goethe


Georg Jäger

Goethes Werther im gesellschaftlichen Kontext

Rezeptionsdokumente als Interpretationshilfen

G. J.: Die Leiden des alten und neuen Werther (Literatur-Kommentare 21) München: Carl Hanser 1984, S.11-45, 173-186. Redaktionell bearbeitet.

Inhalt

1. Goethes Leiden des jungen Werthers ♦ 1.1. Die dominante gesellschaftskritische Interpretation – Der >gekreuzigte Prometheus< ♦ 1.2 Alternative psychologische und sozialpsychologische Deutungsmöglichkeiten – Die narzißtische >Krankheit zum Tode< | Argumente gegen den Selbstmord | Psychologie des Selbstmords ♦ 1.3 Die Emanzipation der Phantasie – Werther und seine Leser | Klopstock | Ossian – das Buch als Verführer | Wertheriaden als Wunscherfüllung: Werther und Lotte finden sich | »Ich kehre in mich selbst zurück, und finde eine Welt« | Freisetzung von Empfindungs- und Fantasiekräften

2. Zur Werther-Rezeption im 19. und 20. Jahrhundert | Heines Harzreise | Mehrings Müller. Chronik einer deutschen Sippe | Rezeptionstypen ♦ 2.1 Der sittlich Kranke, »Übergangsnatur« einer Umbruchzeit | Menzels Polemik: Werther als »Narcissus« | Geschichtsphilosophische Spekulationen | Werther als »Übergangsnatur« | Jacobowskis Werther, der Jude | Goebbels Michael ♦ 2.2 Der Mißbrauch der Kunst, Werther als Lebensspieler | Jean Pauls Roquairol – ein ästhetischer Lebensspieler | Arnims Hollin's Liebeleben und Immermanns Papierfenster eines Eremiten | ♦ 2.3 Werther als Pantheist, Religionskritik und Regression | Waiblingers Phaeton – Pantheist und Muttersohn ♦ 2.4 Unerreichbare Sehnsucht und bedingungslose Wahrhaftigkeit | Jacobsens Niels Lyhne: »der Werther unserer Generation« | Werther, der Urtypus unerreichbarer Sehnsucht: Jacques Der neue Werther | Der schwule Werther ♦ 2.5 Alexis Englischer Werther – der Mord an der Geliebten

Zu den Materialien

1. Goethes Leiden des jungen Werthers
1.1. Die dominante gesellschaftskritische Interpretation
– Der >gekreuzigte Prometheus<

In seinem Werther-Aufsatz von 1936 hat Lukács ein bis heute häufig wiederholtes Interpretationsmuster skizziert: Werther als »Repräsentant einer >progressiven Bourgeoisie< in der >revolutionären Periode< ihrer frühen ideologischen und ökonomischen Entwicklung«. 1 Das Werk wird von der DDR-Germanistik einem umfassenden Geschichtsprozeß eingeordnet, der Aufklärung, Sturm und Drang und Klassik umfaßt, und bei dem es »um den Aufstieg bürgerlichen Selbstbewußtseins, das Wachstum gesellschaftlicher Einsichten und die Eroberung immer neuer poetischer Provinzen« geht. 2 Reuter betrachtet den Roman in diesem Sinn als »Brennspiegel des gesamten sozialen und politischen Zustandes in Deutschland« des späten 18.Jahrhunderts, wobei Werther im Streben nach allseitiger Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit ein »fortgeschrittenes bürgerliches Selbstbewußtsein« vertritt. 3

Von Lukács an halten kommunistische Interpreten zusätzlich am utopischen Gehalt des Werks fest. Der Roman soll nicht nur das Scheitern eines Bürgers in der absolutistischen Ständegesellschaft zeigen, sondern bereits die Widersprüche der sich entwickelnden Klassengesellschaft offenbaren.

Im Parabelfall von Werthers tragischem Scheitern gestaltet Goethe den Gegensatz zwischen der Realität der Klassengesellschaft schlechthin (nicht nur der des Feudalsystems) und dem auf sich gestellten, seiner Zeit vorauseilenden Individuum als konkretes Existenzproblem. 4

Um 1970 – mit den Untersuchungen von Peter Müller (1969) und Klaus Scherpe (1970) – wurden Voraussetzungen und Folgen dieses Interpretationsmusters in beiden Teilen Deutschlands einer intensiven und kontroversen Kritik unterzogen. Folgende Fragen standen dabei im Vordergrund:

  1. Wie weit reicht der Utopiegehalt? Ist der Selbstverwirklichungsanspruch Werthers von zeitloser Gültigkeit, gibt er einen Maßstab für das >sozialistische Menschenbild< ab?
  2. Enthüllt das tragische Geschehen innerbürgerliche Antagonismen? Wie aktuell ist das Werther-Problem für die bürgerliche Intelligenz?
  3. Können sich die ideologiekritischen Deutungen von Lukács an sozialhistorisch ausweisen?

Müller wie Scherpe deuteten den Widerstreit zwischen Individuum und Gesellschaft abstrakt ideologiekritisch und in der Tendenz existentiell aus. Die Fachkritik setzte demgegenüber Forderungen nach einer historisch konkreten Interpretation durch, die die widersprüchlich verschränkten ideologischen Frontenbildungen und die Lebenswirklichkeit im späten 18.Jahrhundert berücksichtigt und den heutigen geschichtlichen Abstand hermeneutisch reflektiert. Müller wie Scherpe versuchten in wechselseitigen kritischen Absetzungsmanövern von ihren Ausgangspositionen diesen Forderungen nachzukommen. Die existentiell eingefärbte Gesellschaftskritik, die sie ursprünglich herausstellten, hat indessen außerhalb der engeren Fachkreise stark gewirkt. Plenzdorfs Werther-Verständnis dürfte von Müller mitbestimmt sein.5

Für Peter Müller gilt Werther als »Typ des modernen Menschen«, 6 Hauptmotiv ist die Selbstverwirklichung von >tiefer reiner Empfindung< und >wahrer Penetration<:

Tiefes Erkennen, Konsequenz im Handeln, Simplizität und Harmonie der Physiognomie wie des Gesamtwesens, Disposition zur Glückseligkeit, Stetigkeit und Intensität des Gefühls sowie eine von Konvention unbeeinflußte Wahrhaftigkeit sind die Merkmale eines vollendeten ganzheitlichen Seins. 7

In Werthers Geschichte liegt der »Präzedenzfall für den geschichtlich notwendigen Durchbruch zum totalen Menschen« vor, dessen Herstellung einen »Sprung über die feudale Gegenwart« voraussetzt. Indem die moderne Totalität sich im Werther konstituiert, – so die Hauptthese – bedeutet die Figur »die Vorwegnahme des modernen europäischen Menschen«. 8 Diese These ist interpretatorisch kaum haltbar, ihre Implikationen wirkten in der DDR zudem als Provokation. Hans-Georg Werner moniert als unannehmbare Voraussetzung, »daß der Gegensatz zwischen natürlicher menschlicher Totalität und konventioneller sozialer Eingeschränktheit konstitutiv für den modernen Menschen sei«, 9 und bemüht sich um eine Abgrenzung des sozialistischen Menschenbildes vom bürgerlichen Humanitätsideal:

Erst in der sozialistischen Gesellschaft ist Humanität »als soziales Phänomen« realisiert, gesellschaftliche und individuelle Interessen sind zur Übereinstimmung gebracht. Die bürgerliche Humanitätsidee wird demgegenüber von »inneren Antinomien« geprägt: Selbstverwirklichung ist raquo;m Grunde ein privater Aneignungsprozeß und daher praktisch nur realisierbar durch individuelle Anstrengung, deren Lohn letztlich aus den Kosten anderer kam«. 10 Werthers Position, soweit er sie reflektiert, bleibt ähnlich ambivalent. Er affirmiert den bestehenden Zustand, soweit er von seiner privilegierten Stellung im ständischen Ordnungsgefüge profitiert, und protestiert erst, als er ihr Opfer wird (Tl.2, 24.Dez.). »Das aber ist nicht das Holz, aus dem man Revolutionäre schnitzt.« 11

Im bürgerlichen Konzept ist die individuelle Selbstverwirklichung Angelpunkt, im Sozialismus haben »die gesellschaftlichen Bedingungen« das Primat. »Verselbständigen sich ihnen gegenüber die Selbstverwirklichungsansprüche der Individuen, entstehen zusätzliche Schwierigkeiten für den gesamtgesellschaftlichen Entwicklungsprozeß.« 12 >Solche Schwierigkeiten< für die DDR provozierten die Werther-Deutung von Müller und die entsprechende Adaption Plenzdorfs.

Die Werther-Problematik – so die Kritik von Kortum und Weisbach – erhält fälschlich »eine absolut-aktuelle Bedeutung«, weil das humanistische Erbe »auf unvermittelte Weise der sozialistischen Gesellschaft anempfohlen« und als Programm hingestellt wird, das sie zu erfüllen habe. 13 Inhaltlich konzentrierten sich die Einwände auf die Überschätzung der Funktion der Natur für die Persönlichkeitsentwicklung.

Der Verfasser akzeptiert Werthers Gegenüberstellung von Natur und Gesellschaft als echte soziale Alternative. Werthers Ausgliederung aus der Gesellschaft wird als reale Möglichkeit der Selbstverwirklichung interpretiert. 14

Damit wird die Erkenntnis vernachlässigt, daß die Fähigkeiten und Glücksansprüche des Individuums, die zu Spannungen mit der Umwelt führen, ihrerseits schon »ein Resultat der sozialen Entwicklung« sind. 15 Das Unbehagen an der Flucht des Aussteigers Edgar Wibeau in die Abbruchlaube, wo ihm der Werther Artikulationsmedium wird, scheint hier vorweggenommen.

Klaus Scherpe hat den Werther-Konflikt aus dem Verhältnis von Ideologie und Realität der bürgerlichen Gesellschaft zu entwickeln unternommen. Seine Interpretation bestätigt Engels' Eindruck, der in Werthers Gesellschaftskritik den »Jammerschrei eines schwärmerischen Thränensacks über den Abstand zwischen der bürgerlichen Wirklichkeit und seinen nicht minder bürgerlichen Illusionen über diese Wirklichkeit« hörte. 16 Werthers Leidensgeschichte resultiert aus dem »Gegensatz von >persönlicher Unabhängigkeit< und >sachlicher Abhängigkeit<«, der nach Marx der kapitalistischen Gesellschaft eigen sein soll 17; die Kontroverse um den Roman offenbart den innerbürgerlichen Widerspruch zwischen dem Ideal freier Selbstverwirklichung des Individuums und dem gesellschaftlichen Leistungsanspruch, der es psychisch deformiert. Werther wird zum Skandal, weil er »die bürgerliche Moral beim Wort« nimmt:

Gegen den bürgerlichen Individualismus, der den Menschen zum Objekt seines eigenen Leistungs- und Besitzanspruchs macht, setzt er die Freiheit des Individuums, das über die Entfaltung seiner natürlichen Anlagen und Fähigkeiten selbst entscheidet. 18

Obwohl die Geschichte also einen Widerspruch ins Bewußtsein hebt, wird der Art der Verarbeitung eine >integrative<, systemstabilisierende Funktion zugesprochen. Weil Werther seine Freiheit allein im Rückgang auf seine Innerlichkeit realisiert, scheitert er »an der Abstraktion seiner inneren Existenz von den Bedingungen materieller Existenz, die er nicht kontrolliert«. 19 Sein Tod befestigt »den Dualismus von innerer und äußerer Welt«:

Die Selbstbeschränkung und Selbstzerstörung des Individuums im Widerspruch zur bürgerlichen Lebenspraxis erweist sich letztlich als besondere Spielart des >leidenden Gehorsams<. 20

Das Werk wird zum Ventil gesellschaftlicher Frustration; der Leser, der sich mit Werther identifiziert, weint sich über Widersprüche einer Wirklichkeit aus, die er handelnd nicht in Frage stellt.

Diese Interpretation hat Scherpe später nicht grundsätzlich widerrufen, wohl aber ideologiegeschichtlich differenziert (positive bürgerliche Züge des Menschlichkeitsideals produktiver Individualität) und historisch fundiert. Die »im Grunde asoziale und gänzlich unpolitische Ausgangssituation« von Werthers Selbstverwirklichungsanspruch wird jetzt gruppensoziologisch auf die »sezessionistische Protesthaltung« der neuen bürgerlichen Intelligenz der Stürmer und Dränger bezogen. 21

Werther und Wertherwirkung waren für Scherpe Symptome, aus denen er – wie der Untertitel seiner Untersuchung lautet – ein Krankheitsbild, ein »Syndrom bürgerlicher Gesellschaftsordnung im 18.Jahrhundert« diagnostizierte. Zur Diskussion stand die >Misere-Konzeption<, d.h. »die Auffassung einer totalen, alle Bereiche gesellschaftlichen Lebens bestimmenden Stagnation«, die sich aus der ökonomischen und ideologischen Rückständigkeit und Kompromißbereitschaft des Bürgertums ergeben soll, »als Bestimmungsbasis der Literatur«. 22 Scherpe betrieb eine generelle destruktive Analyse bürgerlicher Lebensordnung und gebrauchte deshalb den Begriff Bürgertum »nicht historisch», sondern »moralisch wertend«. 23

Da der die Gesellschafts- und Ideologieentwicklung bestimmende Konflikt »in den innerbürgerlichen Bereich« verlagert wird, kommt es »zur Denunzierung aller moralischpolitischen Wertvorstellungen der vorrevolutionären bürgerlichen Klasse als Integrationselement einer geschichtlich impotenten Klasse«. 24 In seiner Polemik gegen Scherpe erkennt Müller als Quelle aller Fehlurteile, was ihm selbst mit gleichem Recht angelastet worden war: »die idealistische Fassung des Individualitätsproblems und – davon ausgehend – die idealistische Anlage der Beziehung Gesellschaft und Individuum«. 25 Die bürgerliche Individualität »in ihrer Ausprägung als vereinzelter Einzelner«, wie sie Werther vorstellt, ist nur als Symptom und Resultat epochaler gesellschaftlicher Umwälzungen denkbar. 26 Wer heute noch im Anschluß an Scherpe Werther am Selbstwiderspruch der kapitalistisch organisierten Gesellschaft scheitern läßt, 27 fällt hinter den erreichten Diskussionsstand zurück. Die ideologiekritischen Konstruktionen haben sich erschöpft, soweit es nicht gelingt, ihnen eine historisch konkretisierbare lebensweltliche und sozial psychologische Dimension zu geben.

Sowohl Müller wie Scherpe bezogen die Erstrezeption in ihre Untersuchungen ein und suchten die Leistung des Romans für die öffentliche Meinungsbildung zu bestimmen. Werther gilt Müller als »Katalysator einer in Deutschland auf der Tagesordnung stehenden gesellschaftlichen Auseinandersetzung«. 28 Der Roman wurde »ein Politikum ersten Ranges«, 29 weil das Pro und Contra »zugleich eine Stellungnahme für oder gegen die Normen der bestehenden Gesellschaftsordnung« bedeutete. 30 Nach den heutigen ideologiegeschichtlichen und -kritischen Vorgaben werden die goethezeitlichen Stellungnahmen sortiert und gewertet:

In der Entrüstung Goezes (Dokument Nr. 9) – des aus Lessings Anti-Goeze bekannten lutherisch-orthodoxen Hamburger Hauptpastors – sieht Karthaus »die Indignation des bürgerlichen >Establishments<««. Leitthemen seiner Polemik seien »die Verweigerung gegenüber dem Leistungsanspruch der Gesellschaft und die Störung des bürgerlichen Ehefriedens«. 31 Goeze scheint jedoch grundsätzlicher auf die Selbstermächtigung eines Individuums zu reagieren, das die Religion als Ordnungsfaktor und Sinnhorizont des Alltagslebens negiert.

