goethe


Empfehlungen der Redaktion im Jahre 2005

29. Dezember 2005

Uwe Japp:
„… am furchtbarherrlichen Haken“. Hölderlins Deutung der Alpen

Als eine Manifestation der Ästhetik des Erhabenen ragen die Alpen in die Literatur hinein. Das „höchste Gebirge Europas“ vermag das „Prädikat einer überwältigenden Erscheinung oder des aus Unlust und Lust gemischten Gefühls, mit dem solche Überwältigung ästhetisch erfahren wird“, sich zuzuziehen. Die Koppelung von Lust und Schrecken bezeichnet die Zweiwertigkeit des Phänomens. Gerade diese Zweiwertigkeit wird in dem für das 18. Jahrhundert vielleicht einschlägigsten Text, Albrecht von Hallers „Die Alpen“, nachhaltig revidiert. Hallers Beobachtung der Alpen ist von einer gegenläufigen Topographie der Sitten geleitet, die den Gegensatz von Stadt und Land zum Parameter ihrer Urteile macht. Diese Tendenz, die Alpen gegen die Dekadenz der Gesellschaft auszuspielen und als Manifestation der Natürlichkeit zu begreifen, verstärkt sich im Laufe des 18. Jahrhunderts und erhält im Werk Rousseaus eine wirkungsmächtige Grundlegung. Hölderlin knüpft an die rousseauistische Linie an, bewahrt zugleich aber die Erinnerung an (oder den Sinn für) das Schreckliche. Ein weiteres Zeichen der Hölderlinschen Individualität ist darin zu sehen, daß ihn die Alpen weniger aus ethischen Gründen beeindrucken, vielmehr politische, ästhetische und mythologische Aspekte der „günstigen Höhn“ relevant werden.

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22. Dezember 2005

Lothar Bornscheuer:
Richard Wagner: Der Ring des Nibelungen. Ein Meisterwerk des Anarchismus

Der Beitrag über Richard Wagners „Ring des Nibelungen“ stammt von dem 2002 verstorbenen Duisburger Literaturwissenschaftler Lothar Bornscheuer, der sich in den letzten Lebensjahren mit dem Thema „Poesie und Geld“ beschäftigt hat. Zu der geplanten Monographie „Das Geld der Poesie. Literarische Exempla zur Kultur von Tausch und Täuschung“ ist es nicht mehr gekommen. In diesem thematischen Zusammenhang steht auch seine Interpretation von Richard Wagners „Ring“ als „Meisterwerk des Anarchismus“, die das komplexe Verhältnis zwischen Liebe, Geld und Macht vom literarischen und kompositorischen Standpunkt aus beleuchtet und Wagners sozialpolitisches Denken mit einbezieht. Die hier vorgestellte Fassung basiert auf einem Vortrag, den er mehrfach gehalten hat, zuletzt im Rahmen einer Duisburger Ringvorlesung über „Große Werke der Weltliteratur“ (Januar 2001). Aus den etwa zehn Fassungen hat G.E. Grimm eine Lesefassung erarbeitet, die anstelle der im Vortrag eingeblendeten Musikbeispiele die entsprechenden Noten wiedergibt.
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20. Dezember 2005

Yvonne-Patricia Alefeld:
„Der Simplizität der Griechen am nächsten kommen“ Entfesselte Animalität in Heinrich Wilhelm v. Gerstenbergs Ugolino

Hunger und körperliche Schmerzen sind in der Literatur des 18. Jahrhunderts eher seltene Motive. In Heinrich Wilhelm von Gerstenbergs Tragödie ‚Ugolino’ (1768) ist ein Hungerturm der Raum, in dem sich Exzesse um die anthropologischen Grundthemen Nahrungstrieb, Aggression und Sexualität abspielen. Die Inszenierung einer systematischen Verelendung gleicht einem Experiment, das auslotet, welche physischen und psychischen Belastungen das Individuum und, in sozialer Beziehung, die Familie aushalten kann. Diese dramatische Versuchsreihe reicht von der radikalen und finalen Vereinsamung bis zur entschiedenen Ablehnung eines - religiös oder philosophisch geprägten - positiven Menschenbildes.

