommunikation bedeutet Massenfrustration und -regression.

2.These: Wibeaus Rückgriff auf bürgerliche Muster verdeutlicht ein Dilemma nicht nur sozialistischer Plangesellschaften: nämlich dasjenige der sich vergrößernden Lücke zwischen sinnverbürgenden Moral- und Deutungssystemen, wie sie für die Lebenspraxis des einzelnen von Belang sind, und technologisch rationalen Entwürfen, wie sie für die Organisation moderner Massengesellschaften unabdingbar sind. 3 Überkommene Muster können daher — wie bei Wibeau — die Orientierung übernehmen und gleichzeitig den gesellschaftlichen Dissenz befördern.

3.These: Wibeaus Verweigerung zeigt, daß der >natürliche Mensch< niemals ohne Rest im >gesellschaftlichen Menschen< aufgeht. Der natürliche Mensch ist motiviert durch natürliche Bedürfnisse. Wenn »die narzißtischen Bedürfnisse« — nach Erich Fromm — »zu den elementarsten und mächtigsten seelischen Strebungen gehören«, 4, wird man ein Gutteil aller Ich-Wünsche nach Selbstdarstellung, Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung auf diesen ursprünglichen Narzißmus zurückführen können. Gelingt es der Gesellschaft nicht, eine Inhaltsbestimmung dieser Strebungen verbindlich zu machen, kommt es zur narzißtischen Rebellion.

Die Thesenreihe der >gesellschaftlichen< Faktoren.

1.These: Wibeaus Absonderung ist privatistisch und damit asozial und parasitär. Sozialistische und nichtsozialistische Gesellschaften sichern ihren Mitgliedern unter schwieriger werdenden Bedingungen (Bevölkerungsvermehrung, Rohstoff- und Energiedefizite usw.) Überlebenschancen durch »reglementierende Technologien«. 5 Eine private Verweigerung der Gegenleistung im gesellschaftlichen Planrahmen mag als romantisch gelten, die gesellschaftlichen Folgen auf die Dauer wären gänzlich unromantisch.

2.These: Wibeaus moralisch unzulässige, lediglich im Eigeninteresse liegende Erweiterung seines Persönlichkeitsspielraums verletzt notwendig das Eigeninteresse anderer. Vorrechte auf besondere Größe der Privatspielräume können in postmodernen Gesellschaften nicht mehr vergeben werden.

3.These: Wibeaus Ende zeigt, daß das schöpferisch erneuernde Individuum nicht als gesellschaftsunabhängige Monade überleben kann, sondern einzig und allein in der Solidarität von Kleingruppen und Kleinkollektiven. Genau dies könnte dem Sozialisationsmodus zukünftiger Gesellschaften entsprechen.

 

Anmerkungen

1, Anm. Großklaus: »Vgl. hierzu den Plenzdorf-Beitrag von U. Risse in Sinn und Form 25 (1973), H. 4, S. 874-882.« — Recte: Utz Riese. Jugendliche sollten »ihr individuelles Sein und Tun« an einen »echten gesellschaftlichen Auftrag« binden.

Und tatsächlich bedeutet eine solche Wesensverwirklichung, das individuelle Sein im Generalplan der gesellschaftlichen Richtlinien zur Tat zu führen und ihm somit überhaupt erst zum materiellen Dasein zu verhelfen (jedes >unpraktische< Verhältnis zu sich selber erzeugt nur den Schein individuellen Seins). (S. 878)

zurück

2, Anm. Großklaus: »Hans Lenk, Philosophie im technologischen Zeitalter (Stuttgart, 1971), S. 126 ff.« zurück

3: G. bezieht sich auf Jürgen Habermas: Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus. Frankfurt a.M. 1973. zurück

4, Anm. Großklaus: »Erich Fromm, Analytische Sozialpsychologie und Gesellschaftstheorie (Frankfurt, 21971), S.26 f.« zurück

5, Anm. Großklaus: »Lenk, Philosophie, S. 121.« zurück

 

zurück zum Anfang


  Anmerkungen

  Autor

  Druckfassung

Das Fach- und Kulturportal der Goethezeit