Die wichtigste Schrift gegen den Werther, die Parodie des Berliner Aufklärers Nicolai Freuden des jungen Werthers. Leiden und Freuden Werthers des Mannes (1775) wird heute noch wie von den Stürmern und Drängern als »spießbürgerlich und engstirnig« 32 verschrien. Dabei ist die Karikatur ein legitimes Mittel der Satire, die ihrem Gegenstand gar nicht gerecht werden will. Nicolai stellt Werther in der Ehe mit Lotte in einer Entwicklung dar, die ihn Schritt für Schritt den Werthorizont und die Lebenshaltung eines Bürgers übernehmen läßt: Werther, der Mann, erfüllt Pflichten als Gatte, Vater und Bürger, bildet die ökonomischen Tugenden von Fleiß und Sparsamkeit aus, begegnet dem Schicksal mit verstandesbeherrschter Gelassenheit und findet in einem deistischen Gottesglauben Trost. »Vom subjektiven Gefühlsmenschen wandelt sich Werther zum geselligen Verstandesmenschen.« 33

Wie sehr sich bürgerliche Positionen vom jungen Goethe unterscheiden können, wird auch an Campe, Lessing oder Lichtenberg deutlich, die zu den schärfsten Kritikern Werthers zählen, 34 in anderen Zusammenhängen aber als führende bürgerliche Ideologen gewürdigt werden. Als wichtige Differenzkriterien stellen sich das Menschenbild sowie die Wertung und Funktionsbestimmung von Kunst dar. Werthers Leidenschaft und Fantasie brachte das stoizistischen Traditionen verpflichtete Bild des vernunftgeleiteten Menschen ins Wanken; Lichtenberg nannte Werther einen »Hasenfuß« und Lessing verachtete ihn. Die funktionale Ausdifferenzierung und Verselbständigung des ästhetischen Bereiches, die im Sturm und Drang stattfand, machten die aufklärerischen Pädagogen und Professoren zunächst nicht mit. Die Leistung der >schönen Literatur<, die eher am Rande ihres Interesses stand, maßen sie am gesellschaftlichen Nutzen. »Wer seine Talente nicht zur Belehrung und Besserung anderer anwendet«, urteilt Lichtenberg, »ist entweder ein schlechter Mann oder äußerst eingeschränckter Kopf. Eines von beyden muß der Verfasser des leidenden Werthers seyn.« 35


1.2. Alternative psychologische und sozialpsychologische Deutungsmöglichkeiten
– Die narzißtische >Krankheit zum Tode<

Die »Sachwalter bürgerlicher Lebensordnung« deuten nach Scherpe die Leidensgeschichte zur Krankengeschichte um:

Werthers Versuch der Selbstverwirklichung im Widerstand gegen die bürgerliche Ordnung wird als Krankheitsbild eingefangen und unschädlich gemacht. 36

Doch hat Goethe den Werther wohl schon als Krankheitsgeschichte konzipiert, 37 unmittelbar nach der Niederschrift – nicht erst aus der Distanz des Hofrats und Ministers – hat er ihn Lavater gegenüber als »historia morbi« (Dokument Nr. 1) charakterisiert.

Mit bislang unbekannter Subtilität machte Goethe psychische Prozesse einsichtig. Der Rezensent der Hallischen Gelehrten Zeitungen bewunderte ihn »als einen eingeweihten Seher in den Geheimnissen des menschlichen Geistes«; 38 in der umfassendsten und wichtigsten zeitgenössischen Interpretation suchte Blanckenburg (Dokument Nr. 2) den >Charakter< Werthers schrittweise aus den >Begebenheiten< zu entwickeln. Im 20.Jahrhundert wurde das Werk zu einem bevorzugten Objekt psychologischer und psychoanalytischer Deutungen. Zusammen bestätigen sie, daß Goethes Darstellung »zugleich Diagnose« ist; Werthers Briefe zeigen »eine Helligkeit der Selbsteinsicht«, die es erlaubt, »die Handschrift des Erzählers zugleich als Handschrift des Analytikers zu lesen«. 39

Ein historisch adäquates Werkverständnis wird gesellschaftliche und psychologische Deutungsperspektiven integrieren müssen. Darum scheint mir die Entwicklung und Erprobung von methodischen Modellen entscheidend, die die Interdependenz von gesellschaftlicher und psychischer Verfassung im historischen Prozeß zu erfassen vermögen.

Die psychoanalytischen Deutungen sehen im Werther eine narzißtische Krise gestaltet, die einer ungelösten Mutterbindung entspringt. Werther faßt seine realitätsabgewandte Selbstbezogenheit in das schon den Zeitgenossen anstößige Bild vom »Herzchen«, das er »wie ein krankes Kind« hält; »jeder Wille wird ihm gestattet« (Tl.1, 13.May). 40 Wo das Selbst »der primäre Referenzpunkt aller äußeren und inneren Erfahrungen« wird, macht es sich nicht unabhängig – wie es scheinen könnte –, sondern liefert sich der Erfahrungswelt aus. In dem Maße, wie das Individuum nicht gelernt hat, »zwischen Außen und Innen, Objekt- und Subjekterfahrungen zu unterscheiden«, unterschiebt es »den äußeren Objekten Substrate seiner subjektiven Vorstellungswelt«, äußere und innere Welt werden konvertibel. 41 Wenn sich die Realität gegen ihre projektive Besetzung kehrt, droht dem Subjekt mit dem Verlust >seiner< Welt der Zusammenbruch seiner Identität. Der Roman zeigt zunächst den psychischen Entfaltungsprozeß Werthers, der sich in einer >für seine Seele geschaffenem< Wahlheimat ansiedelt, und sodann den spiegelbildlich angelegten Destruktionsprozeß im Verlust dieser Welt.

Lotte wird für Werther das zentrale »Selbst-Objekt«, 42 das ihm Welt und Selbst repräsentiert und schließlich entzieht (Lotte ist es, die die Pistolen reicht). Als Mutterimago steht Lotte »von Anbeginn im Zeichen des Verbots« 43 (vgl. die Erkenntnis Lottes im Herausgeberbericht nach dem 20.Dez.: der Reiz des Wunsches ist an die »Unmöglichkeit« des Besitzes gebunden); Lotte vertritt an ihren Geschwistern Mutterstatt, Werther versetzt sich ihr gegenüber am liebsten in die Position des Kindes zurück und verweigert damit die ihm zukommende Rolle eines erwachsenen Mannes. Schlüsselszenen dieses Verhältnisses zu Lotte und den Kindern sind häufig illustriert worden: Lotte, Brot schneidend, und Werther spielend unter den Kindern. Die mütterlichen Figuren – die gestorbene Freundin der Jugend, die Tochter des Schulmeisters, die Mutter des wahnsinnigen Schreibers – variieren »eine identische Figurenkonstellation: eine Mutter-Kind-Dyade mit der Abwesenheit des Vaters«. 44

Macht man die nicht verarbeitete Trennung von der Mutter zum Urerlebnis Werthers, so entspringt sein panentheistisches Naturerleben der Sehnsucht nach Vereinigung mit der großen Mutter. Meyer-Kalkus macht bereits in dem berühmten Prosagedicht des Briefes vom 10.Mai, vor der Begegnung mit Lotte geschrieben, die »Aporie narzißtischer Identifizierung« aus: die »Selbstvergötterung in einer narzißtischen Spiegelwelt«, die »das konkrete, endliche Sein des Subjekts« verschlingt. 45 Als eine Weise mystischen Erlebens, Erfüllung durch Gott bei Entleerung des Selbst, war diese psychische Konstellation Goethe und seinen Zeitgenossen bekannt.

Werthers Freitod, als Wunscherfüllung genommen, wird unterschiedlich gedeutet: vom androgynen Mythos aus, als paradoxe Geburt allseitigen Seins, als Reintegration in einen Familienverband (mit der Mutter Lottes als deren »Ebenbild« und einer intakten Vaterfigur, die Gott, Lottes und Werthers Vater vereinigt) und als Regression zur Mutter. 46 Die dichten literarischen Bezüge – die Anspielungen auf die Passionsgeschichte des Johannesevangeliums 47 und der Hinweis auf Lessings Ernilia Galotti, die aufgeschlagen auf dem Pult liegt – erhalten in konkurrierenden ideologiekritischen und sozialpsychologischen Deutungsperspektiven einen sehr verschiedenen Sinn. Vereinfachend unterscheide ich drei Ansätze:

  1. Bei Müller, für den Werther eine Vorbildfigur ist, stirbt der Held den »altruistischen Erlösertod«. 48 Wie die meisten Beiträger aus der DDR, nimmt auch Müller das von Lenz geprägte Bild vom »gekreuzigten Prometheus« auf, dessen »Exempel« dem Leser zum Spiegel werden soll. 49 Die heilsgeschichtliche Überhöhung soll also den exemplarischen Gehalt und die missionarische Intention des Geschehens unterstreichen. Emilia Galotti als antifeudales Tendenzstück bestätigt in dieser Sicht, daß Werther zum Opfer der Ständegesellschaft wird. 
     
  2. Bei Scherpe trägt Werther, indem er sich selbst zerstört, die Widersprüche der bürgerlichen Gesellschaft autopunitiv aus. Der Roman erhält »religiöse Ersatzfunktion«; damit wird die Wertherbewegung »entgegen ihrer umweltfeindlichen Entrückung und melancholischen Selbstgenügsamkeit zwangsläufig zu einem kalkulierbaren Faktor der bürgerlichen Lebensordnung« 50, das Werk selbst verwandelt sich »aus einem Kampforgan der vorrevolutionären bürgerlichen Klasse in ein Ventil ihrer Integrationsbereitschaft«.51 Emilia Galotti läßt sich diesem Modell gleichfalls zwanglos einordnen: Odoardo bringt nicht den Prinzen, den Übeltäter, sondern seine Tochter, das Opfer, um. Ebenso ist Werther »in letzter Instanz nur der Vollstrecker der Gewaltsamkeit, der er sich ausgesetzt sieht«. 52 
     
  3. Viel differenzierter wird der psychohistorische Prozeß der Internalisierung von Normen von Kaempfer gesehen. Werther vertritt demnach einen modernen Menschentyp, bei dem »die Legislative und Exekutive der Sitte im Einzelnen« zusammenfallen. Im Menschenbild des Werther – das ist gegenüber der psychologisch naiven Interpretation seines Selbstverwirklichungsstrebens bei Müller zu betonen – ist die bürgerliche Sitte »im vollen Sinn des Wortes Sache jedes Einzelnen« geworden. 53 Möglicherweise wird dadurch verständlicher, warum Werther Christus als Mittler zum Vater ablehnt, die Textanklänge und die zeitliche Synchronisation der Ereignisse den Helden indes unübersehbar in die Christusnachfolge stellen. Werther braucht das stellvertretende Sühneopfer nicht, da er sich selbst richtet (»Sünde? Gut, und ich strafe mich dafür«); er hat seinen Tod beschlossen, bevor er Lotte umarmt. (Die psychische Konstellation wiederholt Keller in Romeo und Julia auf dem Dorfe: Sali und Vrenchen, die nicht heiraten können, schwören sich den Tod, bevor sie sich besitzen.)

Emilia Galotti muß man in dieser Perspektive nicht – wie es noch Kaempfer tut – als Hinweis auf den »Zusammenprall von bürgerlichem Sittenkodex und aristokratischer Libertinage« sehen. 54 In Lessings Drama repräsentiert Odoardo die >patris potestas<, die Emilia gegen sich aufruft, um der sinnlichen Verlockung (nicht nur der fremden Verführung, sondern der eigenen Verführbarkeit) zu entgehen. Werther besitzt diese Sitteninstanz in sich selbst. Daß die Wertherfigur äußerste Empfindungsfähigkeit zeigt und ihr zugleich ein rigides moralisches Ober-Ich bis zur Selbstzerstörung entgegensetzt: dies scheint mir eine typisch empfindsame Seelenkonstellation, deren Dynamik die Leser bis zu hysterischen Reaktionen trieb.

Werther gibt sich wohl schon im ersten Satz, den wir von ihm lesen, als Selbstmordkandidat zu erkennen: »Wie froh bin ich, daß ich weg bin!« Ortsveränderungen waren das traditionelle Mittel, das Melancholiker zu ihrer Heilung anwandten. Johann Robeck – von den im 18.Jahrhundert in Deutschland wirkenden Moralphilosophen hat er am entschiedensten das Recht auf Freitod verteidigt und schließlich für sich in Anspruch genommen – schreibt 1735:

Ich gebrauche Veränderungen des Orts als Gegenmittel, ohnerachtet ich weiß, daß ich meine Krankheit überall mit umhertrage – zuweilen täuscht man sich gerne mit einer leichten und ungewissen Hoffnung und sucht ein Uebel zu mildern, welches tief sitzt und nicht gehoben werden kann. 55

Es ist dies ganz der Fall Werthers, schon bevor er Lotte begegnet. Der Selbstmord wurde der »Angelpunkt der Auseinandersetzung« um Werther: »Man las das Buch wegen des Totschießens, und Nicolaiten schrieben dagegen wegen des Totschießens.« 56 Dem Roman dürfte eine »spezifische Leistung im Prozeß der Enttabuisierung des Suizids« zukommen. Die Zeitgenossen begriffen den Selbstmord als »ein primär moralisches Problem«, Werther macht ihn »pathogenetisch plausibel«: »Er präsentiert einen Helden, der ebenso selbstbewußt wie schamlos sein Leiden auszusprechen wagt, der sein Leiden in den Kategorien der Alltagserfahrung und in der Sprache der Alltagspsychologie mitzuteilen vermag.« 57

Argumente gegen den Selbstmord

Da der Selbstmord nicht bereut und irdisch nicht gesühnt werden kann, galt er als denkbar schwerster Verstoß gegen das religiöse und gesellschaftliche Normensystem. Im Selbstmord handelt der Mensch »wider alle Pflichten«, 58 er sündigt »gegen sich selbst, die Gottheit, und seine Nebenmenschen«; 59 der Selbstmörder ist also »ein Unchrist, ein Unmensch, ein Unthier« 60 (einen detaillierten Katalog der Pflichtverstöße stellt Sailer auf, Dokument Nr. 12). Im Roman werden zeitgenössisch gängige Argumente gegen den Selbstmord Albert in den Mund gelegt. Während Albert ihn auf eine »Schwäche« oder Verwirrung des Geistes zurückführt, der die »Leidenschaften« nicht zu regieren vermag, assoziiert Werther Selbstmord durchweg mit »Freyheit« (Tl.1, 22.May, 12.Aug.; Tl.2, 16.März). Werther versteht darunter die Selbstermächtigung des Individuums, über sein Leben zur Gänze zu verfügen: >Selbstmord< wird zum >Freitod<.

Die Polemik reagierte auch auf die gesellschaftskritische Wendung Werthers im Streitgespräch mit Albert, den Vergleich mit einem Volksaufstand (Tl.1, 12.Aug.). Wer gegen die höchste Majestät Gottes, seine »Herrschaft über das Leben«, 61 zu rebellieren wagte, wurde als potentieller politischer Revolutionär gefürchtet. Nach dem Sprichwort, »daß derjenige der sein eigen Leben nicht achtet, allezeit der Herr über das Leben eines andern sey«, könnte ein Werther zum Königsmörder werden (Goeze, Dokument Nr. 9).

Psychologie des Selbstmords

Nicht nur bei Goeze ersetzte Entrüstung Einsicht; in der Psychologie des Selbstmordes war der Roman dem zeitgenössischen wissenschaftlichen Kenntnisstand weit überlegen. Soweit ich sehe, hat erst die psychoanalytische Selbstmordtheorie wichtige Aspekte des Geschehens aufgehellt. Der Konflikt zwischen Ich und geliebter Person wird ihr zufolge durch Identifikation zu einem Zwiespalt im Ich selbst, bei dem sich Haß und Todeswünsche gegen die eigene Person wenden. Auf das »Vorhandensein einer intensiven unterdrückten Aggression« in Werther (Todeswünsche gegenüber Albert, Vergewaltigungswünsche gegenüber Lotte in seinen letzten wüsten Träumen) hat Angel Garma, die diese Theorie in ihren Grundzügen entwarf, aufmerksam gemacht. 62 Beim Verlust Lottes, eines lebenswichtigen libidinösen Objekts, führt die Aggression zur Selbstzerstörung. Werthers Selbstmord ist aber nicht nur »eine Handlung aus intensivem AutoSadismus«, er ist zugleich äußerstes Mittel, das Schicksal zu wenden und Lotte wiederzugewinnen. 63 Der Tod gibt der letzten und einzigen Umarmung Dauer: »Sie ist mein! Du bist mein! ja Lotte auf ewig.«


1.3. Die Emanzipation der Phantasie
– Werther und seine Leser

Werther und Lotte finden und verlieren sich über Büchern. Auf der Fahrt zum Tanz, in der Kutsche, isolieren sich die beiden im Gespräch über ihre Lieblingsbücher, beim Gewitter wird dann »Kloppstock« zur »Loosung« ihrer Herzensgemeinschaft: »[...] ihr Blik durchdrang die Gegend, sie sah gen Himmel und auf mich, ich sah ihr Auge thränenvoll, sie legte ihre Hand auf die meinige und sagte – Klopstock!« (Tl.1, 16.Junius)

»Klopstock!«

In der Frühlingsfeyer (1759/71) hat Klopstock die unmittelbare Erfahrung und reflexive Deutung eines Gewitters »in die Einheit eines Erlebnisses eingeschmolzen« 64, Lottes und Werthers Erleben ist demgegenüber mehrfach gebrochen. Die Spannung zwischen Gottes Allmacht, der Ohnmacht der Kreatur und der Unendlichkeit der Seele, die der Ode Größe und Dynamik gibt, verflacht; da das Geschehen nachträglich einem literarischen Muster eingepaßt wird, kehrt die Blickrichtung den Verlauf der Ode um: Aus dem verschonten Haus heraus erfaßt der sympathetische Blick zuerst die im warmen Regen aufatmende Natur, bevor er sich »gen Himmel« wendet. Im Tränenstrom, der sie zusammenführt, reagieren Werther und Lotte auf die Thematik der Frühlingsfeyer: »Der Mensch, in den unausdenkbaren Weiten des Kosmos durch seine Gotteskindschaft geborgen, feiert die in der Welt, in der Natur allgegenwärtige und allsichtbare Güte Gottes.%laquo; 65 In Abwesenheit der irdischen Väter finden sich Lotte und Werther im Zeichen des Allvaters, der den »Bogen des Friedens« über die »Hütte« spannt. Zum Mittler des Vaters wird der Dichter, der in tränenvollen Augen seine Apotheose erfährt.