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12. Dezember 2005

Gunter E. Grimm:
Dichterbilder. Strategien literarischer Selbstinszenierung

Das Forschungsprojekt „Dichterbilder“ widmet sich den historischen Strategien schriftstellerischer Selbstinszenierung. Die Untersuchung verbindet rezeptionshistorische und imagologische Methoden. Dabei gehören Fragen nach dem Selbstverständnis des Dichters und nach der Übereinstimmung zwischen Selbstbild und Erscheinungsbild ebenso dazu, wie Fragen nach der Historizität dieser imagotypen Strukturen. Bei der Frage nach den Funktionen dichterischer Selbstinszenierung stehen drei Aspekte im Vordergrund: die Frage nach den gesellschaftlichen Funktionsweisen, die Instrumentalisierung von Literatur und die Bedeutung der Rezipienten und Distributoren für diese gesellschaftlich-literarischen Rituale. Die Selbstinszenierungen manifestieren sich auf unterschiedliche Weise, die von der spezifischen literarischen Ikonographie des Dichters über die Wahl bevorzugter Schauplätze bis zu Stilisierungen reichen, die den Autor in eine bestimmte poetologische Tradition bzw. in persönliche Nähe zu Vorbildern stellen.

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01. Dezember 2005

Helmut Pfotenhauer:
Klassizismus als Anfang der Moderne? -
Überlegungen zu Karl Philipp Moritz und seiner Ornamenttheorie

Der Klassizismus des 18. Jahrhunderts ist ursprünglich angetreten als Kritik barocker Überladenheit und Verzierungslust, als Kritik des Ornaments. Einfachheit der Linienführung und Funktionalität für das Bedeutende der Gegenstände, insbesondere der idealisierten Menschendarstellung, wurden dem als Forderung entgegengehalten. Zunehmend wird man sich jedoch bewusst, dass auch die vorbildlichen Alten und die Kunst der Renaissance in hohem Maße ornamentverliebt waren. Der klassizistische Zeitgeschmack öffnet sich für die Verzierungen, wie sie etwa die Ausgrabungen in Pompeji und Herculaneum zutage förderten. Zugleich betreibt die Ästhetik des ausgehenden Jahrhunderts eine Aufwertung der frei spielenden Einbildungskraft gegenüber der Verpflichtung der Kunst, externe Gegenstände und Gehalte wiederzugeben. Karl Philipp Moritz’ „Vorgriffe zu einer Theorie der Ornamente“ von 1793, in welcher sich die ästhetischen Diskurse überschneiden, zeigt, wie sich im kunsttheoretischen Umgang mit den Verzierungen unter der Hand - den klassizistischen Maximen verpflichtet und sie bis ins Gegenteil modifizierend - eine moderne, autonomieästhetische und romantiknahe Auffassung von Kunst herausbildet.

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20. November 2005

Maren Lorenz:
"... da der anfängliche Schmerz in Liebeshitze übergehen kann ...".
 Das Delikt der "Nothzucht" im gerichtsmedizinischen Diskurs des 18. Jahrhunderts.

Maren Lorenz zeigt anhand gedruckter ärztlicher Gutachtensammlungen und Rechtstexten der Aufklärung zu "Notzucht", wie das sexuelle Verhältnis der Geschlechter im gerichtsmedizinischen Diskurs nachhaltig naturalisiert wurde. Soziale Normen und patriarchale Mythen setzten "neue" naturwissenschaftliche Normen, die Kraft ihrer axiomatischen Autorität Legislative und Judikative gleichermaßen bis zum Ende des 20. Jahrhunderts prägten. Die Möglichkeit sexueller Gewalt, v.a. gegen erwachsene Frauen, wurde auf diese Weise de facto 'wegdefiniert'.

