goethe


Jutta Assel | Georg Jäger

Antonio Canova
Werkauswahl in lithographierten Umrissen 

 Vorherige Seite Vorblatt   Nächste Seite 

 

Colossale Statue des Kaisers Napoleon in Carrarischem Marmor. Eine Kopie in Bronze gegossen befindet sich in der Brera zu Mailand.
1803

 

Diese Statue gehört nicht mehr Frankreich an. Als Napoleon nach St. Helena verbannt ward, wanderte sein Bild auf die brittische Insel. Das traurige Grab auf jenem Felsen eignete sich ebenso wenig für das Geschick eines Eroberers, als der neblichte Himmel Englands für ein Meisterwerk der Sculptur. In einem solchen Clima kann der Marmor nie das lebhafte Licht, nie jene goldnen Reflexe erhalten, die ihn in seiner Herrlichkeit darstellen. Der Riese der neuen Geschichte, dessen Züge Canova in diesem Werke darzustellen versucht hat, wird glücklicher seyn; die Strahlen der Wahrheit werden sich dereinst um sein geistiges Andenken versammeln: sie, die keine Vollkommenheit vergessen, keinen Fehler bemänteln.

Die kolossale Figur, von mehr als fünfzenn Fuss Höhe, gehört wesentlich der heroischen Gattung an. Sie ist nackt, wie die römischen Künstler gewohnt waren die Cäsarn darzustellen. Die Aehnlichkeit ist so gut beobachtet, als es die übermenschlichen Dimensionen zuliessen. Man fühlt, dass die Maske, nach der Natur studiert, während der langen Arbeit, dem Künstler immer unter den Augen geblieben ist. Diese hohe Stirn, diese seltsame Augenvertiefung, der Schnitt des Mundes, die Gestalt dieses Kinns, das einen festen Willen so gut charakterisirt, alles kündigt auf den ersten Anblick das Bild eines ausserordentlichen Mannes an. Er hält in der rechten Hand die Weltkugel und über derselben die Siegesgöttin mit offnen Flügeln. Die linke Hand, höher als der Kopf, fasst eine Lanze von antiken Verhältnissen. Das Schwerdt hängt an einem Baumstamm; das Haupt neigt sich auf die rechte Seite; das nachdenkliche Auge betrachtet die Victoria, diese Gottheit, die über allen andern steht, und die ganze Seele des Helden zu füllen scheint. Eine reiche Chlamys, ein Kriegsgewand, mit einer Agraffe befestigt, worauf ein Adler gezeichnet ist, ruht auf dem Arm, der die Lanze hält. Diese Draperie reicht in edeln und harmonischen Falten über das Knie herab.

Die ganze Figur ist dargestellt als im Begriffe sich zu bewegen. Der rechte Fuss ruht auf dem Boden; der linke ist aufgehoben, als verfolgte die Gestalt einen begonnenen Weg. Diese Absicht begünstigt wunderbar der Ausdruck des Bildes. Rastlosigkeit ist ein Grundzug seines Originals. Doch hat diese Stellung strenge Critiken erfahren: man hat behauptet, das Gleichgewicht des Körpers sey nicht vollkommen; die Kräfte seyen fehlerhaft abgewogen. Diese Vorwürfe entsprangen, wie uns däucht, mehr aus Neid, als aus Gerechtigkeitsliebe. Ruhige und vollendete Handlung war allerdings die gewöhnlichere Aufgabe für die Bildnerey, als jener kühne aber löbliche Versuch, den Marmor wandeln zu lassen; daher verwechselte man die Routine mit dem Geschmack, und hält das, was am öftesten ausgeführt worden, für das Bessere. Uebrigens sind jene Critiken, was das Materielle betrifft, unrichtig. Der Körper darf sich fast mit seinem ganzen Gewichte nach vorwärts legen, weil er sich auf dem einen Beine wiegt, und das andre erwartet, das ihn seinerseits aufnehmen wird: wenn diese Stellung, durch welche die Bewegung so gut bezeichnet wird, fehlerhaft wäre, so müsste man auch den Apoll von Belvedere und einige andere Meisterwerke verdammen.

Möge diess Werk Canova's der englischen Schule zu gute kommen! diess ist in den Augen des Philosophen, der die Kunst bei allen Nationen liebt, der einzige Ersatz, den Frankreich für seinen Verlust·erhalten kann. 

 Vorherige Seite Vorblatt   Nächste Seite 
Das Fach- und Kulturportal der Goethezeit