Die erste Fassung enthält nur den Namensaufruf »Klopstock«, die klassische Umarbeitung verdeutlicht und markiert die Stelle: Werther »erinnert« sich der »herrlichen Ode«, die Lotte »in Gedanken lag«. Ein gemeinsam literarisch angeeignetes Seelengeschehen wird aktualisiert, Liebe entsteht in einem Phantasieraum auf Borg.

Ossian – das Buch als Verführer

Der Klopstock-Szene entspricht symmetrisch die Ossian-Szene; weder der erste (auf die Hand) noch der letzte Kuß (auf den Mund) meinen primär den Partner. Der doppelte literarische Bezug wird in der Ossian-Szene noch greifbarer: Das Buch ist zum einen der Verführer, zum anderen sind die Handelnden selbst Figuren eines literarischen Verführungstopos, d.h. in zeitgenössischer kritischer Wendung: >sie spielen einen Roman<.

Mit Francesca und Paolo schuf Dante (Divina Commedia, V. Gesang) das Muster eines Liebespaars, das über der gemeinsamen Lektüre der Sünde verfällt. Goethe wird auch die folgende Szene von Mme Riccoboni gekannt haben, rechnet doch Lotte Miß Jenny zu den Lieblingsbüchern ihrer Jugend; Mi Lady Juliane Catesby berichtet von ihrer Liebe zu Mi Lord Oßery: 66

Indem wir einmal eine Begebenheit lasen, die sehr rührend, und von zweyen Personen handelte, die sich zärtlich liebten, und die man grausamer Weise von einander trennte: so fiel das Buch aus der Hand, unsere Thränen vermischten sich; und da wir uns beyde, ich weiß nicht von was vor einer Furcht eingenommen, starr und schüchtern ansahen: so schlug er einen Arm um mich, als wenn er mich halten wollte. Ich neigte mich gegen ihn; wir brachen zu gleicher Zeit das Stillschweigen, und ruften zusammen aus: Ach, wie unglückselig waren sie nicht!

 

Auch bei Goethe führt beiderseitiges Mitfühlen fiktiver Schicksale zur Umarmung, bei der das Buch zu Boden fällt. Die psychischen Vorgänge im Werther sind indessen ungleich vieldeutiger und verwickelter, da die Gesänge Ossians zu einer komplexen Seelenlandschaft werden. Mit den drei, nur lose verbundenen Lieder[n] von Selma – dies rechtfertigt m. E. den langen Einschub – können Werther und Lotte mehrere psychische Konstellationen variierend durchspielen: der Vater, der als »der lezte seines Stamms« (Armin) den Verlust der Kinder betrauert (Alpin den einzigen Sohn, der ihn ohne Erbe läßt; Armin Sohn und Tochter); die Frau, die den Geliebten wie den Bruder verliert; Geliebter und Bruder, die sich töten. Colma beklagt ihre »Geliebten« (»sons of my love«): Salgar und den Bruder, die sich wechselseitig erschlugen; Armin, der Vater, beschwört den tragischen Untergang seiner Kinder, Arindal und Daura. Dauras Bruder wird irrtümlich von ihrem Geliebten getötet, der beim Versuch ihrer Rettung gleichfalls umkommt.

Mit dem Barden, der als letzter seines Geschlechts die Helden der Vergangenheit aufruft, tragen Werther und Lotte ihre Zukunft zu Grabe, wobei Werther zusätzlich den Schmerz der Überlebenden durchkostet. Werther findet sich im »Wanderer« wieder, dem alter ego des Barden, mit dem sich die Situation verdoppelt. Wie der Barde vergebens »die Fustapfen [!] seiner Väter« sucht, so der Wanderer die des Barden. Zweimal zieht Werther eine Passage aus Berrathon, dem letzten Lied, heran, in der der Sänger sich selbst anredet:

Der Wanderer wird kommen, kommen! der mich kannte in meiner Schönheit und fragen: Wo ist der Sänger, Fingals trefflicher Sohn? Sein Fußtritt geht über mein Grab hin und er fragt vergebens nach mir auf der Erde (Tl.2, 12.Oct.)

Morgen wird der Wanderer kommen, kommen der mich sah in meiner Schönheit, ringsum wird sein Auge im Felde mich suchen, und wird mich nicht finden.

Mit dem Todeslied Ossians deutet Werther das eigene Ende und erhebt Anspruch auf das Gedächtnis der Nachwelt.

Den genußreichen Höhepunkt des Trennungsschmerzes bildet die Umarmung; sie zielt nicht auf reale Vereinigung, sondern ersetzt sie durch eine symbolische Handlung, die sich Werther nach dem Todesgelöbnis erlaubt. Der melodramatischen Ossian-Lektüre folgt die ernüchternde Schilderung von Werthers Ende (aus dem Bericht Kestners über Jerusalem).

 

Wertheriaden als Wunscherfüllung:
Werther und Lotte finden sich

Diesen Realismus – der mit die Größe des Werkes ausmacht – haben zahlreiche Wertheriaden rückgängig gemacht. Sie bestätigen Werthers Wunschwelt, Lotte wird zur sehnsüchtig Trauernden an seinem Grab. Reitzensteins Lied Lotte bey Werthers Grab (mit der fingierten Ortsangabe Wahlheim 1775), von Reichardt vertont, wurde besonders populär: eine seelisch gebrochene Lotte, in einer gescheiterten Ehe, die Gott um Vergebung des Selbstmordes bittet und auf himmlische Vereinigung hofft. (Das Lied wurde auch bei >Wallfahrten< zu Jerusalems Grab gesungen, s. Dokument Nr. 5.)

Im Himmel und im Tod werden die Liebenden kopuliert. In Stockmanns Leiden der Jungen Wertherinn, in der Briefe Lottes die Geschichte variieren und ergänzen, empfängt Werther die bald nach seinem Tod abgeschiedene Lotte mit den Worten »Sie ist mein! Du bist mein! ja, Lotte auf ewig!« 67 Die selbstbekräftigenden Formeln Werthers werden wahr, in Schmalöggers Ballett in Gestalt des Tableaus vom Liebestod. Lotte liest den Abschiedsbrief »und mit einem sprechenden Auge auf ihn gerichtet, gleichsam sagend: ich komme schon, stößt sie sich den Dolch ins Herz, und fällt sterbend in Werthers Arme.« 68

 

»Ich kehre in mich selbst zurück,
und finde eine Welt!«

Werther führt, wie Anton Reiser, »ein doppeltes, ganz voneinander verschiedenes inneres und äußeres Leben«. 69 Den »Einschränkungen« der Realität stellt er eine introvertierte Fantasiewelt entgegen: »Ich kehre in mich selbst zurück, und finde eine Welt!« (Tl.1, 22.May) Werthers Fantasie, literarisch großgezogen, sucht die Alltagswirklichkeit literarischen Mustern anzugleichen. In aufsteigender Lebenslinie sieht er die Welt durch die Brille Homers, in absteigender durch die Brille Ossians; dem Alten Testament entnimmt er patriarchalische, dem Vicar of Wakefield idyllische Szenerien. Das Wunschbild und die Realität, auf die es projiziert wird, kommen dabei nicht zur Deckung.

Ich wähle drei Stellen, die Werthers »patriarchalische Idee« desillusionieren, also seine Vorstellung einer allen Ständen gemeinsamen Lebenswelt, die den Produktions- und Reproduktionsbereich noch nicht trennt.

  1. Die »patriarchalische Idee« wird Werther am Brunnen lebendig; er erträumt sich Zeiten, in denen »die Altväter am Brunnen Bekanntschaft machen und freyen« und »die Töchter der Könige selbst« das Wasser schöpfen (Tl.1, 12.May). Doch als er einem Dienstmädchen den Krug auf den Reif setzen hilft, wird sie »roth über und über. O mein Herr! sagte sie -« (Tl.1, 15.May). Werther ist der fremde Herr aus der Stadt, dessen ungehörige Herablassung das Mädchen schamrot macht.
     
  2. »Züge patriarchalischen Lebens« meint Werther »ohne Affektation« in sein Leben verweben zu können, wenn er während der Homerlektüre im Garten Erbsen entschotet und sie in der Wirtsküche selbst zubereitet: »da fühl ich so lebhaft, wie die herrlichen übermüthigen Freyer der Penelope Ochsen und Schweine schlachten, zerlegen und braten« (Tl.1, 21.Juny). Dies ist in der Tat pure »Affektation« eines Intellektuellen; der Leser ist aufgefordert, die von Werther zurückgewiesene Wertung zu überprüfen und als zutreffend zu erkennen.
     
  3. Werther, der als unstandesgemäßer Bürgerlicher aus der adligen Gesellschaft beim Grafen von C. gewiesen wird, mietet sich ein Kabriolett und fährt nach M., um »dort vom Hügel die Sonne untergehen zu sehen, und dabey in meinem Homer den herrlichen Gesang zu lesen, wie Ulyß von dem treflichen Schweinhirten bewirthet wird, Das war all gut.« (Tl.2, 15.Merz) Literatur hat hier zweierlei Funktion: Sie dient als diätetisches Mittel zur Beruhigung von Gemütsbewegungen und bietet eine Situation – der Herrscher macht sich mit dem niedersten seiner Knechte gemein –, die sich gegen die aktuellen Ständeschranken aufrufen läßt. Doch der Erfolg ist zu bezweifeln. Die »patriarchalische Idee« bleibt eine literarische Fiktion, Werther vermag sie weder mit einer vergangenen noch einer gegenwärtigen Realität zu vermitteln. Die Lesesituation wird stimmungsmäßig und landschaftlich (Hügel, mit Blick auf die untergehende Sonne) bewußt inszeniert.

 

Auf diese Szene trifft schon die Kritik zu, die Moritz im Andreas Hartknopf (1786) formuliert. Hartknopf trifft den Erzähler, der oben am Wald, ins Gras hingestreckt, Klopstocks Messias vor sich, den Untergang der Sonne erwartet. »Du machst die Scene, sie fügt sich nicht von selbst; deine Seele ist nicht aufrichtig, deine Empfindungen sind erkünstelt, der Abdruck der schönen Natur in dir ist verfälscht.« 70

 

Freisetzung von Empfindungs- und Fantasiekräften

Werther und Wertherwirkung stehen für die Freisetzung von Empfindungs- und Fantasiekräften. Werthers Fantasiewelt war wie ein Sog. Aus dem Dichter wurde Orpheus, nach dessen Gesang die Leser tanzten. »Erregung der Leidenschaften« galt als seine »höchste Kunst«: »Durch sie wirkt er auf die Seele des Lesers, übt unumschränkte Gewalt über sein Herz, bemächtigt sich jeder Empfindung, und lenkt sie nach seinem Gefallen.« 71 Der Aufforderung des Vorworts wurde nachgelebt, das Buch konnte »Freund, und Tröster, und alles« 72 werden (Moritz, Nr.4).

In der Tradition des Briefromans von Richardson und Rousseau wird das Geschehen aus der Sicht mehrerer Korrespondenten berichtet und besprochen, die neue Form des einperspektivischen Briefromans lud zur Identifikation mit der Hauptfigur ein:

der Held, Er, Er ganz allein, lebt und webt in allem, was man liest; Er, Er steht im Vorgrund[!], scheint aus der Leinwand zu springen, und zu sagen: Schau, das bin ich, der junge leidende Werther, dein Mitgeschöpf! (Schubart, Nr.3).

 

Die Verehrer, die sich mit Werther identifizierten, verklärten ihn zum Märtyrer, der die Passion Christi als Geschichte absoluter Liebe aktualisiert, die im Leid ihren Wert bewährt. In der Werthernachfolge stilisieren sich Liebende, deren Vereinigung man hindert, als »Märtyrer« und »Märtyrerinnen« der Liebe, Empfindung, Wahrheit und Natur; 73 in satirischer Übertreibung gieren sie, »den vollen Kelch der Leiden zu trinken, auszuleeren die Schale des Zorns!!« 74

Da der Erzähler hinter Werther zurücktritt, nicht als »Vormund seiner Gestalten und seiner Leser« deutliche Orientierungsmarken setzt, fällt die >Moral von der Geschicht`< »in die Verantwortung des Lesers«. 75 Die Mehrzahl der Leser aber wollte oder konnte sich keine kritische Rechenschaft über den Roman geben; sie gehören zur Kategorie des »sympathetischen« oder »leidenschaftlichen Lesers« (Lenz), der kein Urteil über ein poetisches Werk fällt, sondern »die darin vorkommenden Rollen für sich oder andre austeilt«. 76 Dem Dichter als Psychagogen entsprach der >sympathetische Leser<. Bei so viel Empfindungsüberschwang wurde die kritische Distanz, in die der Text Werther rückt, kaum wahrgenommen.

Mit anderen populären Romanen war Werther wesentlich am Aufbau und an der Ausgestaltung der zeitgenössischen Fantasiewelt beteiligt. Die Fantasie enthebt das Individuum seiner raumzeitlichen Lebensordnung; poetische Werke, indem sie uns in eine fiktive Welt entführen, »schaffen um uns herum eine ganz andre Welt, als die wirkliche ist/laquo; 77 Funktion und Wert der Fantasie wurden in der Lesedebatte des späten 18.Jahrhunderts kontrovers diskutiert. Die Fantasie zeigte ihren Januskopf:

Das Individuum vermag sich >Welt< ästhetisch anzueignen und seinen >Möglichkeitshorizont< zu erweitern, doch kann die Fantasie, da sie Handlungen symbolisch auszuagieren erlaubt, auch zu einem die Verhältnisse stabilisierenden Ventil werden. Die Bedeutung der Fantasie und damit der Lektüre bei der Ausbildung der Empfindungsfähigkeiten betonten Heinse (Dokumente Nr. 6, 7) und Lenz. Das Herz der Leserin muß nach Heinse »mit heftigen Gefühlen durchrissen« werden, damit die Adern sich öffnen, »woraus die Empfindungen fliessen«. Mädchen sollen demnach nicht vor Leidenschaften bewahrt, sondern – in gleichsam erotischer Begegnung – von »ihren starken Armen umwunden« werden. 78 Dem Zeitgeist kommt Vezins' Vater näher (Dokument Nr. 8), der die Romane ins Feuer wirft, damit sie bei seiner Tochter nicht unzeitige Wünsche wecken und Unzufriedenheit stiften.

Den pragmatischen Aufklärern galt die Fantasie als potentieller Störfaktor gesellschaftlicher Ordnungen, als »des Menschen gefährlichster Feind«. In Bahrdts Handbuch der Moral für den Bürgerstand (1789) dient als Regel: »ein weiser Mann muß sorgen, daß die Phantasie nicht mit ihm spiele: er muß die Bilder, wie sie sie bringt, gleich wieder verdrängen.« 79 Gegen den Werther wurden zwei Anklagepunkte formuliert:

  1. Werthers Leben und Sterben verführt zur Nachahmung, da der Autor sich nicht deutlich negativ wertend von seinem Helden absetzt;
  2. deshalb können die Reflexionen Werthers, die seinem Charakter entspringen, als Aussagen zur Sache mißverstanden werden.

 

Die Selbstmorddebatte (Dokumente Nr. 9, 10, 11, 12) wird von diesen Argumenten geprägt; die Kritiker rekapitulieren das Streitgespräch zwischen Albert und Werther (Tl.1, 12.Aug.), kommen dabei Albert zu Hilfe und legen die Gegengründe systematisch dar. In der Tat scheint Werther als Modell und Rechtfertigung des Freitods gedient zu haben. Sogar von einem Anstieg der Selbstmordrate während des >Wertherfiebers< wird gesprochen. Nach dem 7Jährigen Krieg, besonders aber in den 8oer Jahren soll in vielen Residenz-, Handels- und Universitätsstädten der Selbstmord zugenommen haben. Zur »Ursache« macht Osiander die »Sucht der faden Romanen-Lectüre«, wodurch »die Liebe, einen Roman zu spielen, und endlich wie ein Romanenheld zu sterben«, sich unter der Jugend verbreitete. 80 In mehreren Fällen starben Selbstmörder mit Werther oder einem anderen Roman in der Tasche oder auf dem Tisch. »Werther ersetzte die letzten Worte.« 81

Ein Dokument für die mitreißende Wirkung, die psychische Kontrollen außer Kraft zu setzen vermochte, ist der erfolgreiche Zensurantrag der Theologischen Fakultät der Universität Leipzig, wo der Roman verlegt wurde. Selbst gelehrte Männer wußten sich der Lektüreeindrücke nur schwer zu erwehren. Das Pro Memoria an die Churf. Bücher Commission nennt die wichtigsten Zensurgründe: Der Roman wird als Vorbildgeschichte gelesen, die »Apologie« des Selbstmords verstößt gegen das Christentum und die »Empfehlung« ermuntert gar zu dem Verbrechen; besonders gefährdet erscheinen Frauen, weil das >Realitätsprinzip< bei ihnen angeblich schwächer entwickelt ist (gleiches gilt für die hier nicht genannten Jugendlichen vor der Heirat bzw. dem Berufseintritt). Formuliert wurde der Antrag vom Dekan Johann August Ernesti, dessen Homerausgabe Werther in Wahlheim auf Schritt und Tritt begleitet (Tl.2, 28. Aug.): 82

Diese Schrift ist eine Apologie und Empfehlung des Selbst Mordes; und es ist auch um des Willen gefährlich, weil es in witziger und einnehmender Schreib Art abgefaßt ist. Einige gelehrte und sonst gesezte Männer haben gesagt, daß sie sich nicht getrauet hätten das Buch durchzulesen, sondern es etliche mal weggelegt hätten. Da die Schrift also üble Impressiones machen kann, welche, zumal bey schwachen Leuten, Weibs Personen, bey Gelegenheit aufwachen, und ihnen verführerisch werden können; so hat die theol. Facultät für nöthig gefunden zu sorgen, daß diese Schrift unterdrückt werde: dazumal itzo die Exempel des Selbstmordes frequenter werden.