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20. November 2005

Maren Lorenz:
"als ob ihr ein Stein aus dem Leibe kollerte ...".
Schwangerschaftswahrnehmungen und Geburtserfahrungen von Frauen im 18. Jahrhundert.

Maren Lorenz untersucht die individuelle Wahrnehmung von Schwangerschaft durch ledige Frauen des 18. Jahrhunderts anhand von Prozessakten und ärztlichen Gutachten. Während der medizinische Nachweis der Schwangerschaft eine auf normativen Axiomen basierende Scheingewissheit ist, orientieren sich die Frauen selbst an individuellen Erfahrungsmustern, Wunsch- bzw. Abwehrdenken und der Kommunikation mit anderen. Die historische Auseinandersetzung mit den verschiedenen Deutungsmustern körperlicher Vorgänge, die auch auf medizinischer Seite weit von heutigen Vorstellungen abweichen, und die Ungewissheit über einen Zustand, der sich erst mit (k)einer Entbindung klärt, führt zur Auflösung scheinbar transhistorischer Gewissheiten. Damit eng verknüpft sind sich wandelnde Definitionen über den Beginn des menschlichen Lebens.

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20. November 2005

Maren Lorenz:
"Er ließe doch nicht nach biß er was angefangen."
Zu den Anfängen gerichtspsychiatrischer Gutachtung im 18. Jahrhundert.

Die Diskrepanz zwischen dem wissenschaftlichen Anspruch objektiver Erkenntnisfindung und den Niederungen der davon abweichenden Empirie zeigt sich hier am Beispiel der Gemütszustandsgutachtung" gerichtlich bestellter akademischer "Physici" im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts. Anhand des Fallbeispiels eines jungen Handwerksgesellen wird gezeigt, wie "aufgeklärte" Ärzte versuchten, konkurrierende Theorien, alte und neue physische Modelle zu "Wahnsinn" in eine kongruente Struktur zu bringen. Dabei waren sie jedoch nach wie vor in erster Linie auf Gespräche mit den Patienten / Inquisiten und anderen Zeugen angewiesen, von deren Beschreibungen und Deutungen physischer und somatischer Symptome sie beinahe völlig abhingen. Dennoch versuchte man gemäß der zeitspezifischen Mode der detaillierten Kategorisierung auf dieser einzig möglichen Basis subjektiver Narration akribisch geschlechtsspezifische und andere Typisierungen von verschiedenen Arten und Graden des Wahnsinns zu entwickeln und diese wiederum am Einzelfall nachzuweisen. Der Beitrag führt (in eben jener Tradition) diese wissenschaftlichen Tautologie  exemplarisch vor Augen.

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20. November 2005

Maren Lorenz:
Begehren als Krankheit - oder die wahnsinnige Lust des Weibes

Die teilweise bis in die Antike zurückreichende Pathologisierung weiblichen sexuellen Begehrens, die sich im 19. Jahrhundert zum einen in Psychiatrisierung und schließlich massenhafter Hysterektomie niederschlug, zum anderen die Entstehung der Psychoanalyse maßgeblich beeinflusste, erlangte erst durch die Medizinkasuistik der Aufklärung den Status einer naturwissenschaftlichen Tatsache. Der Nachweis und die Systematisierung der "Hysterie" als globales Krankheitsbild für vielfältige sozial irritierende Verhaltensweisen von Frauen gelang primär über die Empirie der Fallstudien akademischer Ärzte der Aufklärung, die sich mit "Mutterwuth" bzw. "furor uterinus"  beschäftigten. Ihre modern gewandeten Beobachtungen und Deutungen lösten das traditionelle Traktatwissen ab und dienten seit der Mitte des 18. Jahrhunderts in immer stärkerem Maße auch der Justiz als Grundlage in Zivil- wie Kriminalprozessen gegen Frauen.

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15. November 2005

Reinhard Markner:
Fraktale Epik. Friedrich Schlegels Antworten auf Friedrich August Wolfs homerische Fragen.

