goethe


Jutta Assel | Georg Jäger

Antonio Canova
Werkauswahl in lithographierten Umrissen 

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Statue von Naploeons Mutter, sitzend.
(Diese Statue wurde nach Paris gebracht.)
1805

 

Voll Adels, wie die antike Agrippina, gehört diese Figur unter die schönsten Schöpfungen unsres Bildners. Sie ward im Jahr 1805 in Marmor ausgeführt, und wird zu Rom in einem Pallaste der Familie Canino aufbewahrt. Die Gestalt ist auf einen Sitz von griechischer Form sanft hingestreckt; ihre Füsse ruhen auf einer zierlichen Stufe. Ist nicht ihre Kleidung, ihre Haltung so majestätisch wie eine Gottheit des römischen Pantheons?

Auf wen sollte die Grazie und der liebliche Ausdruck, mit dem dieser Kopf sich dreht, nicht Eindruck machen? Mit edler Nachlässigkeit sinkt der eine Arm über die Lehne des antiken Stuhles herab, der andre hält mit Leichtigkeit die schönen Falten des Mantels, der die Kniee bedeckt. Die Hände, die Füsse sind von ausgesuchter Arbeit. Noch sieht man auf diesem Angesicht, auf dem der ernste Ausdruck einer Matrone herrscht, alle Spuren der Schönheit, welche die Jugend darauf zurückgelassen hat. Ein grosser, süsser Gedanke nimmt ihre ganze Seele ein, und verbreitet eine Heiterkeit über diese Gestalt, die heutzutage bei dem Beschauer eine gewisse Melancholie und ein Bedauern ganz poetischer Art erzeugt.

Seltsamer Hohn des Glückes! wunderbares Geschick der Mutter des grössten Menschen und der grössten Geissel, die jemals die Jahrhunderte hervorgebracht haben mögen! Denkt sie an die Triumphe, die seinen Namen vom Tajo bis zum Borysthenes, von den Einöden Asiens bis zum brittischen Ocean mit Ehrfurcht genannt? Sieht sie diesen Sohn, dessen Vasallen alle Könige waren, mit der Tochter des stolzesten Monarchen vor den Altar treten? Sieht sie die Würden ihres Geschlechts in einem Sprössling dieses kriegerischen Stammes fortpflanzen? Sieht sie ihn umgeben von der Liebe der Franzosen? Verblendete Mutter! Er hat diese einzige Schutzwehr der Könige gegen das Unglück verschmäht; er hat das Volk einer Sache geopfert, die mit dessen Wohle nichts zu schaffen hat; er hat die freien Menschen verachtet, die Ideen gehöhnt, die unsterblich sind, weil sie gerecht sind ... Blicke nicht auf Sankt Helena! die Rache einer unterdrückten Nation ist streng; dieser Anblick ist nicht für die Augen einer Mutter. Könnte die Erniedrigung seiner Schergen dein Leiden aufwägen?

Ach, dieses Lächeln, dieses Vertrauen auf die Zukunft, die den Ausdruck des schönen Kopfes bilden, sie konnten nur auf dem Marmor Dauer erhalten. Alles was da lebet, hat nur flüchtige Ahnungen dieses Vertrauens; und das Bild des Glückes ist nur dauernd in der Schöpfung der Künste. Um es zu fesseln, bedürfen wir eine Lüge des Genie's, ja gerade die Unmacht der unbeweglichen S[c]ulptur. 

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