 

Auch andernorts wurde das Werk verboten und mit mehreren Wertheriaden auf staatliche Indices gesetzt (Bayern, Österreich). An der Durchschlagskraft der Unterdrückungsmaßnahmen ist indes zu zweifeln. Weygand hat trotz des Leipziger Verbots 1775 drei weitere Auflagen gedruckt, und in Wien haben sogar die Stubenmädchen über Werther »räsonirt«, 83 obschon er auf dem Index stand.

2. Zur Werther-Rezeption im 19. und 20. Jahrhundert

Die Rezeption des Werther im 19. und 20.Jahrhundert wird in zwei Absichten skizziert: Deutlich werden sollen Hauptlinien der kritischen Rezeption (Interpretation, Wertung) sowie Haupttypen produktiver Rezeption, die im Goetheschen Roman angelegte Verständnismöglichkeiten akzentuieren, d.h. betonen und vereinseitigen, oder auch einzelne Motive weiter entwickeln und ausbauen. Selbstverständlich stehen die >Wertheriaden< in einem eigenen literar-, ideen- und sozialgeschichtlichen Kontext, so daß eine Interpretation, die die Bezüge zum Werther in den Mittelpunkt stellt, notwendig einseitig bleiben muß. Doch interessieren an dieser Stelle nicht so sehr die Werke in der Werthernachfolge selbst, als was sich mit ihrer Hilfe über die Geschichte Werthers in Erfahrung bringen läßt: was an ihm kritisch auffiel und wozu er produktiv anregte.

Die formalen und / oder thematischen Bezüge zum Werther gestalten sich bei den herangezogenen Werken sehr unterschiedlich: analoge Komposition – ein Herausgeber veröffentlicht Briefe und Tagebuchblätter eines Verstorbenen – und Thematik, Zitate und Anspielungen im Mund des Erzählers oder seiner Figuren, Rückbezug auf den Werther im Titel. Eine einläßliche Untersuchung hätte nach Art und Gewicht der Parallelen und Verweise genauer zu differenzieren. Höhepunkte erreicht die Rezeption Werthers in den Jahr-zehnten vor 1848 und nach 1900. Beide Male ist der Roman so populär, werden so viele und vielartige Bezüge zur Gegenwart hergestellt, daß schließlich Vergleiche mit bzw. Anspielungen auf den Werther – plakativ gebraucht – informationsarm werden. In Zeiten hohen Bekanntheitsgrades wird der Goethesche Roman auch humoristisch, parodistisch und satirisch konterkariert. Oft dient der Werther dabei als Kontrastfolie: Der tragischen Handlung, ihrem abstrakten Emotionalismus und rhetorischen Pathos, werden banale Geschehnisse gegenübergestellt, die sehr egoistischen Motiven entspringen und in einem betont >niederen< Stil erzählt werden können.

 

Heines Harzreise

Zwei noch heute gelesene Texte sollen dies verdeutlichen. In der Harzreise (1826) läßt Heine beim studentischen Saufgelage auf dem Brocken ein empfindsames Freundschaftspaar auftreten. Stockbesoffen öffnen sie statt des Fensters einen Kleiderschrank und reden mit ausgestreckten Armen – der typischen empfindsamen Sehnsuchtsgeste – eine gelblederne Hose an, die sie für den Mond halten. Als sie sich wechselseitig mit erbrochenem Rotwein übergießen und zu verbluten meinen, paraphrasieren sie die dem Werter eingelegten Todesgesänge Ossians.

Mit dieser derben Parodie des >hohen< Stils, des Todes- und Freundschaftskultes der Empfindsamkeit steht Heine in einer seit dem >Werther-< und >iegwartfieber< ungebrochenen Tradition; bis in die 50er Jahre hat z.B. Nestroy immer wieder die Rolle Werthers in Des jungen Wertber's Leiden. Parodierende Lokalposse in 1 Act von Karl Meisl gespielt. 84

 

Mehrings Müller. Chronik einer deutschen Sippe

Das zweite Beispiel entstammt den Parodien und Satiren, die auf die Aufwertung und Aktualisierung Werthers nach 1900 (s. unter unter 4) reagieren. Als Walter Mehring 1934 den sogleich beschlagnahmten Roman Müller. Chronik einer deutschen Sippe vorlegt, der »die Durchschnittsmenschen, die Mittelmäßigen, die geborenen Untertanen« 85 durch die Jahrhunderte begleitet, überschreibt er ein Kapitel »eiden des jungen Werther« Der Glorifizierung Friedrichs d.Gr. und dem Gefühlsüberschwang der Literatur wird das Alltagselend einer Berliner Gardistenwitwe gegenübergestellt. Die Mutter ist zur Prostitution gezwungen, ihr Sohn Jonathan unterhält ein homosexuelles Verhältnis; ist die Mutter mit dem alten Herrn Köckeritz liiert, so der Sohn mit dem jungen. Das Verhältnis der Jungen zerbricht an den Leiden des jungen Werthers, die Jonathan den Kopf verdrehen, so daß er sich mit blauem Frack und gelber Weste kleidet. »>Gesteh es, du hast den Werther gelesen!< schrie Herr von Köckeritz. >Verräter!<, und er lief davon.« 86

Wie Heine, so steht auch Mehring in einer Tradition. Den Werther zu benutzen, um gegen Friedrich d.Gr. zu polemisieren, bot sich an, seit von einer >preußen-orientierten< Literaturgeschichtsschreibung der Aufschwung der deutschen Literatur mit Lessing, dem Sturm und Drang und Goethe dem Wirken des Preußenkönigs zugeschrieben wurde (dagegen F. Mehrings Lessing-Legende, 1893).

Zehn Jahre vor Müller. Chronik einer deutschen Sippe veröffentlichte Werner Hegemann eine scharfe antifriderizianische und antipreußische Streitschrift unter dem provokanten Titel Friedrich II. als Werther und Reichsverderber. In Dialogen – in denen auch Thomas Mann auftritt – werden die Selbstmorddrohungen des »brandenburgischen Werther« als diplomatisches Manöver entlarvt, wird die »preußische Literaturgeschichte« (Erich Schmidt) der Geschichtsklitterung überführt und – wie es sich bei Heine andeutete – immer wieder die Homoerotik des empfindsamen Zeitalters, hier vorzüglich Friedrichs selbst, ausgespielt. 87

 

Rezeptionstypen

Im folgenden werden fünf Typen kritischer und produktiver Rezeption gebildet und das Material versuchsweise nach ihnen gruppiert:

  1. Werther als sittlich Kranker, »Übergangsnatur« einer Umbruchzeit.
  2. Der Mißbrauch der Kunst, Werther als Lebensspieler.
  3. Werther als Pantheist, Religionskritik und Regression.
  4. Unerreichbare Sehnsucht und bedingungslose Wahrhaftigkeit.
  5. Alexis' Englischer Werther wird als Einzelfall hinzugefügt, weil er wertvolle Aufschlüsse über die Psychopathologie des Selbstmordes gibt.

2.1 Der sittlich Kranke,
»Übergangsnatur« einer Umbruchzeit

>Krank< ist das dominante Werturteil über Werther und seine Zeit. Die Kulturhistoriker des 18. Jahrhunderts, Schlosser und Biedermann, verweilen bei Werther und Siegwart, weil sie »bei keiner andern Gelegenheit den innern Zustand der damaligen deutschen gebildeten Kreise leichter und zugleich anschaulicher vors Auge bringen« können. 88 Werther spiegelt die Stimmung der Zeit vor Ausbruch der Französischen Revolution, »die selbst krankte an der Leere des äußeren Lebens und am Uebermaß der dadurch in sich zurückgestauten Gefühle des Einzelnen«. 89 Als Krankheitssymptome gelten Unmännlichkeit, Quietismus und Selbstgenuß des Helden.

 

Menzels Polemik: Werther als »Narcissus«

Für Menzel – heute nur noch als Denunziant der Jungdeutschen bekannt –, der den ästhetischen Egoismus und den weibischen Charakter Goethes bloßzustellen suchte, wurde der Werther zu einer wahren Fundgrube.

Ein Narcissus, dem Alles, was er in die Hand nimmt, dem jeder Gegenstand, auf den sein Blick fällt, ein Spiegel wird und der in dieser Selbstbeliebäugelung nothwendig völlig weibisch werden oder untergehen muß, ist ein schlechtes Vorbild für die deutsche Jugend. 90

Der Kritiker stellt einen ganzen Lasterkatalog zusammen: »die Herzenshoffahrt, das Besserseynwollen, das Sichunglücklichfühlen, das Gekränktseyn durch die Prosa der Welt, die ewige Geltendmachung vom Rechte vornehmer Geister und die Versäumniß jeder männlichen Pflicht, die Auskramung der kleinsten persönlichen Eitelkeit und die Mißachtung des Vaterlandes, das immerhin zu Grunde gehen konnte, wenn nur solche Zärtlinge ihre Koketterie befriedigten.« 91 Hellsichtig spricht Menzel – womit er an die Analyse des >ästhetischen Lebensspielers< von Jean Paul anschließt und ein hauptsächliches Merkmal >ästhetischer Existenz< benennt, wie sie Kierkegaard im Tagebuch des Verführers entfaltet (s. unter 2) – von »geistiger Wollust« und »geistiger Selbstbefleckung«, 92 d.h. von der Todsünde der Ästhetik gegen das Leben. Anders als Menzel in seinem monomanen Goethehaß, wußte die Mehrzahl der Kritiker zwischen dem Autor und seinem Werk zu unterscheiden. »Die Andern waren Kranke, nur Goethe zugleich Kranker und Arzt«, 93 doch blieb strittig, ob die schriftstellerische Therapie nur dem Arzt oder auch seinen Zeitgenossen half.

 

Geschichtsphilosophische Spekulationen

Der Großteil der Kritiker bis ca. 1880 argumentiert geschichtlich. Dabei vermag die geschichtsphilosophische Spekulation – wie sie sich bei Hegelianern, Sozialisten, rudimentär auch bei Jungdeutschen findet – die Positiva und Negativa in der Werther-Bilanz, am besten zu vermitteln:

Werther hat ein >Moment< der modernen Welt, nämlich »die Freiheit« und »das Recht der Subjectivität«, 94 zur Geltung gebracht; Aufgabe der Gegenwart ist es, diesen Anspruch im sozialen und politischen Leben der Nation durchzusetzen, was Werther weder wollte noch konnte. Mundt gibt der partiellen Berechtigung Werthers in der Metaphorik der Lebensalter Ausdruck. Der Mensch ist ein »eiliger Sohn der Zukunft« und kann seine Zeit nicht hinbringen, um der Natur Wiegenlieder zu singen. »Nachdem er seine sentimentale Frühlingsperiode überwunden, betritt er, an Hoffnungen groß, das Feld der Geschichte und erweitert seine Landschaftsstudien zu Weltstudien.« 95 Entsprechend läßt Mundt in den Moderne[n] Lebenswirren (1834) Zodiacus, den Leibhaftigen in Gestalt des Parteigeistes, spotten:

der närrische Werther lebte vielleicht noch, wenn er Manns genug gewesen wäre, nur ein einziges Mal auf der Hambacher Ruine eine Rede zu halten [...]. Außerdem würde es diesen ächtdeutschen Werther schon gerettet haben, wenn er sich nur hätte entschließen können, mehr Zeitungen zu lesen. 1

 

Der Werther der Gegenwart, der aus der Geschichte gelernt hat, wird zum Revolutionär. Karl Grün, ein radikaler Linkshegelianer, schreibt am Vorabend der Revolution von 1848: 97

Auch heute opponiren wir wieder gegen das >schleppende, geistlose, bürgerliche Leben<; aber wir halten ihm nicht mehr die Ausflucht zum Selbstmorde oder die Gestaltung dieser Ausflucht zu einem Romane entgegen. Einer von beiden muß jetzt weichen, das bürgerliche Leben oder wir.

Hauptmann (Vor Sonnenaufgang, II.Akt) hat sich auf dieses Argumentationsmuster bezogen, als er in der Gestalt Loths – eines Sozialagitators – den Widerspruch zwischen programmatischem Anspruch und privatem Verhalten thematisierte. Loth, der einen »Kampf um das Glück aller«, einen »Kampf im Interesse des Fortschritts« führt, redet Helene den Werther aus: »ein dummes Buch«, »ein Buch für Schwächlinge«. Statt dessen empfiehlt er Dahns Kampf um Rom und entlarvt damit sein hohles Geschichtspathos. Helene, ohne ein Wort des Abschieds sitzengelassen, wird in den Tod gehen.

 

Werther als »Übergangsnatur«

Unter den geschichtlichen Deutungen stimuliert das Verständnis Werthers als »Übergangsnatur« die produktive Rezeption am meisten, denn Werther wird hier zu einem Typus, den man in unterschiedlichen Umbruchsituationen aktualisieren kann.

Werthernaturen müssen zugrunde gehen, weil sie immer Übergangsnaturen und als solche stets energielos und krank sind. Ein Altes stirbt in ihnen und ein Neues fängt an zu leben, sie sind überreif für das Alte und noch nicht reif für das Neue und finden keinen harmonischen Ausgleich für die Gegensätze, die in ihnen gähren, die sie aufreiben, die sie schlaff und krank machen. Was sie können, wollen sie nicht und was sie wollen, können sie nicht. 98

Diese Interpretationslinie geht wohl auf Immermann zurück, der die Restaurationszeit nach 1815 als eine »Übergangsperiode«, einen »Doppel- und Nichtzustand«, charakterisierte, über die sich »ein Werther des neunzehnten Jahrhunderts« schreiben ließe. 99 Die »Frage nach dem Werther unsres Jahrhunderts«, nach dem Werther »als Zeittypus«, 100 warf 60 Jahre später Ludwig Jacobowski in Werther, der Jude (1892) erneut auf.

 

Jacobowskis Werther, der Jude

Mit dem jüdischen Studenten Leo Wolff schuf er die literarisch bedeutsamste »Übergangsnatur« in der deutschen Werthernachfolge. Leo verkörpert einen »Typus der neuen jüdischen Generation«, 101 die im Kaiserreich von 1871 aufwächst und sich zu assimilieren sucht, aber im Widerspruch zwischen ihrer Herkunft und dem Antisemitismus ihrer Umwelt zugrunde geht. Ein »Mensch mit zwei Seelen«, 102 »kein ganzer Jude mehr und noch kein ganzer Germane«, 103 scheitert Leo auch ganz persönlich: »die große ethische Reformation der Juden« 104 im Sinn, schwängert er ein Ladenmädchen, das ins Wasser geht, während der Vater und sein Vetter – Vertreter des alten jüdischen Geistes – mit einem klug arrangierten Firmenzusammenbruch »die dummen Gojims« um ihre Ersparnisse prellen.

 

Goebbels Michael

Mit Michael. Ein deutsches Schicksal in Tagebuchblättern (1929), 105 einem Roman der >Volkwerdung<, versuchte sich Goebbels – Reichspropagandaleiter der NSDAP – an einer nationalsozialistischen antisemitischen Kontrafaktur Werthers des Juden. Als »Soldat der Revolution« trennt sich Michael vom Bürgertum, und damit von seiner Geliebten, und wendet sich dem »Arbeitertum« zu. Wie Werther mißt sich Michael an Christus – der »moderne Mensch« ist »ein Christusmensch«, die »modernen Deutschen« »so etwas wie Christussozialisten« – und bringt das Opfer seines Lebens. Das Buch ist als »Zeichen der Zeit und Symbol der Zukunft« gedacht, Michael als eine tragische Übergangsfigur, wie die Widmung mit ehernem Pathos verkündet:

Du fordertest Dein Schicksal in die Schranken. Biegen oder brechen! Noch war es zu früh. Deshalb wurdest Du Opfer. Deine Antwort war: Tod!

2.2 Der Mißbrauch der Kunst,
Werther als Lebensspieler

In Kierkegaards Tagebuch des Verführers (1843) 106 versucht der Held, »die Aufgabe eines poetischen Lebens zu realisieren«. In »seiner unendlichen Reflektiertheit in sich selber« bedient sich Johannes der Wirklichkeit nur als »Inzitament«. Statt Poesie und Wirklichkeit zu trennen, studiert er die Wirklichkeit nur, um sie nach ästhetischen Prinzipien – in diesem Falle nach der F. Schlegelschen Kategorie des >Interessanten< – arrangieren zu können.