Material für seine (natürlich unvollendet gebliebene) »Geschichte der Poesie der Griechen und der Römer« (1798) sammelte Friedrich Schlegel in mehreren Notizheften, von denen einige bis heute unveröffentlicht sind. Anhand dieser Manuskripte zeigt Reinhard Markner, welche Folgerungen Schlegel aus Friedrich August Wolfs »Prolegomena ad Homerum« (1795) für seine Literaturgeschichtsphilosophie zog.

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11. November 2005

Anton Philipp Knittel:
„Soll ich den seidnen Latz noch niederreißen ...?“
Anmerkungen zur Funktion von Kleidung in Heinrich von Kleists „Penthesilea“

Kleidung ist zur Zeit Kleists ein vielfach gelesenes Zeichensystem. Der Beitrag untersucht die dichterische Funktion von Kleidung im Drama „Penthesilea“. In entscheidenden Momenten tritt hier das Zeichensystem der Kleidung anderen Zeichensystemen, etwa der Körpersprache, unterstützend oder konterkarierend zur Seite.

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10. November 2005

Helmut Pfotenhauer: 
Das Leben schreiben – Das Schreiben leben. Jean Paul als Klassiker der Zeitverfallenheit

Der Begriff des Klassikers ist assoziiert mit der überzeitlichen Geltung seines Werkes. Seit dem 19. Jahrhundert schreibt man diese den Schriften Goethes und Schillers zu. Jean Pauls Schriften verstehen sich, nicht zuletzt in Auseinandersetzung mit den Weimarer Kollegen, als grundsätzlich weniger robust im Widerstand gegen das Fortschreiten der Zeit. Den Autor und sein Werk sieht er durch Hinfälligkeit bedroht. Dagegen gilt es in einem unablässigen Prozeß anzuschreiben. Von den frühen Satiren bis zum Spätwerk, das er „Papierdrache“ nennt – aus Schriftfetzen zusammengeleimt – ist er, wie gezeigt wird, von diesem Impuls angetrieben. Aus heutiger Sicht wird er dadurch zu einer Art Gegenklassiker: ein Klassiker der Zeitverfallenheit. Der Beitrag eröffnete eine Tagung zu Jean Pauls 175. Todestag.

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03. November 2005

Helmut Pfotenhauer:
Jean Pauls literarische Biologie

Bei Jean Paul zeigt sich ein eigentümliches, charakteristisches, ja geradezu programmatisches Schwanken hinsichtlich biologischer Grundfragen seiner Zeit, Präformation oder Epigenesis, Urzeugung oder Neuzeugung und der Unsterblichkeit der Seele. Konstitutiv ist der Zweifel. Jean Paul, so zeigt der Beitrag, entwickelt sich in diesem Felde der Argumentation nicht; er gelangt, bei aller Periodisierungsmöglichkeit seiner Optionen, nicht eigentlich von einer Position zu einer anderen, wissenschaftlich besser abgesicherten; er aktualisiert vielmehr immer wieder die Gegensätze, malt sich immer wieder die gleichen Alternativen aus, treibt sein Spiel zwischen metaphysischem Enthusiasmus über die uranfänglichen Verbürgtheiten und skeptischer, kontingenzoffener neuerer Biologie. Dies, nicht der argumentative Fortschritt wird zum Grund literarischer Inspiration. Der Roman „Siebenkäs“ ist ein Schauplatz der konfligierenden Konzepte; er agiert die Extreme, wie sie in den gegensätzlichen Optionen der Biologie des 18. Jahrhunderts angelegt sind und hier nun subjektiviert, zugespitzt, dramatisiert und in Handlungsverläufe ausgefaltet werden.

