goethe


Jutta Assel | Georg Jäger

Antonio Canova
Werkauswahl in lithographierten Umrissen 

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Die drei Grazien,
Gruppe in Marmor, für die Kaiserin Josephine.
1814

 


Canova war dazu berufen, die Grazien darzustellen. Sie haben alle seine Werke beseelt; und selbst die strengere Critik, die seinem Talente wohl zuweilen Lebendigkeit und Kraft streitig gemacht, hat nie geläugnet, dass er von diesen drei Göttinnen, die unzählige Altäre in Griechenland hatten, unaufhörlich begeistert gewesen sey. Der Künstler wusste jeder dieser drei Schwestern einen identischen und dennoch unterschiedenen Charakter zu geben.

Euphrosine hat mehr Weichheit und Hingebung als Thalia, Aglae übertrifft beide durch den liebevollen Ausdruck, der gewissermassen dazu dient, diese Gruppe zu umschlingen und zu vereinigen.

Es war sehr schwer, diesen Figuren eine neue Stellung zu geben: aber Canova hat die Aufgabe glücklich gelöst. Er hat die ewige Manier; sie zu vereinigen, vermieden, indem er die eine von vorn zeigt, und die beiden andern vom Rücken, oder zwei vom Rücken und die dritte von vorn. Diess ist der untrügliche Anblick, den sie bei den Alten gewähren.

Alle neuern Bildhauer haben sich beeilt, diesen Typus nachzuahmen; sie haben immer Arme und Beine mit der genauesten Symetrie dargestellt.

Canova hat die Feinheiten seines Gegenstandes mit ausnehmendem Scharfsinn wiedergegeben, so wie alle Attribute dieser reichen Allegorie. Die Grazien mussten nackt seyn, und dennoch verschleiert, denn die Sittsamkeit ist auch eine Grazie; und das leichte Gewebe, von dem er sie umflattern lässt, schmückt sie, ohne sie zu bedecken. Wie soll man aber diesen Gegenstand beschreiben und analysiren? Kann man die Grazie beschreiben? Was soll ich von diesen markigten Armen, von diesen zarten Händen, von dieser zärtlichen Umarmung sagen, welche die drei Göttinnen verknüpft? Sie sind schöner als die Schönheit selbst; ihre Reitze lassen sich nur empfinden, nicht auseinander setzen, und doch schliesst so viel ideale Vollkommenheit die Einfalt nicht aus.

Der Bildner hat durch seine sinnige Kunst alle Bedeutungen der Grazie wiederzugeben gewusst: denn diese dreifache Gottheit war nicht nur Spenderin der körperlichen Reitze, der Freude, der guten Laune, der Freigebigkeit, der Beredsamkeit und des Wissens, wie Pindar sagt, sondern die Grazien waren auch die Vorsteherinnen der Wohlthaten und der Erkenntlichkeit. Gratitudo heisst in der der Römischen und in ihren Töchtersprachen die Dankbarkeit, das Gedächtniss des Herzens.

Die Haare der Grazien sind mit seltener Eleganz geordnet, ohne im mindesten gesucht zu erscheinen. Seiten und Enden sind mit grosser Ueberlegenheit in der Ausführung behandelt.

Ein Altar erhebt sich hinter der Gruppe um sie zu halten; Blumenguirlanden sind angelegt um gleichfalls hiezu mitzuwirken; es ist diess ein sinnreiches Mittel, den Nutzen der Zierde dienen zu lassen, und die Grazien durch Blumen zu stützen. Allenthalben ist das Talent des Phidias mit dem wollustathmenden Geiste Anakreon's gepaart. Die Kaiserin Josephine [1763-1814, erste Gemahlin Napoleons I.] war es, die dieses Werk dem Künstler aufgetragen. Sie hatte es gefühlt, dass die unzertrennlichen Göttinnen den Künstler nicht verlassen würden, dessen ganzes Leben ein Opfer auf ihren Altären war. Sie verdiente es wohl, ein solches Sujet anzugeben; es wurde erst nach ihrem Tode vollendet (1814); aber das Andenken an ihre Güte wird so lange dauern, als der Marmor Canova's.

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