goethe


Jutta Assel | Georg Jäger

Antonio Canova
Werkauswahl in lithographierten Umrissen 

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Gruppe von Amor und Psyche, liegend,
in Carrarischem Marmor, in dem königlichen Palast zu Compiegne bey Paris.
1793

 

Das Mährchen vom goldnen Esel hat unserm Bildner den Gedanken zu dieser Gruppe geliehen: aus den seltsamen Berichten des Apulejus hat er die Handlung geschöpft, die er mit so vieler Anmuth wieder gibt.

Man weiss, welche gefährliche Unternehmungen der eifersüchtige Zorn der Venus der unglücklichen Psyche auferlegte. Bei jedem Triumph, den ihre Nebenbuhlerin davontrug, vermehrte die Göttin die schweren Arbeiten, zu deren Vollführung sie Psyche'n zwang. "Du musst, mein schönes Kind - diese Worte legt der naive Erzähler ihres Unglücks der Widersacherin in den Mund, - du musst zur Unterwelt hinabgehn. Nimm diese Büchse, reiche sie Proserpina dar und sprich: Venus bittet dich, ihr ein wenig von deiner Schönheit zu schicken, nur so viel, als sie für einen Tag braucht; denn sie hat all die ihrige verbraucht während der Krankheit ihres Sohnes. Aber komm doch ja bald wieder: ich brauche sie, um in einer Götterversammlung zu erscheinen!"

Mit Hülfe eines Thurmes, der sie unerwartet in dem Augenblick anredet, wo sie sich aus Verzweiflung von seiner Spitze herabstürzen will, ist Psyche so glücklich, durch alle Pässe zu kommen. Sie gelangt bis zu Pluto's Pallast. Proserpina füllt die Büchse, schliesst sie und gibt sie Psyche'n zurück.

Psyche kehrt freudig zur Erde zurück; aber kaum hat sie das Licht der Oberwelt wieder erblickt, so empfindet sie eine unbesonnene Neugierde. Sie vergisst den Rath des Thurmes, der ihr anempfohlen hatte, vor allem, sich wohl vor Eröffnung der Büchse zu hüten, die sie zurückbringen würde, und dem Gelüste nach dem Anblick der himmlischen Schönheit, deren Schatz sie enthalten könnte, nicht zu unterliegen.

"Wär' ich denn nicht recht einfältig - sagt Psyche zu sich selbst - wenn ich die Schönheit der Göttinnen in meinen Händen tragend, nicht ein wenig für mich selbst davon nähme, um so das Herz meines Geliebten wieder zu gewinnen?"

Aber kaum öffnet sie die Büchse, als anstatt des Schatzes, den sie darin zu finden vermeint, ein schwarzer Dunst, ein Dampf der Hölle heraus steigt, der sie einhüllt; in demselben Augenblick bemächtigt sich ein so tiefer Schlaf ihrer Sinne, dass sie regungslos, wie ein entseelter Körper niederfällt. Amor eilt ihr zu Hülfe. Er kommt, er sammelt all den betäubenden Dunst mit dem sie umgeben ist: er erweckt sie, indem er sie sachte mit einem seiner Pfeile ritzt oder vielleicht einen Kuss auf ihre Lippen drückt. Diess ist der Augenblick, den Canova darstellen wollte, Psyche hat das Schwirren der Flügel Amors gehört; sie hebt ihr Haupt wieder, und ihre zurückgeworfenen Arme ergreifen in wollüstiger Umarmung den Geliebten, den sie für sich verloren geglaubt.

Auf dem Hügel, wo die Unbesonnene noch immer hingeworfen ruht, erblickt man die offene Büchse, die ihr den Untergang zu bringen drohte. Die Stellung Amors ist voll Schutz und Zärtlichkeit. Wenn die Gruppe auch nicht von allen Seiten einen gleich glücklichen Gesichtspunkt, ein gleich anmuthiges Ganze darbietet, so kann man doch nicht läugnen, dass der Anblick, unter dem unser Zeichner sie hier aufgefasst hat, in der That sehr angenehm und sehr glänzend sey. Diese Stellung ist neu: und die Schwierigkeiten, die sie dem Genius des Künstlers, und dem Erfolge selbst entgegensezte, den sich in gewöhnlichen Fällen der Meissel versprechen darf, scheinen uns mit Ueberlegenheit besiegt zu seyn. 

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