Das Poetische war das Mehr, das er selbst mitbrachte. Dieses Mehr war das Poetische, das er in der poetischen Situation der Wirklichkeit genoß; das nahm er wieder zurück in Form von dichterischer Reflexion. Dies war der zweite Genuß, und auf Genuß war sein ganzes Leben berechnet. 107

Der Reflexion des Genusses dient das Tagebuch, denn es erlaubt Geschehenes analysierend nach-, Künftiges planend vorauszuempfinden, an den eigenen Erlebnissen und Handlungen gestaltend tätig zu sein und sie von Zeit zu Zeit zu leitenden Maximen zu verarbeiten.

Die Voraussetzungen für eine derartige Pervertierung des Schönen zum >Bösen<, wie sie Kierkegaard aufzeigt, hat nicht erst die Frühromantik, sondern bereits die Empfindsamkeit geschaffen. Die Empfindsamen fühlen bewußt; sie sind wohl die ersten modernen Menschen, die in der selbstbezüglichen Reflexion auf ihr Gefühl den Genuß suchen. 108 Die ersten kritischen Analysen ästhetischen Lebens beziehen sich auf den Werther: F. H. Jacobis Woldemar (1779) und Allwill (1792), von denen sich Jean Paul zur großartigen Figur des Roquairol im Titan (1800-03) inspirieren ließ.

 

Jean Pauls Roquairol
– ein ästhetischer Lebensspieler

Auf einer Redoute weist Linda de Romeiro, als Lotte gekleidet, Karl Roquairol ab. Karl holt sich von zu Hause Werthers Anzug und Pistole, spielt – vom Liebhabertheater her »an öffentliches Agieren schon gewöhnt« – vor ihr den Werther und drückt nach einigen Nein »vor der ganzen Maskerade das Schießgewehr auf sich ab«. Doch wird er nur leicht verletzt. Als später Linda Albano liebt, den Freund und das schwärmerisch-ideale >alter ego< Roquairols, schlüpft er in dessen Maske. Er macht sich die Nachtblindheit Lindas zunutze und verführt sie mit verstellter Stimme in der Rolle Albanos. Die Verführung hat er mit »allen theatralischen Zurüstungen und Verwickelungen« angelegt, so daß er sie unmittelbar danach auf dem höfischen Liebhabertheater in einem von ihm gedichteten und auf ihn bezogenen Stück wiederholen kann: »Der Trauerspieler«. Roquairol deckt darin seine ruchlose Tat auf. Zu Ende schlüpft er in sein »blutiges Brautkleid« – den noch mit Blut bespritzten Wertherrock von der Redoute –, verspricht sich in Werthers Manier selbst zu strafen und macht aus dem in der Rolle vorgesehenen Selbstmord ernst. 109

Werther wird für Roquairol – wie Rehm in einer wegweisenden Studie gezeigt hat – «zur Lebens-Rolle und Charakter-Maske«. 110 Der Redoute vom Anfang »als Präfiguration« antwortet die »selbstgedichtete Scene am Ende als Figuration, auf die alles hinzielt«. 111 Der Typus des Lebensspielers, den Roquairol verkörpert, hebt jeden Ernst des Lebens und selbst des Todes für sich auf, indem er Kunst und Leben sich wechselseitig ineinander reflektieren läßt. »Karl hatte und kannte alle Zustände des Herzens«, »erschuf sie spielend in sich und andern«, antizipierte oder erinnerte Wahrheiten wie Empfindungen.

Alle herrliche Zustände der Menschheit, alle Bewegungen, in welche die Liebe und die Freundschaft und die Natur das Herz erheben, alle diese durchging er früher in Gedichten als im Leben, früher als Schauspieler und Theaterdichter denn als Mensch, früher in der Sonnenseite der Phantasie als in der Wetterseite der Wirklichkeit; daher als sie endlich lebendig in seiner Brust erschienen, konnt' er besonnen sie ergreifen, regieren, ertöten und gut ausstopfen für die Eisgrube der künftigen Erinnerung. 112

Den ästhetischen Lebensspieler quält ein Hunger nach unmittelbarer gegenwärtiger Existenz, doch verdirbt er sich jede Speise von vornherein. In dem Maße, wie das Ich auf der Spirale der Reflexion steigt, gelangt es auf immer höhere Beobachtungsposten und entfernt sich von seiner tragenden leiblichen Basis. »Vom Ich herunter« sieht Roquairol den Bewegungen seiner Leidenschaften zu, zerschneidet sie und steckt sie ineinander wie Polypen – wie es im Text heißt. »Dann seh' ich wieder dem Zusehen zu, und da das ins Unendliche geht, was hat man denn von allem?« 113 Roquairol ist »sinnlich aus Langeweile«, er haßt »die Sinnenlust« 114 ebensosehr wie sie ihn reizt, weil sie seine instrumentalisierte Leiblichkeit auf widerständige Weise affiziert.

Am Schauspieler-Dilettanten führt Jean Paul »die zwiespältige Einheit von Selbstdarstellung und Vermaskung« 115 ästhetischer Existenz vor. Ausgehend von der Kritik an der >Theatromanie< des späten 18.Jahrhunderts, entwickelt er damit ein Gegenmodell zur Vorstellung vom Theater als Bildungsanstalt (vgl. die unterschiedliche Bewertung und Funktion des Theaterspiels in Goethes Wilhelm Meister und Moritz' Anton Reiser).

 

Arnims Hollin's Liebeleben
und Immermanns Papierfenster eines Eremiten

Zwei bekannte Wertheriaden – Arnims Hollin's Lieheleben (1802) und Immermanns Papierfenster eines Eremiten (1822) – folgen Jean Paul darin, daß sie den Helden auf die Bühne schicken. Hollin, der sich von Maria irrtümlich an den Freund Odoardo verraten glaubt, agiert den Konflikt theatralisch aus. In einer Liebhaberaufführung von Schillers Maria Stuart erhält die Geliebte die Rolle der gleichnamigen Königin, der vermeintliche Nebenbuhler die des Leicester; Hollin spielt den Mortimer, den verschmähten und verratenen Liebhaber, und macht – gleich Roquairo 116 – aus dem Selbstmord auf der Bühne ernst. Maria, von ihm geschwängert, stirbt wenig später an einer Frühgeburt. Durch die angehängte Erinnerung an Horace Benedikt von Saussure – einen seinerzeit berühmten Naturforscher – wird der negative in einem positiven Lebensweg gespiegelt, so daß die »Tendenz« des Romans klar wird: Kritik an einem »unverantwortlich-subjektivistischem Lebensgefühl«, an »Vereinzelung und passivem Verhalten«. 117

Auf ein psychisches Geschehen deutet das Spiel mit dem Namen >Maria< (die Geliebte, die Königin in Schillers Drama, die Himmelskönigin und Mutter Gottes), bei dem Mutterbilder dominieren. Hollins Phantasie zerlegt die Geliebte in eine >weiße< und >schwarze Maria<: »in stiller Andacht« sinkt er vor Maria nieder, die »in einem weißen Gewand« der aufgehenden Sonne entgegengeht; »Maria in einem schwarzen Kleide mit einer Königskrone« tritt im Fiebertraum an seine Leiche und drückt ihm die Augen zu. 118 Im folgenden kommen die komplementären Mutterbilder – die Mutter, die das Leben gibt und zurückempfängt – andeutungsweise zur Deckung: »Wie du so einsam trauerst, Maria, um den verratenen Sohn«, – heißt es in einem Tagtraum – »Kann denn dein Sohn nicht mit trauern, daß du ihn geboren und daß du ihn sterben sahst?« 119 Eine eingehende Interpretation könnte wohl zeigen, daß die Bindung an die Mutter – wie bei Werther – Hollins Schicksal mitbestimmt.

Im Vergleich mit Werther und Roquairol sind Hollin und Friedrich – in Immermanns Papierfenster eines Eremiten 6#150; schwache und brüchige Charaktere. Ihr Selbstmord kann kaum noch als >Freitod< verstanden werden, als eine Tat der >Selbstermächtigung< des Individuums, das sich im Vollzug seines Schicksals frei weiß. Ihnen ist »die Sicherheit des Gefühls fragwürdig« geworden; 120 sie gehen an äußeren wie inneren >Irrtümern< zugrunde, da in den unausgetragenen Konflikten der Zeit ihr eigenes Wollen selbst widersprüchlich bleibt. »Alles bleibt hier im Halben und Unentschiedenen stecken.« 121 Friedrich ist ein »intellektuell gebrochener Mensch«; 122 in den vielen Beilagen, die dem >verwilderten Roman< angehängt sind, konterkariert der Autor das tragische Geschehen satirisch, umspielt es aphoristisch und deutet es mystisch aus. In Friedrich hat Immermann einen weltschmerzlichen Werther der Restaurationszeit geschaffen.

Coelestine verlobt sich mit Walther, einem besonnenen >Geschäftsführer<, ohne Friedrich, der sich berechtigte Hoffnungen macht, auch nur eine Karte zu schicken. Friedrich sucht Heilung in ländlicher Idylle; bald lebt er mit Christiane, einem guten, einfachen Mädchen, »ein dichterisches Naturleben«. Als er seine Braut vor der Hochzeit auf ein halbes Jahr zur Bildung in die Stadt bringt, verliert sie in der veränderten Umgebung für ihn an Attraktivität. Aus einer Liebhaberaufführung von Goethes Egmont, in der er Brackenburg und Coelestine Klärchen gespielt haben, besitzt er noch eine Phiole mit Gift. »Sie hatte Klärchens Rolle, ich wählte in unglücklicher Ahnung Brackenburg. Gott weiß, wie ich dazu gekommen war, ich hatte ein Fläschchen mit wirklichem Gifte zu mir gesteckt.« Diese Phiole, die leitmotivisch gebraucht wird, leert Friedrich am Hochzeitstage; »in halber Betäubung« trinkt er selbst das Gift, das er einst unbewußt Coelestine zugedacht hatte. Doch wird er gerettet. Die »einsame Wohnung einer Zelle«, in der Werther sich selbst zu züchtigen träumt (30. August), wird vom Eremiten Friedrich bezogen. Aus selbstauferlegter Strafe hungert er sich hier zu Tode. 123

2.3 Werther als Pantheist,
Religionskritik und Regression

Das »Verweben des menschlichen Herzens mit der Natur« ist am Werther immer bewundert worden, weiß man doch nie, »ob der Frühling Werthers Herz so blühen, der Winter es so erstarren macht oder ob umgekehrt Glanz und Duft im Lenze, tödliche Kälte im Dezember von jenem überreichen, überwarmen Herzen ausgegangen ist«. 124 Die religionsphilosophischen Voraussetzungen und Konsequenzen dieses »emotionalen Pantheismus« 125 oder »Gefühlspantheismus« 126 werden im Roman selbst nicht klargestellt; fühlt sich Werther zunächst in den Armen der Mutter Natur geborgen, so ruft der Selbstmörder einen christlichen Vatergott an. Ein Großteil der Liberalen des 19.Jahrhunderts, die zwischen Pantheismus und Atheismus schwankten, rechnen Werther weltanschaulich zu den Ihren. Dabei wird von Linkshegelianern und im Monismus, der sich in der Nachfolge Darwins bildet, der Pantheismus Werthers antichristlich zugespitzt. Einseitig ist beispielsweise der Schluß, zu dem Georg Brandes – Freidenker von europäischem Rang – kommt, indem er die Vater- und Mutterposition bei Werther gleichsetzt:

Wenn er kein Christ ist, wenn er, wie er sich ausdrückt, nicht zu denen gehört, welche dem Sohn gegeben sind, weil sein Herz ihm sagt, daß der Vater ihn für sich behalten will, so beruht dies darauf, daß der Vater für ihn die Natur, und diese sein Gott ist.1

Waiblingers Phaëton
– Pantheist und Muttersohn

Der >Gefühlspantheismus< Werthers reizte insbesondere zur weiteren produktiven Ausgestaltung der Vorstellung von der >Mutter Natur<. Bemerkenswert unter den pantheistischen Wertheriaden ist Waiblingers Phaëton (1823). Der Tübinger Stiftler, ein Jugendfreund Mörikes, lebte ganz im Hyperion und Werther, als er den Roman schrieb: »Werther über alle Himmel erhoben – Alles gestaltet sich zu Gefühl – Lauter wertherartige Produkte.« 128 In der Fülle seines Gefühls ergreift Phaeton die Natur und erfüllt sich Regressionswünsche in dyadischen Träumen 129:

[...] wenn dann die Erinnerungen aus den Tagen meiner Kindheit [...] heranschweben, mich linder und süßer umwallen, und alle jene Wünsche meines Innern sich erneuern, jene Träume von Glück und seliger Zufriedenheit [...] Bruder! wenn dann [...] mein Auge verschwimmt in den grundlosen Äther ... heilige, heilige Natur! Mutter! Allbeseelte! deine ewige Wärme fühl' ich, deine Ruhe, und ich komme mir vor, wenn ich unter den Gräsern und Blumen sitze, als sei auch ich dein Kind und dein – liebstes Kind.

Eine Paraphrase des Wertherschen Prosagedichts vom 10. Mai verdeutlicht die Unterschiede. Die Akzente liegen auf der >Mutter Natur<; mit dem Spiegelsymbol (Gott und Seele in wechselseitiger Spiegelung) verliert die Szene ihren mystischen Höhepunkt, durch die Literarisierung – Phaëton liegt unter einer alten Eiche und liest in der Abendsonne >seinen< Homer – zudem auch an erschütternder Unmittelbarkeit: »[...] ach! da wein' ich wie ein Kind und drücke den lieben Homer an meine Brust, und benetz' ihn mit meinen Tränen, und die Natur, die Ewige, die Liebende, lächelt mich an, wie eine Mutter«. 130 In Aufnahme einer antiken mythologischen Vorstellung ist der gesamte Kosmos Milch der Mutterbrust. 131 Die Liebe wird in dem Werk zur Gänze entsubjektiviert; Atalanta ist im Vergleich mit Lottes zugreifender Häuslichkeit ein schwindsüchtiger, in seinem klassizistischen Kontur jedoch reizvoller Schatten. Liebe ist im Phaëton Gottesdienst, in ihr vollzieht sich die Einswerdung, das >Zusammenschwimmen< mit Gott. Da Gott im Liebesvollzug gegenwärtig ist, gerät Sich-Lieben zur pantheistischen Kommunion:

Wir sind nur in Gott, wir lieben nur in Gott. Wir sind Eins mit ihm, wenn unser Auge sich trifft und unser Verlangen sich stillt [...]. Er ist's wenn unsere Lippen im Kuß an einander beben, er ist der Kuß selbst. 132

Wie der Name schon sagt, bringt die Hybris Phaeton zu Fall; dem Anspruch einer gottesdienstlichen Liebe ist er nicht gewachsen, er »befleckt« sich. 133 Wie im Werther schlägt dabei auch das Naturbild um, aus dem »All« wird »das Nichts«. 134

Eine derart exaltierte Ausgestaltung hat der Pantheist und Muttersohn später nicht mehr erfahren. Der Zeit um und nach 1900 ist jedoch der >Gefühlspantheismus< Wertherscher Prägung geläufig und wird Bestandteil einer Auffassung, die in Werther den Urtypus unerreichbarer Sehnsucht sieht (vgl. unten unter 4). Die Natur behält ihre mütterlichen Züge. Im Requiem für Werther (1911) gibt Ricarda Huch das Kind der Mutter zurück 135:

Lösen laß des Jünglings Seele sich in deinem Schoß, Ew'ge Mutter, deinem ruhelosen Kind gib Ruh'!

2.4 Unerreichbare Sehnsucht
und bedingungslose Wahrhaftigkeit

Eine Auffassung, die sich zu allen Zeiten findet, betont das >Absolute< Werthers: »das Mißverhältnis zwischen der Unendlichkeit des Herzens und den Schranken der Gesellschaft«, 136 »das Verlangen aus dem Eingeschränkten und Bedingten ins Unendliche, Schrankenlose«. 137 Während die Kritiker, die Werther als sittlich kranke Raquo;Übergangsnatur« beschreiben, ihn Hamlet an die Seite stellen, erlaubt die Betonung des >Unendlichen< und >Unbedingten< seines Wollens einen Vergleich mit Faust und eine Heroisierung der Figur. In der Goethe-Monographie des Rechtshegelianers Rosenkranz heißt es 1847:

In der Kraft, die Nichtigkeit unserer Existenz zu fühlen, besitzt Werther einen wahrhaften Heroismus. Als Priester der Mysterien unserer modernen Zerrissenheit legt er sein eigen Herz mit allen seinen Wunden auf den Opferaltar. 38

Nach 1900 kommt es zu einer entsprechenden Aktualisierung Werthers. Herausgestellt wird das kompromißlose Weltverhalten; Werther scheitert nicht an einer unglücklichen Liebe, sondern an der >Welt<. Es entstehen Wertherfiguren, deren >hohe< sittliche Normen und existentielle Sinnansprüche unerfüllt bleiben – sei es, daß den Figuren tätige Durchsetzungskraft fehlt, sei es, daß die Bedingungen und Schranken des Lebens sich geltend machen.

