goethe


Michael Thumser
Vor 175 Jahren starb Johann Wolfgang von Goethe

»Ein Dichter geht verloren«

 

Vorm Tod graut es ihm. Als Christiane, die Gattin und „dickere Hälfte“, unter Qualen verendet, hält er sich etliche Zimmer entfernt von ihr auf, nicht an ihrem Bett: Durchs Haus bis zu ihm dringen ihre Schmerzensschreie und machen ihn selber krank. 1816 ereignet sich dies. Elf Jahre zuvor hat er es schon nicht über sich gebracht, dem 45-jährigen Schiller beim Sterben beizustehen; der war immerhin Gefährte im Geiste, ein Freund vielleicht, fruchtbarer Antipode: Ko-Klassiker.

Heute vor 175 Jahren dann gab Johann Wolfgang von Goethe in der Geniestadt Weimar selbst den erleuchteten Geist auf. Grauen hatte sich dabei ins Gesicht der Leiche gegraben: „Die Züge waren verzerrt“, notierte der Arzt, „das Antlitz aschgrau, die Augen trübe; der Blick drückte die grässlichste Todesangst aus.“ Tags darauf betrachtete Johann Peter Eckermann – Vertrauter, Gesprächspartner, Dokumentarist der letzten Jahre – den großen Toten und fand ihn für die Ewigkeit angemessen verklärt: „Tiefer Friede und Festigkeit waltete auf den Zügen seines erhaben-edlen Gesichts. Die mächtige Stirn schien noch Gedanken zu hegen.“

An solchen hatte es bis zum Ende nie gefehlt hinter der „mächtigen Stirn“. Der Körper freilich hatte nachgegeben. 83 war Goethe, als er starb; zu alt, vielleicht, für einen wie ihn. Schien er doch „seine“ Epoche, die klassische, überlebt zu haben. Die Romantik hatte sich vollendet und seiner, des „Kunstgreises“ und „Fürstenknechts“, zu spotten gewagt. Viele waren ihm weggestorben: vor und nach Schiller die Geistesheroen Herder und Wieland; Charlotte von Stein, seine Erzieherin und ganz große Liebe; der Herzog Carl August von Sachsen-Weimar, sein Schüler, Mentor und Freund; der Sohn August, Gehilfe und schweralkoholisches Sorgenkind. Hoch ehrte man ihn, der sich zutraute, als Erster „die Epoche der Weltliteratur“ zu verkörpern, im In- und Ausland; Titanen wie Napoleon und Beethoven hatten seinen Weg gekreuzt. Gleichwohl waren Enttäuschungen, sogar Demütigungen ihm nicht erspart geblieben. Immer aber, auch im Alter, profitierte die Dichtkunst der Nation von ihm und seiner Wandlungsfähigkeit, die sich ins Innovative wie ins Konservative, Bewahrende wandte.

Nach Schillers Tod entsteht bedeutende Prosa neu oder wird fortgeführt: „Die Wahlverwandtschaften“, „Wilhelm Meisters Wanderjahre“, die „Italienische Reise“. Der Lyrik setzt namentlich der „West-östliche Divan“ die Krone verfeinerten Kunstsinns, reifen Könnens, geistiger Souveränität auf. „Aus meinem Leben“ berichtet Goethe autobiografisch, „Dichtung und Wahrheit“ vermischend. Die Tragödie um „Faust“ bringt er mit dem zweiten Teil ins Ziel: sein „Hauptgeschäft“ beinah das Leben lang, ein Weltgedicht, für Jahrhunderte unerschöpflich. Das Manuskript, im versiegelten Paket, darf erst die Nachwelt öffnen.

Mit all dem Sinn wollte die Sinnlichkeit letztmalig mithalten. 74-jährig, bei der Kur in Marienbad, trug er einer Frau die Ehe an – einem Backfisch: Um Ulrike von Levetzow, „die lieblichste der lieblichsten Gestalten“, warb im Namen des Dichterfürsten als fürstlicher Mittelsmann Herzog Carl August. Dankend, wiewohl ohne Bedauern, lehnte die 19-Jährige die Sensationsofferte ab. „Keine Liebschaft war es nicht“: Darauf beharrte Ulrike noch als unvermählte Greisin. Dem Abgewiesenen verwandelte sich der Korb bewegend in die Abschiedspoesie der „Marienbader Elegie“: „Mir ist das All, ich bin mir selbst verloren, / der ich noch erst den Göttern Liebling war.“

Versen von milderer Melancholie begegnete er wieder, als er am Vorabend seines 82. Geburtstags, 1831 in seinem letzten Sommer, noch einmal den Kickelhahn unweit vom thüringischen Ilmenau erklomm. In die Wand der Schutzhütte dort hatte er, gut ein Halbjahrhundert jünger, schlicht Zeitloses geritzt: „Über allen Gipfeln / ist Ruh, / in allen Wipfeln / spürest Du / kaum einen Hauch ...“ Und nun? „Ja, warte nur, balde ruhest du auch“, zitierte er die Strophe zu Ende, „in sanftem, wehmütigem Ton“, wie der ihn begleitende Berginspektor berichtete, während „Tränen über seine Wangen flossen“. Den Tod, vor dem ihm stets graute, wusste Goethe da schon recht nah. Und wandte er sich ab: „Nun wollen wir wieder gehen!“

Ist er geblieben? Jene Verse – „Wanderers Nachtlied“ – klingen vielen Kulturbürgern und Gymnasiasten noch heute ziemlich vertraut. Erst recht bleibt der erste Teil des „Faust“, auf der Bühne und in Zitaten, präsent. Doch wer liest den Dichter darüber hinaus? Keine Zeit für Klassiker: Goethe ist den Deutschen als Ikone verordnet und ansonsten weitgehend unbekannt.

Und noch nicht einmal das stand von vornherein fest. „Mehr Licht“, besagt die Überlieferung, habe der Dichter mit seinen letzten Worten verlangt – da war er für manch einen längst ins Dunkel des Vergessens getaucht. Für Friederike Brion etwa, im elsässischen Sesenheim die erste große Jugendliebe; als alte Dame nach dem stürmisch-drängenden Galan von einst befragt, gab sie zur Antwort: „Eines Tages war er fort. Keiner hörte mehr von ihm.“

Von Eckermanns „Gesprächen mit Goethe“ legte Hans Piper eine handliche Auswahl vor: „Wir Deutschen sind von gestern“ („Book on Demand“, 91 Seiten, kartoniert, ISBN 978-3-8334-7064-6).

 

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Goethe, seinem Schreiber John diktierend: Johann Joseph Schmeller malte den greisen Dichter in seinem Weimarer Heim im Jahr vor seinem Tod REPRO: ARCHIV

Michael Thumser: Ein Dichter geht verloren. In: Frankenpost am 22.03.2007.

 

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