Der produktiven Rezeption geht die kritische Umwertung Werthers durch Houston Stewart Chamberlain und Rudolf Huch am Ende des 19.Jahrhunderts voraus. Nach Chamberlain wird der Charakter Werthers von einer Regung bestimmt: »es ist bedingungslose, leidenschaftliche Wahrhaftigkeit«. Das »Ereigniß der absoluten Liebe« stellt ihn vor die Alternative »Tod oder Lüge«. 139 Ähnlich Huch, der gegen »Seelenstudenten« polemisiert, die Werthers Geschick am Maßstab ihrer »Liebesgeschichten« messen: Werther »giebt sich den Tod, weil er keine Möglichkeit mehr sieht, da zu sein«. 140

 

Jacobsens Niels Lyhne:
»der Werther unserer Generation«

Die Werther-Gestalten der Jahrhundertwende sind ohne Jacobsens Niels Lyhne (1880) – nach Stefan Zweigs bekanntem Diktum »der Werther unserer Generation« 141 – nicht denkbar. Von Niels haben sie »Zartheit«, »Schwäche«, ihr Scheitern an ihrer eigenen Gebrochenheit und Widersprüchlichkeit geerbt. 142 Jacobsen galt den Zeitgenossen als »Dichter der nie erfüllten oder gar unerfüllbaren Sehnsucht«, 143 mit Niels Lyhne schuf er – wie Goethe mit Werther – den »Typus seiner Zeit«: »ein Geschlecht, dem die Thore der Weltgeschichte verschlossen waren; Hamlet-Naturen ohne wahre Tragik, Schlemihle, die ihren Schatten suchten.« 144 In Niels Lyhne bestätigt sich Werthers Maxime, daß das Leben »nur ein Traum/laquo; sei, angefüllt »mit bunten Gestalten und lichten Aussichten«, die sich die Menschen an die Wände ihres Gefängnisses malen (22.May). Was sich erfüllt, enttäuscht, weil es hinter der Phantasie zurückbleiben muß.

Bartholine, die Mutter von Niels, ist eine poetische Existenz, die im Leben keine Erfüllung findet. Das Leben besaß für sie »gerade nur den Wert, den ihm die Träume verliehen« (S.21). 145 Als der Sohn ihr nach dem Tod des Vaters eine Reise nach Clarens, dem Ort der Liebe von Héloise und Julien, ermöglicht, zerbricht für sie »der Traum von der Herrlichkeit der fernen Welt« (S. 128). Die Sehnsucht »nach einer Schönheit, die die Welt nicht reifen kann«, aber brannte weiter in ihrem Herzen, »immer heißer in ihrem Schmerz«, bis sie ihr erliegt (S. 128).

Niels bleibt das Leben gleicherweise fremd. Er dichtet an seinem Leben, »statt es zu leben« (S.93); »inhaltslos« (S.93) sehnt er sich nach Existenz: »Wenn es ihn doch nur überkommen wollte – das Leben, die Liebe, die Leidenschaft, so daß er nicht darüber zu dichten brauchte, sondern daß es mit ihm dichtete.« (S.94) Im Geschlechtlichen sind seine Handlungen gehemmt, was wohl mit der latenten homoerotischen Bindung an seinen Jugendfreund Erich zusammenhängt. (Hans Blüher hat darauf im ersten Band von Freuds Imago 1912 hingewiesen.) So ist er sich schmerzlich bewußt, in Frau Boye, einem kräftigen und sinnlichen Weib, »nur das junge Mädchen« gewinnen zu können (S. 105). Das »seltsame Verhältnis« – geboren »aus dem traumheißen Verlangen eines Phantasten und der Lust der Frau, in romantischer Unerreichbarkeit begehrt zu werden« (S. 107) – dient ihm als »Leidenschaftsgrundlage« seines Nervenlebens (S. 109).

Die Welt realer Leidenschaften öffnet sich ihm erst in einem Verhältnis mit Fennimore, der Frau seines Jugendfreundes. Beide hatten um das Mädchen geworben, Erich gesiegt und »die erste Bezwingung ihm vorweggenommen und abgenommen«. 146 Von ihrem Mann herabgewürdigt, findet Fennimore in Niels einen Verehrer ihrer unschuldsvollen Jugend. Doch die Beziehung muß scheitern, da Niels ihren Hang, sich zur Madonna hinauf- oder zur Dirne hinabzustilisieren, nur verstärkt; beide lieben sich »bis zu einer süßen Verachtung vor sich selbst und voreinander herab« (S. 198). Fortan herrscht »Einsamkeit in ihm«; »er wußte nicht, was er mit sich selber und mit seinen Fähigkeiten anfangen sollte« (S.248).

 

Werther als Urtypus unerreichbarer Sehnsucht:
Jacques Der neue Werther

Von den Werken, die sich auf Werther als Urtypus unerreichbarer Sehnsucht beziehen, verdient Hermann Jacques' Der neue Werther (1915) am meisten Beachtung.

Ein 30jähriger, der sich mit Werther in der Tasche erhängen will, wird von drei Freunden – Sebastian ist eine Hommage an den Bibliophilen Carl Georg von Maaßen 147 – gerettet und als >Energos< neu ins Leben eingeführt. Doch das Wertherschicksal erfüllt sich, vom Helden zunehmend reflektiert und zuletzt angenommen: Der neue Werther erschießt sich auf dem Markusplatz in Venedig. Der Held erkennt »sich selbst als den Werther seiner Tage«; 148 alle Nachfolger Werthers »gehen denselben Weg der unerreichbaren menschlichen Sehnsucht nach, und wenn sie das Leben nicht zeitig vergessen lehrt, dann sterben sie an diesem Bilde ihrer Sehnsucht«. 149 In seinem Testament nennt Energos die zwei Eigenschaften, die Werther zugrundegehen lassen: »Gemüt und Tatenlosigkeit«. 150 Werther wird immer wieder leben und sterben, »unglücklich verliebt in ein unerreichbares Bildnis der Sehnsucht in den sentimentalen Tagen Goethes – gelangweilt, ermüdet, einsam, vom Kastengeist verbannt in der Gegenwart.« 151

 

Der schwule Werther

Für Energos, »der an Ermüdung und Langeweile zu Grunde geht« 152, gibt es keine Lotte mehr – Frauen haben kein Verständnis für ihn. Die männliche Deutungsperspektive verstärkt sich, wo man auf die femininen, latent doppelgeschlechtlichen Züge Werthers Gewicht legt.

In Der neue Werther, eine hellenische Passionsgeschichte (1902) wird Goethes Roman zur Folie eines Homosexuellenschicksals. Ein Student, nach zeitgenössischer medizinischer Terminologie ein »psychischer Hermaphrodit«,153 ekelt sich tief über sein Leben, »das nichts ist, als eine widerliche Lüge«. 154 Er scheitert sowohl bei dem Versuch, seine Homosexualität zu unterdrücken, wie bei ihrer Verwirklichung. Den Freund, dem er sich schließlich hingibt, muß er verachten, da dieser ihre Beziehung vor der Welt verleugnet. Am Weihnachtsmorgen erschießt er sich, die letzten Gedanken gelten dem »Großen«, dem er sich zu »verschenken« sehnte: dem »Helden«, der sich und seinen »Brüdern« »das Leben ertrotzen« wird. 155

 

2.5 Alexis' Englischer Werther>
– der Mord an der Geliebten

Alexis' Englischer Werther (1843) gehört keinem der dominanten Typen zu. Auf eine in der Werthernachfolge einmalige Weise wird in dieser Erzählung das Verhältnis von Selbst- und Fremdaggression beim Selbstmord thematisiert. Das psychologische Interesse des Autors gilt weiterhin dem Einfluß der Lektüre – insbesondere des Werther selbst – und der durch ihre Bilder erregten Einbildungskraft auf die kriminelle Handlung.

Alexis stellt Briefzeugnisse eines gesellschaftlichen Skandals zusammen, der sich zur Zeit des >Wertherfiebers< in England zutrug. Lord Sandwich – nach ihm ist die Inselgruppe bei den Falklands benannt – zieht Margaret Ready auf und macht sie dann zu seiner Konkubine. Sie wird leidenschaftlich von einem Offizier, James Hackmann, geliebt, erwidert seine Liebe, vermag sich aber im Zwiespalt von »Vernunft« und »Herz« 156 letztlich nicht für eine ungewisse Zukunft mit ihm zu entscheiden.

»Der deutsche Werther steht in einer nächsten Beziehung zum Helden dieser Liebesgeschichte. Die Geliebte hat den deutschen Roman gelesen, sie warnt, sie beschwört den Geliebten: lies nicht das furchtbare Buch. Er liest es.« 157 Hackmann beschäftigt sich fortan mit lauter Selbstmord- und Kriminalgeschichten, vor allem solchen, »die einen Mord aus Liebe zum Gegenstand haben«. 158 Zuletzt bereitet er seinen Selbstmord planmäßig vor und will zu Füßen Margarets sterben. Mit der festen Absicht: »Ich werde Niemanden tödten als mich selbst« geht er ans Werk, doch von dem Anblick der Geliebten erregt, holt er – »ohne eigentlich zu wissen, was er wollte« – zwei Pistolen, erschießt sie und verwundet sich; den Geschworenen erklärt er später, »seine Handlung sei eine unfreiwillige gewesen«. 159

Werthers Alptraum vom Mord an Lotte wird hier Wirklichkeit. In den Gefängnisträumen arbeitet Hackmanns aggressives Unbewußtes weiter, destruiert das Bild der Geliebten und rechtfertigt den Mörder. Das himmlische Gericht verurteilt auch Margaret, >verborgene Flecken< werden »in ihrer engelgleichen Seele« gefunden: »Ich sah sie büßen – vor meinen Augen traf sie die Züchtung des Himmels.« 160 Werther imaginiert sich Lotte als Todbringerin; Hackmanns Phantasie verzerrt seine Geliebte zur satanischen Sadistin:

sie freute sich meiner Folterqualen [...]. Ja sie forderte den Engel auf, dem sie übergeben war, sich mitzufreuen an meinen Verzückungen des Schmerzes. Sie schien kein ander Glück zu kennen als mich leiden zu sehn. 161

Anmerkungen

1 Jürgen Scharfschwerdt: Werther in der DDR. Bürgerliches Erbe zwischen sozialistischer Kulturpolitik und gesellschaftlicher Realität. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 22 (1978), S.235-76. Hier S.240. – Dazu auch Klaus Dautel: Zur Theorie des literarischen Erbes in der »entwickelten sozialistischen Gesellschaft« der DDR: Rezeptionsvorgabe und Identitätsangebot (Stuttgarter Arbeiten zur Germanistik 71) Stuttgart 1980, S.81-110: Zur Kritik der Vollstreckungstheorie am Beispiel von Goethes >Werther<. zurück

2 Rudolf Dau. In: Umfrage – Zum Erbe in Wissenschaft und Praxis. In: WB 17 (1971), H. 1, S.159-65. Hier S.164. zurück

3 Hans-Heinrich Reuter: Der gekreuzigte Prometheus: Goethes Roman »Die Leiden des jungen Werthers«. In: Goethe Jahrbuch 89. Weimar 1972, S. 86-115. Hier S.99, 95. zurück

4 Ebd. S.95. Vgl. Hans-Georg Werner. In: Umfrage – Zum Erbe in Wissenschaft und Praxis. In: WB 17 (1971), H.2, S.171-82. Hier S.172: Die großen Dichtungen von der Aufklärung bis zur Klassik vergegenständlichen »Modelle eines Wirklichkeitsverhältnisses«, »die über die Epoche der bürgerlichen Klassengesellschaft hinaus Gültigkeit haben« und von der Arbeiterklasse als ihr legitimes >Erbe< angeeignet werden. zurück

5 Müllers Dissertation lag bereits 1965 als maschinenschriftliches Manuskript vor. Die Wochenzeitschrift Sonntag (Berlin/O) stellte sie schon vor ihrer Publikation vor und brachte die Werther-Problematik ins Gespräch (Sonntag fragte - Studenten antworteten: Halten Sie die Werther-Problematik für aktuell? 26.11. 1967, S.6, 8), so daß das Manuskript »ständig gefragt und ausgeliehen« war (Fred Werin: Wert des »Werthers«. In: Sonntag, 27.4.1969, S.14). Jürgen Jahn, der Leiter des Lektorats Literaturwissenschaft im Verlag Rütten & Loening, der die Arbeit 1969 herausbrachte, sprach von einer »gründliche[n] marxistische[n] Analyse des Werther-Problems«, dessen vom Interpreten in den Vordergrund gerückte Aspekte »höchst aktuell« seien (Wissenschaftlichkeit plus essayistischer Darlegung. Zur Publikation von Dissertationen. In: Sonntag, 26.11.1967, S.8). Als Plenzdorf im Auftrag der DEFA 1968-1969 das Szenarium Die neuen Leiden des jungen W. für einen (nicht realisierten) Film schrieb, wird ihm die Müllersche Aktualisierung als Folie gedient haben (als »Urfassung« erstmals in: Plenzdorfs »Neue Leiden des jungen W.« Hg. v. Peter J.Brenner. Frankfurt/M. 1982 = st 2013, S.71-138). zurück

6 Peter Müller: Zeitkritik und Utopie in Goethes »Werther« (Germanistische Studien) Berlin/O (1969), S.75 (Kapitelüberschrift). zurück

7 Ebd. S.87. zurück

8 Ebd. S.87, 93. zurück

9 Rez. von Hans-Georg Werner. In: WB 16 (1970), H.7, S.193-99. Hier S.199. zurück

10 Werner. Umfrage, S.179. zurück

11 Peter Wapnewski: Zweihundert Jahre Werthers Leiden oder: Dem war nicht zu helfen. In: P. W.: Zumutungen. Essays zur Literatur des 20.Jahrhunderts (Düsseldorf 1979), S.44-65. Hier S.60. zurück

12 Werner. Umfrage, S.180. zurück

13 Hans Kortum / Reinhard Weisbach: Unser Verhältnis zum literarischen Erbe. Bemerkungen zu Peter Müllers »Zeitkritik und Utopie in Goethes >Werther<«. In: WB 16 (1970), H. 5, S.214-19. Hier S.219. Die sozialistische Gesellschaft hört bei M. auf, »das Rezeptionssubjekt zu sein, auf das hin erst jedes Erbe Maß und Wert erhält« (ebd.). zurück

14 Rez. Werner, S.194/95. »Das >totale Individuum< ist gewissermaßen im Naturzustand vorgegeben.« (S.195) zurück

15 Ebd. S.199. zurück

16 Karl Marx / Friedrich Engels: Über Kunst und Literatur. Bd.1. Berlin/O 1967, S.470. zurück

17 Klaus R.Scherpe: Natürlichkeit und Produktivität im Gegensatz zur bürgerlichen Gesellschaft. Die literarische Opposition des Sturm und Drang: Johann Wolfgang Goethes >Werther<. In: Gert Mattenklott / K.R.S. (Hg.): Westberliner Projekt: Grundkurs 18. Jahrhundert. Die Funktion der Literatur bei der Formierung der bürgerlichen Klasse Deutschlands im 18.Jahrhundert. [Tl.1: Analysen] (Scriptor Tb. Lit.wiss. S27) Kronberg / Ts. 1974, S. 189-215. Hier S.189. zurück

18 Ders.: Werther und Wertherwirkung. Zum Syndrom bürgerlicher Gesellschaftsordnung im 18.Jahrhundert. Bad Homburg v.d.H., Berlin, Zürich (1970), S.31. zurück

19 Ebd. S.90. »Integration« ist »das herrschende Prinzip des Romans« (S.64). zurück

20 Ebd. S.91, 92. zurück

21 Ders.: Natürlichkeit und Produktivität, S.195; »die zwangsläufige Widersprüchlichkeit der Sturm-und-Drang-Bewegung als Literaturrevolution ohne revolutionäre Klasse in einer unter der Feudalherrschaft trotz ihrer Krisensymptome noch relativ stabilen Ständegesellschaft«. zurück

22 Peter Müller: Angriff auf die humanistische Tradition. Zu einer Erscheinung bürgerlicher Traditions-Behandlung. In: WB19 (1973), H.1, S.109-27; H. 3, S.92-109. Hier H. 1, S.110. zurück

23 Gerhard Kaiser: Zum Syndrom modischer Germanistik. Bemerkungen über Klaus Scherpe [...]. In: Euphorion 65 (1971), S. 194-99. Hier S.196. – Ähnlich Richard Alewyn (Germanistik 11, 1970, S. 756-57): Sch. verfährt »nicht soziologisch, sondern ideologisch«. zurück

24 Müller: Angriff, H. 1, S.120, 121. Werther gilt »als nonkonformistisches Auflehnungsmodell einer unrevolutionären Klasse«, da er »statt zur Überwindung lediglich zur Komplettierung einer als Ganzes unveränderbaren geschichtlichen Situation beiträgt« (S.121). zurück

25 Ebd. H.3, S.93. Zudem wird das bürgerliche Individuum fälschlich »auf den Status der Verinnerlichung« (S.97) festgelegt. zurück

26 Ebd. H. 3,S.95. zurück

27 Peter J. Brenner: Die Krise der Selbstbehauptung. Subjekt und Wirklichkeit im Roman der Aufklärung (Studien zur deutschen Lit. 69) Tübingen 1981: Das Ideal des autonomen Individuums, nach der Leitfigur des Eigentümers auf dem Markt entwickelt, wird von Werther reklamiert und entlarvt sich als Fiktion. Ob die Kritik im Roman Adlige oder Bürgerliche trifft, ist sekundär; »es geht immer nur um die restriktive Organisation einer Gesellschaft, die in ihrem Kern kapitalistisch strukturiert ist« (S. 119). zurück

28 Müller: Zeitkritik und Utopie, S.11 Die gesellschaftlichen Gruppen begrüßen oder bekämpfen im Werther »das Instrument einer generellen Zerstörung überkommener ästhetischer, ethischer und philosophischer Wertvorstellungen« (ebd.). zurück

29 Reuter: Der gekreuzigte Prometheus, S.111. zurück

30 Ulrich Karthaus: Zweihundert Jahre »Werther«. In: Gießener Universitätsblätter. Jg.VIII. H.2.Dez. 1975, S.61-82. Hier S.73. zurück

31 Ebd. S.63. zurück

32 Ebd. S.64. Nicolais Gegenschrift liegt, angebunden an Goethes Werther, im Reprint vor (Dortmund 1978, Die bibliophilen Taschenbücher 20). Dazu Heinrich Düntzer: Nicolais Handexemplar von »Werthers Leiden«. In: Archiv für Litteraturgeschichte 10 (1881), S.385-92. zurück

33 Georg Jäger: Empfindsamkeit und Roman. Wortgeschichte, Theorie und Kritik im 18. und frühen 19. Jahrhundert (Studien zur Poetik u. Geschichte der Lit. 11) Stuttgart etc. (1969), S.101. zurück

34 Zusammenstellung der Kritik bei Peter Müller (Hg.): Der junge Goethe im zeitgenössischen Urteil (Deutsche Bibliothek 2) Berlin 1969. zurück

35 Ebd. S. 158. zurück

36 Scherpe: Werther und Wertherwirkung, S.76,77. Über Goethes spätere Uminterpretation der »Rebellion« in ein »Allerweltsgefühl jugendlichen Unbehagens« S.105-07. zurück

37 Christian Wagenknecht: Werthers Leiden. Der Roman als Krankheitsgeschichte. In: Text & Kontext 5 (1977), H. 2, S. 3-14. zurück

38 Rez. in: Neue Hallische Gelehrte Zeitungen. 9.Tl. 1774. 99.St. 12.Dez. S.789-90; »die feine Entwicklung der verborgnen Gänge einer einzigen Leidenschaft«. zurück

39 Wolfgang Kaempfer: Das Ich und der Tod in Goethes Werther. In: Recherches Germaniques 9 (1979), S.55-79. Hier S.67. zurück

40 Zur Kritik am Bild des Kindes vgl. August Siegfried von Goue: Masuren oder der junge Werther (1775) (Auswahl. Hg.v. Karl Schüddekopf. Weimar 1917, S.40, 124-25): »»Masuren. [...] Ich lache über mein eig'nes Herz, und thu' ihm seinen Willen. Rhetel. Lebe wohl! Es möge dich nie gereuen, das Herzgen als ein krankes Kind gehalten zu haben. / Rhetel. [...] jetzt muß deine Seele, wie das kranke Kind getäusch't werden. [...] Masuren (verächtlich). Gedenkst du ein Kind zu täuschen?« zurück

41 Kaempfer: Das Ich und der Tod, S.64, 59. zurück

42 Ebd. S.65. zurück

43 Reinhart Meyer-Kalkus: Werthers Krankheit zum Tode. Pathologie und Familie in der Empfindsamkeit. In: Urszenen. Literaturwissenschaft als Diskursanalyse und Diskurskritik. Hg.v. Friedrich A. Kittler u. Horst Turk (Frankfurt/M. 1977), S.76-138. Hier S.98; »die an Mutters Statt ihre Geschwister nährende und umsorgende Lotte verkörpert die Mutterimago schlechthin«. zurück

44 Ebd. S.100. Vf. sieht in Werthers Geschick den »Effekt einer matriarchalen Codierung des Begehrens unter den Bedingungen eines paternalistischen Regimes in Familie und Gesellschaft« (S. 123). zurück

45 Ebd. S.92. Werthers Regressionswünsche arbeitet M. D. Faber heraus: The Suicide of Young Werther. In: The Psychoanalytical Review. Vol.60. No.2. Summer 1973, pp.239-76. Seine Natursehnsucht entspricht »the desire for the reestablishment of symbiotic union with the breast. Romanticism is oral« (p.256). In der Gesellschaftsfeindlichkeit wird umgekehrt »a hostility toward the father« (p.258) erkennbar. – Die Regression war Zeitgenossen bewußt; vgl. Johann Carl Wezel: Wilhelmine Arend, oder die Gefahren der Empfindsamkeit. Tl.1 (Sammlung der besten deutschen prosaischen Schriftsteller u. Dichter 125) Carlsruhe 1783, S.292: Geißing, »dieser Zögling der Mutter Natur«, »lag im Schoose der Mutter Natur und saugte Empfindung aus ihren Brüsten, wie ein Kind der Amme Milch«. zurück

46 Hubert Tellenbach: Gestalten der Melancholie. In: Jahrbuch für Psychologie, Psychotherapie und medizinische Anthropologie 7 (1960), S.9-26 (Mythos vom Androgyn, S.14). – Meyer-Kalkus: Werthers Krankheit zum Tode, S.130 ff.: Die Familie nach dem Tode. – Faber: Suicide, S. 269: »Death, then, leads to the mother.« zurück

47 Nachgewiesen von Herbert Schöffler: Die Leiden des jungen Werther. Ihr geistesgeschichtlicher Hintergrund. Frankfurt/M. (1938). – Dazu Hermann Zabel: Goethes »Werther« - eine weltliche Passionsgeschichte? Anmerkungen zur Interpretation literarischer Kunstwerke in ihrem Verhältnis zur biblisch-christlichen Tradition. In: Zs. Für Religions- und Geistesgeschichte 24 (1972), S.57-69. – Detaillierte Sprachanalyse: Johanna Graefe: Die Religion in den »Leiden des jungen Werther«. Eine Untersuchung auf Grund des Wortbestandes. In: Goethe 20 (1958), S.72-98. zurück

48 Müller: Zeitkritik und Utopie, S.193. »In ihm stirbt mehr als ein einzelner Mensch: Er ist als Prometheus ans Kreuz geschlagen worden.« (S.194) zurück

49 Jakob Michael Reinhold Lenz: Briefe über die Moralität der Leiden des jungen Werthers. In: Lenz: Werke und Schriften1. Hg.v. Britta Titel u. Hellmut Haug (Stuttgart 1966), S.383-402, 666-73. Hier S. 396. zurück

50 Scherpe: Werther und Wertherwirkung, S.97. zurück

51 Müller: Angriff, H.1, S.121. zurück

52 Scherpe: Natürlichkeit und Produktivität, S.205. zurück

53 Kaempfer: Das Ich und der Tod, S.79. Werther stünde dann »für eine narzißtisch-regressiv geprägte Gesellschaft, die ihre Zwänge zu verinnerlichen pflegt angesichts von >Idealen<, die in der Tat keinen anderen gesellschaftlichen Ort mehr hatten als den des isolierten Einzelnen« (S.76). zurück

54 Ebd. S 79. zurück

55 zit.n. Carl Friedrich Stäudlin: Geschichte der Vorstellungen und Lehren vom Selbstmorde. Göttingen 1824, S.183. zurück

56 Karthaus: Zweihundert Jahre »Werther«, S.62. Heine-Zitat (Rez. von Michael Beers Struensee) S.72. zurück

57 Klaus Oettinger: »Eine Krankheit zum Tode«. Zum Skandal um Werthers Selbstmord. In: Der Deutschunterricht (Stuttgart) Jg28. H.2. 1976, S. 55-74. Hier S.68, 63, 69. zurück

58 Rez. von: Der Selbstmord, 1775. In: Gothaische gelehrte Zeitungen. 1775. 78.St. 30.Sept., 5.647-48. »Man handelt wider die Pflichten gegen sich selbst direkte und unterläßt, was man sich selbst nach den göttlichen Gesetzen schuldig ist. Indirekte handelt man durch den Selbstmord wider Gott und seinen Nächsten.« zurück

59 Julius Friedrich Knüppeln: Ueber den Selbstmord. Ein Buch für die Menschheit. Gera 1790, S.41. zurück

60 Johann Friedrich Teller: Vernunft- und Schriftmäsige [!] Abhandlung über den Selbstmord. Leipzig 1776, S.60. »Als Unthier handelt er gedankenlos, und wie ein unbeseeltes Wesen; Als Unmensch handelt er unüberlegt und unvernünftig, und als ein Wesen, das keine vernünftige Seele hat.« (S.63) zurück

61 Rez. von: Der Selbstmord, S.647. Vgl. George Andreas Degmair: Von der schrecklichen Sünde des Selbstmords, Augsburg 1771 (Teilabdruck bei Oettinger: »Eine Krankheit zum Tode«, hier S.71): »Ist die Sünde nicht schrecklich, da ein Selbstmörder dem allerhöchsten Gott, von dem er doch gänzlich abhänget, in seine Majestätsrechte eingreift, und mithin des Lasters der beleidigten Majestät schuldig gemacht wird?« zurück

62 Angel Garma: Psychologie des Selbstmordes. In: Imago 23. Wien 1937. H.1., S.63-95. Hier S.73-74. – Zur Beurteilung und Relativierung dieses Modells s. Georg Siegmund: Selbstmord als Selbst-Aggression. Die psychoanalytische Selbstmordtheorie. In: Theologie und Glaube 59 (1969), S.18-29. »Hat sich die Liebe zum verlorenen, doch innerlich nicht aufgegebenen Objekt, in die narzißtische Identifizierung geflüchtet, so richtet sich nun der Haß gegen das Ich als Ersatz-Objekt.« (S.20) zurück

63 Garma: Psychologie des Selbstmordes, S.65. »Der Selbstmord ist ein Mittel, um weit mehr zu erlangen, als das Leben bietet.« (S.76) zurück

64 Gerhard Kaiser: Klopstocks >Frühlingsfeyer<. In: Deutsche Lyrik von Weckherlin bis Benn. Hg. v. Jost Schillemeit (Interpretationen 1) (Frankfurt/M. 1965), S.28-39. Hier S.35. – Ansätze zur Interpretation der Klopstock-Szene bei Richard Alewyn: »Klopstock!« In: Euphorion 73 (1979), S.357-64. Die Nennung eines Dichternamens in solcher Funktion komme vorher in der Weltliteratur nicht vor und sei »Indiz einer Neuheit von geschichtlichen Ausmaßen« (S.358). Die publikumsgeschichtliche Schlüsselstellung Klopstocks belegt der Aufsatz: Klopstocks Leser. In: Festschrift für Rainer Gruenter. Hg. v. Bernhard Fabian. Heidelberg 1978, S.100-21. – Eine Parallele in August Lafontaines Erzählung Das Nadelöhr (1796): Verse Klopstocks ersetzen den Dialog zwischen dem Paar. Heinke Wunderlich: »Buch« und »Leser« in der Buchillustration des achtzehnten Jahrhunderts. In: Die Buchillustration im 18.Jahrhundert. Colloquium [...] (Beiträge zur Geschichte der Literatur u. Kunst des 18.Jh. 4) Heidelberg 1980, S.93-1 23. Hier S.114-16. zurück

65 Ebd. S.32. zurück

66 (Marie-Jeanne Riccoboni:) Briefe der MiLady Juliane Catesby an die MiLady Henriette Campley ihre Freundin. Aus dem engl. u. franz. [!] in das teutsche übersetzt. Frankfurth u. Leipzig 1760, S.79. – Bei Miß Jenny handelt es sich wohl um: Histoire de Miss Jenny Glanville. Lawrence Marsden Price: Charlotte Buff, Madame Riccoboni and Sophie Laroche. In: The Germanic Review6 (1931), S.1-7. zurück

67 [August Cornelius Stockmann:] Die Leiden der Jungen Wertherinn. Eisenach 1775, S. 112. zurück

68 Die Leiden des jungen Werthers, ein pantomimisch Original Tragischer [!] Ballet in drey Aufzügen vom Joseph Schmalögger dem ältern Balletmeister bey der Wahrischen Gesellschaft. Zum erstenmal aufgeführet in dem neuerbauten Schauspielhause zu Preßburg. Den 11ten October 1777, S.15-16. In: Gustav Gugitz (Hg.): Das Wertherfieber in Oesterreich. Eine Sammlung von Neudrucken. Wien 1908. zurück

69 Karl Philipp Moritz: Anton Reiser. Hg.v. Wolfgang Martens (Universal-Bibl. 4813) Stuttgart (1972), S.246. zurück

70 Ders.: Andreas Hartknopf. Eine Allegorie. [...] Faksimiledruck. Hg. v. Hans Joachim Schrimpf (SM 69) Stuttgart 1968, S. 121. zurück

71 (Christian Ludwig Willebrand:) Etwas für Mütter. In zwo Erzählungen. Welchem eine Abhandlung von Romanen überhaupt, und insonderheit von der episodischen Erzählung vorgesetzt ist. Breßlau 1774, S.LXXV. »Ein Roman ohne Leidenschaft ist ohne Interesse, ist todt.« zurück

72 Moritz: Anton Reiser, S.18. zurück

73 Johann Martin Miller: Geschichte Karls von Burgheim und Emiliens von Rosenau. In Briefen. 4 Bde. Hamburg u. Altona 1778-79. Hier Bd.2, S.382 (»laß uns Märtyrer der Liebe werden, und der Wahrheit und Natur!«), S.390/91 (»so wollen wir dann Märtyrer der Wahrheit und Empfindung werden, und uns in unsre Leiden einhüllen«), S.390 (»Märtyrerinn der Liebe«). zurück

74 Christian Friedrich Timme: Der Empfindsame Maurus Pankrazius Ziprianus Kurt, auch Selmar genannt. Ein Moderoman. 4 Tle. Erfurt 1781-82. Hier Tl.2, S.22; »ich will mich freuen, wenn ich gewürdigt werde, um deinetwillen noch mehr zu leiden, denn daran werde ich erkennen, ob ich dein wert bin« (Marie, S.41). zurück

75 Karthaus: Zweihundert Jahre »Werther«, S.75. zurück

76 Rez. von: Siegwart, eine Klostergeschichte. Zweyter Theil. 1776. In: Erfurtische gelehrte Zeitung. Jg. 1777. 8.St. 27.Jan., S.68-72; »melancholische und rührende Empfindungen«, »Jammer und Traurigkeit über große Unglücksfälle« machen den Roman »allen sympathetischen Lesern schätzbar« (S.69). – Lenz: Briefe über die Moralität, S. 667. – Zu den Lesern und dem Lesestil im einzelnen Georg Jäger: Die Wertherwirkung. Ein rezeptionsästhetischer Modellfall. In: Historizität in Sprach- und Literaturwissenschaft. Hg. v. Walter Müller-Seidel. München 1974, S.389-409. Neuere Zusammenfassung bei Otto F. Best: Das verbotene Glück. Kitsch und Freiheit in der deutschen Literatur. München u. Zürich (1978), bes. Kap. 18-20. zurück

77 [Christian Friedrich Germershausen:] Die Hausmutter in allen ihren Geschafften. 5.Bd. 2.Aufl. Leipzig 1785. Lesen der Romane, S.622-25; hier S.623. Durch Romane werden wir »unzufrieden, mißvergnügt« und fühlen uns zuletzt unglücklich. zurück

78 [Wilhelm] H[einse]: Frauenzimmer-Bibliothek. In: Iris. Bd. 1. Düsseldorf 1774. St.3, S.53-77. Hier S.60-61. – Dagegen Germershausen: Die Hausmutter, Bd. 5, S.626: »Ein Pfund weiblicher Haushaltungswissenschaft ist mehr werth, als ein Zentner weiblicher schöner Wissenschaften.« Die Fantasie schafft nur »unglückliche Ehen, weil keines von den Eheleuten so ist, wie es sich das andere vorgestellt«, und man »das nicht findet, was man, nach Anleitung der Komödie, der Oper, oder des Romans, zu finden glaubte«. – Zu den Argumenten und Positionen der Kritiker s. Helmut Kreuzer: Gefährliche Lesesucht? Bemerkungen zu politischer Lektürekritik im ausgehenden 18.Jahrhundert. In: Leser und Lesen im 18. Jahrhundert. Colloquium [...] (Beiträge zur Geschichte der Literatur u. Kunst des 18.Jh. 1) Heidelberg 1977, S.62-75. zurück

79 Carl Friedrich Bahrdt: Handbuch der Moral für den Bürgerstand. Halle 1789, S. 68, 69. zurück

80 Friedrich Benjamin Osiander: Über den Selbstmord, seine Ursachen, Arten, medicinisch-gerichtliche Untersuchung und die Mittel gegen denselben. Hannover 1813, S.306. zurück

81 Günther Schloz: Goethe mit grüner Frankfurter Soße oder: Werthers Leiden. In: Deutsche Zeitung. 30.Aug. 1974, S.9. zurück

82 G. Wustmann: Verbotene Bücher. Aus den Censurakten der Leipziger Bücherkommission. In: Die Grenzboten. 41.Jg. Leipzig 1882, S.264-85. Hier S.282. Weitere Nachweise bei Jäger: Empfindsamkeit und Roman, S.92. zurück

83 Gugitz (Hg.): Das Wertherfieber in Österreich, S.XVII-XVIII. Zitat aus: Über die Stubenmädchen in Wien. 3. Aufl. 1781, S.10. zurück

84 Dazu Wolfgang Neuber: Nestroys Rhetorik. Phil. Diss. (masch.) Wien 1980, mit Nestroys Einrichtung der Partie (S.348-53) und den Aufführungen (S.233 ff.). zurück

85 Walter Mehring: Müller. Chronik einer deutschen Sippe. Roman (W.M.: Werke, Hg. v. Christoph Buchwald) (Düsseldorf 1978), S.12. zurück

86 Ebd., S. 154. zurück

87 Manfred Maria Ellis (d.i. Werner Hegemann): Friedrich II. als Werther / Christi Rettung vom Opfertod (M.M.E.: Deutsche Schriften. Bd.1, Tl.3) 2.Aufl. Berlin 1924. Zitate S.414, 392. Friedrich schlug »aus seiner Wertherstimmung Kapital«; hauptsächlich sollte sie die französischen Staatsmänner erschrecken, doch war sie auch gut, seine Grenadiere zu rühren (S.403). – Da Rousseau, dessen Reflexionen über den Selbstmord in der Nouvelle Héloise für Goethe wichtig wurden, von den Selbstmordplänen Friedrichs gehört haben könnte, wird der Preußenkönig sogar zum »Großvater des Werther« (S.433) erklärt. zurück

88 F[riedrich] C[hristoph] Schlosser: Geschichte des achtzehnten Jahrhunderts und des neunzehnten bis zum Sturz des französischen Kaiserreichs. Mit besonderer Rücksicht auf geistige Bildung. Bd. 4. 3.verb. Aufl. Heidelberg 1844, S.180. zurück

89 Karl Biedermann: Deutschlands geistige, sittliche und gesellige Zustände im Achtzehnten Jahrhundert (K.B.: Deutschland im Achtzehnten Jahrhundert, Bd.2, Tl.2, Abt.3) Leipzig 1880, S.508; »erst dann, als das äußere Leben unserer Nation inhaltvoller, reicher an großen Thaten und großen Interessen wird und dadurch der Einzelne aus dem engen Empfindungskreise seines kleinen Ich sich mehr auf das Ganze und Allgemeine hinausgewiesen sieht – erst dann verblaßt allmälig das Bild des unglücklichen Jünglings« (S.519). zurück

90 Wolfgang Menzel: Die deutsche Literatur. 2.verm. Aufl. Tl.4. Stuttgart 1836, S.46. zurück

91 Ebd., S. 47. zurück

92 Ebd., S.48, 47. zurück

93 zit.n. Biedermann: Deutschlands geistige etc. Zustände, S.508 Anm. zurück

94 Karl Rosenkranz: Göthe und seine Werke. Königsberg 1847, S.176. »Werther stellt uns die Auflösung der damaligen Gegenwart dar, welche die Freiheit der Subjectivität bis zu den letzten Consequenzen ihres Idealismus durchzusetzen strebte.« (S.174) zurück

95 Th(eodor) Mundt: Posthorn-Symphonie. In: Literarischer Zodiacus. 1835. Febr. S.97-112. Hier S.107; »selbst vor der schönsten Gegend empfinde ich es, daß auch ich kein Werther und kein Waldlyriker mehr bin, und es regt sich Bosheit in mir genug dazu, daß ich auch allen meinen Landsleuten gern das letzte Stück Naturidylle aus dem fühlenden deutschen Herzen schneiden möchte« (S. 106 f.). zurück

96 Ders.: Moderne Lebenswirren. Leipzig 1834, S.26. zurück

97 Karl Grün: Ueber Göthe vom menschlichen Standpunkte. Darmstadt 1846, S.92. Ähnliches S.97. zurück

98 Karl Busse: Ein moderner Roman. In: Die Gesellschaft. 1893, 1.Quartal, S.76-84. Hier S. 79. zurück

99 Karl Immermann: Werke in fünf Bänden. Hg.v. Benno v.Wiese. Bd. 2 (Frankfurt/M. 1971) S.386 (Die Epigonen). zurück

100 Busse: Ein moderner Roman, S.76. zurück

101 A.R.T. Tielo, Rez. L. Jacobowski: Werther, der Jude. In: (Augsburger) Allgemeine Zeitung. Beilage. 1899. Nr. 197. 30. Aug. S.7. zurück

102 Ludwig Jacobowski: Werther, der Jude. 4. Aufl. Dresden, Leipzig 1903, S.48. »Jude sein mit jeder Faser und jedem Blutstropfen und doch im anderen Sinne mit keinem Blutstropfen, keiner Faser!« (S. 42) zurück

103 Busse: Ein moderner Roman, S.77. – Nach S[amuel] Lublinski (Die Gesellschaft. 16.Jg. 1900. Bd.4. S.332) hat Jacobowski in diesem Roman »den klassischen Ausdruck für die Stimmung eines jungen Juden gefunden, der Deutscher ist und sich als solcher fühlt auch gegenüber seinen antisemitischen Gegnern.« – Der Autor (Werther, der Jude; Geleitwort) sieht »nur die eine Wegrichtung« für die Juden: »Restloses Aufgehen in deutschen Geist und deutsche Gesittung«. zurück

104 Jacobowski: Werther, der Jude; S.176. zurück

105 Joseph Goebbels: Michael. Ein deutsches Schicksal in Tagebuchblättern. München 1929. Zitate S.98, 124, 125, 12, 7. – Auszugsweise wurde Michael im Dritten Reich zur politischen Erziehung benutzt (Das Reich im Werden. Arbeitshefte im Dienste politischer Erziehung. Reihe: Deutsches Schrifttum, H. 11. Frankfurt/M. 1934, 2.Aufl. 1937). Die Auswahl konzentriert sich auf das »Ringen um die Seele des deutschen Arbeiters« (S.3), so daß die innere Zerrissenheit des Helden zurücktritt. – Dazu Heinz Pol: Goebbels als Dichter. In: Die Weltbühne. 27.Jg. 1931. Nr.4, 27.01., S.129-33. »Es ist: der Nationalsozialismus nackt.« (S.133) zurück

106 Sören Kierkegaard: Entweder - Oder. Hg.v. Hermann Diem u. Walter Rest. Köln, Olten (2.Aufl. 1960). Zitate S.353, 356/57, 355. »Es ist mir gar nicht darum zu tun, das Mädchen in äußerlichem Sinne zu besitzen, sondern darum, sie künstlerisch zu genießen.« (S. 434) zurück

107 Ebd., S.354. zurück

108 Lothar Pikulik: >Bürgerliches Trauerspiel< und Empfindsamkeit (Literatur u. Leben N.F.9) Köln, Graz 1966. Über die Art des Fühlens S.60 ff. »Jedes empfindsame Gefühl ist immer zweierlei: Emotion und Reflexion [...]. Selbstgefühl und Selbstanalyse, psychisches Erlebnis und psychologische Erkenntnis sind hier untrennbar verbunden.« (S.81) zurück

109 Jean Paul: Werke. Bd. 3. Hg. v. Norbert Miller. München (1961). Zitate S. 97, 732, 754. zurück

110 Walther Rehm: Roquairol. Eine Studie zur Geschichte des Bösen. In: Orbis Litterarum 8 (1950) 161-258. Hier S. 191. zurück

111 Ebd., S.232. zurück

112 Jean Paul: Werke. Bd.3, S.261, 263. Vgl. Rehm: Roquairol, S.228: »Leidenschaft als Kunstwerk, als artistisch reflektiertes Kunstwerk«. zurück

113 Ebd., S.486. »Das Herz ist der Sturm, der Himmel das Ich.« (S. 486) zurück

114 Ebd., S.489. zurück

115 Rehm: Roquairol, S.195. zurück

116 Der Schluß des »Trauerspielers« findet sich schon in den Notizen Jean Pauls von 1796. Möglich ist also nur eine Anregung Arnims durch den ersten Band des Titan (1800). Rehm: Roquairol, S.257 Anm. 52. zurück

117 Heinz Härtl: Ludwig Achim von Arnims kleiner Roman Hollins Liebeleben. Zur Problematik seines poetischen Erstlings um 1800.In: Wiss. Zs. der Martin-Luther-Univ. Halle-Wittenberg 18 (1969) 171-81. Hier S.173. Arnim wertet die »Inkongruenz von totalem individualistischem Freiheitsanspruch des Helden und seiner Ablehnung verbindlicher, einzuhaltender und zu erkennender Normen« zuungunsten des Helden (S.177). – An August Winkelmann, 24.9.1801: »ein Roman und zwar mit Tendenz«. zurück

118 Achim von Arnim: Sämtliche Romane und Erzählungen. Hg.v. Walther Migge. Bd. 2. München (1963). Zitate S. 34, 59. Mortimer (V.2813/14) spricht von der »irdischen« (Geliebte) und »himmlischen« Maria (Mutter). Schiller führt die Hochzeits- und Todesvorbereitungen parallel (V. 1113/14: Brautgemach / Tod); Hollin wird sterbend getraut. zurück

119 Ebd., S. 53. zurück

120 Benno v.Wiese: Ein Werther des neunzehnten Jahrhunderts. In: Studien zur Goethezeit. Fs. für Lieselotte Blumenthal. Hg. v. Helmut Holtzhauer u. Bernhard Zeller. Weimar 1968, S.465-79. Hier S.470. zurück

121 Ebd., S.475. zurück

122 Ebd., S.474. zurück

123 Karl Immermann: Werke in fünf Bänden. Hg.v. Benno v.Wiese. Bd.1 (Frankfurt/M. 1971). Zitate S. 169, 140, 193. zurück

124 Ders.: Im Schatten des schwarzen Adlers. Hg.v. Fritz Böttger. Berlin (Ost) (1967), S.439. zurück

125 Thomas Mann: Altes und Neues (Stockholmer Gesamtausg.) (Frankfurt/M.) 1953. Goethes Werther (1938), S.198-214. Hier S. 209. zurück

126 Karl Grün (Ueber Göthe, S.93) deutet Werther als »Tragödie des radikalen Gefühlspantheismus«. zurück

127 G[eorg] Brandes: Die Hauptströmungen der Litteratur des neunzehnten Jahrhunderts. Jubiläums-Ausg. Bd.1. Leipzig 1897, S.50. zurück

128 Wilhelm Waiblinger: Die Tagebücher. Hg. v. Herbert Meyer (1956), S.66. W. verkörpert zeitweise den Typus >Werther als Lebensspieler<, vgl. sein Selbstmordspiel vor Valerine (29.Sept.1821, S.90-92). zurück

129 Ders.: Werke und Briefe. Hg. v. Hans Königer. Bd.2 (Veröffentlichungen der Deutschen Schillergesellschaft 35) Stuttgart (1981), S.55; »wie der Säugling an den Brüsten der Mutter« (S.121). zurück

130 Ebd., S.16. zurück

131 Ebd., S.31: »jenes bleiche Meer von Körpern, das aus der Fülle der schaffenden Gottheit strömte, wie aus den Brüsten einer Mutter«. Doch gibt es auch das Bild vom Schöpfer als Vater, S. 106-07. zurück

132 Ebd., S.107. zurück

133 Ebd., S.120. zurück

134 Ebd., S.116 (»Das All ein Nichts«), 126 (»alles einst Leben« / »alles nun Tod«). zurück

135 zit. n. Stuart Pratt Atkins: The Testament of Werther in Poetry and Drama (Harvard Studies in Comparative Literature 19) Cambridge Mass. 1949, S.108. zurück

136 Brandes: Hauptströmungen. Bd.1, S.54. zurück

137 Th. Mann: Altes und Neues, S.209. Vergleich mit Faust, so auch bei H[ermann] A[ugust] Korff: Geist der Goethezeit. Tl.1. Leipzig 1923, S.306: »die unglückliche Liehe des seelenhaften Menschen zur Welt überhaupt, die gegenüber den unendlichen Ansprüchen des innern Gottes überall >versagt<«; »zum erstenmal in idealer Gestalt der Faustische Menschentypus«. zurück

138 Rosenkranz: Göthe und seine Werke, S. 179/80. zurück

139 Houston Stewart Chamberlain: Werther. In: Jugend. 1899. Bd.2. Nr.35. S.562-63. Flier S.562. Ch. hebt zwei Züge an Werther hervor: »in positiver Richtung die Feinheit und Kraft der Receptivität, in negativer Richtung die Beschränkung der Gestaltungskraft« (ebd.). zurück

140 Rudolf Huch: Mehr Goethe. 2.-4.Tsd. Leipzig, Berlin 1899, S.92-93. zurück

141 Jens Peter Jacobsen: Niels Lyhne. Nachwort von Stefan Zweig. München (1948), S. 199. zurück

142 Ebd., S. 201; »dieser halbe Werther, dieser halbe Hamlet, dieser halbe Peer Gynt, der viel Leidenschaft hat und gar keine Kraft, einen unendlichen Willen zum Leben, und der doch erstickt wird von seinen Träumen und überwältigt von einer schweren Müdigkeit« (S. 204). zurück

143 Carl Busse: Ein Dichter der Sehnsucht. In: Die Wahrheit. Bd.6. Stuttgart 1896. S.40-53, 77-84. Hier S.41.Für die Gestalten Jacobsens gilt: »Glück ist eigentlich nur in der Sehnsucht da, in Träumen« (S.47). zurück

144 Hermann Menkes: J.P. Jacobsen's Lyrik. In: Wiener Rundschau 1 (1897) 412-16. Hier S.413. – In der Nachfolge Werthers wie Niels Lyhnes steht Rilkes Malte Laurids Brigge (1910) zurück.

145 Seitenangaben nach Jens Peter Jacobsen: Niels Lyhne. (Übers. v. Anke Mann) (it 44) (19.-22.Tsd. Frankfurt/M. 1981). zurück

146 Hans Blüher: »Niels Lyhne« von J.P. Jacobsen und das Problem der Bisexualität. In: Imago 1 (1912) 386-400. Hier S. 398. zurück

147 Hermann Jacques: Der neue Werther. Berlin-Charlottenburg (1915). In seinem eigenen Exemplar (UB München: Maassen 2638) notiert Maaßen am Rand: »Sebastian [moi!], [...] ein Norddeutscher, war Bücherwurm und Romantiker mit dem Einschlag in das Groteske« (S.8). Über seine berüchtigten nächtlichen Feste S.9-10. Als Sebastian dem Selbstmörder den Werther aus der Tasche zieht, bemerkt er nur: »Es ist ein Nachdruck, die Ausgabe hat keinen Wert.« (S. 13) zurück

148 Ebd., S. 137. zurück

149 Ebd., S.94. Werther ist »das zweite furchtbare Ich des Menschen, das in der Erkenntnis seines Schicksals und seiner Einsamkeit die Brücken sucht zum Lande der Sehnsucht und zerschmettert in die Tiefe stürzt« (S. 137). zurück

150 Ebd., S.209. zurück

151 Ebd. Die Freunde deuten und werten das Schicksal des Helden unterschiedlich. Nach dem Urteil von Hans Bunkel – der mit der verlassenen Geliebten von Energos ein bürgerliches Leben beginnt und für dessen Kind sorgt – starb der alte Werther »am Überreichtum seiner Liebe«, dem neuen jedoch wurde »das Dasein unerträglich aus Armut an Liebe, an echter Empfindung« (S.213). Der Sichtweise von Sebastian, des überzeugten Bohemien, zufolge scheitert er am Widerspruch »zwischen bürgerlicher Banalität und freier künstlerischer Weltanschauung« (S. 156), da er sich nicht zu entscheiden wisse. zurück

152 Ebd., S.210. zurück

153 Narkissos (Ps.): Der neue Werther eine hellenische Passionsgeschichte. Leipzig: Max Spohr [1902], S.10. Der Herausgeber begründet die Veröffentlichung mit »der psychologischen und naturwissenschaftlichen Bedeutung« (S.6) des Materials. zurück

154 Ebd., S. 44. »Und ich weine über meine junge Schönheit, die wertlos ist für mich und alle.« (Ebd.) zurück

155 Ebd., S.83,80. zurück

156 W. Alexis (d.i. Wilhelm Häring): Ein englischer Werther. In: Penelope. Taschenbuch für das Jahr 1843 (32.Jg. = N.F. Jg. 3) Leipzig, S. 1-69. Hier S.8. Wegen »seines überwiegend psychologischen Interesses, und der Anhäufung der romanhaftesten Lebensverhältnisse« (S.1) hat A. den Fall nicht als Kriminalgeschichte veröffentlicht. zurück

157 Ebd., S. 3. Brief Margarets S. 30. zurück

158 Ebd., S.41. zurück

159 Ebd., S. 56-58. zurück

160 Ebd., S.61, 62. zurück

161 Ebd., S.62/63. zurück

 

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