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03. November 2005

Helmut Pfotenhauer:
Empfindbild, Gesichtserscheinung, Vision.
Zur Geschichte des inneren Sehens und Jean Pauls Beitrag dazu

Das Empfindbild ist ein Grenzwert des Literarischen. Es bezeichnet eine Bildlogik des Ungewissen, eine Evidenz des Halbdunkels und kann, was die poetische Sprache nicht kann: den Eindruck von Intensität, von sinnlicher Dichte erwecken, von ungewollter, reflexionsloser Über¬zeu¬gungs¬kraft. Poetologisch gedacht sind Empfindbilder ein literarisches Reservoir reflexionsfreier Evidenz , sie begründen eine Poesie an der Grenze des Sagbaren, klar und ver¬schwimmend zugleich. Der Beitrag erschließt dieses diskursive Feld und erörtert instruktive Beispiele von Jean Paul und Goethe bis zu Hofmannsthal.

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03. November 2005

Uwe Japp:
Generische Formen. Goethes >Festspiel< Pandora. 

Abstraktion, Stilisierung, Symbolisierung, mit diesen Begriffen lässt sich die formale Eigenart der Goetheschen Festspiele annähernd bezeichnen. Hinzu kommt, mit Goethes eigenen Worten, das „Generische”, die zur Gattung hin verdichtete Individualität. Goethe hat allerdings nicht nur die Festspiele im Auge gehabt, sondern zugleich – oder darüber hinaus – das gesamte Spätwerk, schließlich das Charakteristische ‘später’ Werke überhaupt. Die Dramaturgie des Festspiels überlagert sich mit einer Poetik der Spätzeitlichkeit. In einem weiteren Schritt wird der Gegensatz der frühen und späten Zeit auf die Folge der Epochen angewendet, so dass die Explikation des Generischen sich als eine Erläuterung des Klassischen (bzw. der Klassik im Gegensatz zum Sturm und Drang) ausnimmt. Auf allen drei Ebenen – der formalen, der temporalen und der epochalen – zeigt sich das Generische als Visierung des Allgemeinen.

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18. Oktober 2005

Uwe Japp:
Dramaturgie der Vertauschung Achim von Arnims Die Päpstin Johanna

Die eklatanteste Vertauschung in Achim von Arnims Die Päpstin Johanna betrifft das Geschlecht. Daß es Die Päpstin Johanna heißt und nicht ‘Der Papst Johannes’, macht das Skandalon aus. In diesem Geschlechtertausch mischen sich Phantastik und Psychologie. Eine vielleicht weniger skandalöse, aber ebenso bedeutsame Vertauschung ist sodann im Hinblick auf die Gattung des Textes zu konstatieren. Letztlich kann man von einem Universaldrama an der Grenze seiner generischen Selbstnegation sprechen - bzw. weniger dramatisch, von einem Stück Welttheater, das dazu tendiert, sich in einen Roman zu verwandeln.

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18. Oktober 2005

Uwe Japp:
Die Identität des Künstlers. Arnims Erzählung Raphael und seine Nachbarinnen 

Künstlererzählungen beantworten in der Regel Fragen nach der Entstehung des Talents, nach der Art und Weise der kreativen Praxis und nach der Generalisierung des Singulären, anders gesagt nach der Genealogie, nach der Typologie und nach der Theorie. Angewandt auf Arnims Erzählung, lauten die Fragen: 1. Wie wird Raphael zum Künstler? 2. Was für eine Art Künstler ist Raphael? 3. Welche allgemeinen Maximen der Kunst ergeben sich aus dem speziellen Fall? Im Gegensatz zu manchen Erzählungen, die sich mit der Thematisierung der einen oder anderen Frage begnügen, durchläuft Arnims Text den ganzen Kursus. Entscheidend ist in diesem Fall ist jedoch die Ebene der Narration. Alle genannten Fragen betreffen die Diegese, also das raum-zeitliche Universum der Erzählung. Da die Erzählung aber dazu tendiert, den Akt ihrer eigenen Hervorbringung fortwährend präsent zu halten, wird es notwendig, die Diegese im Prisma der Narration zu betrachten.

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08. Oktober 2005

Dieter Martin:
Deutsche Shakespeare-Opern um 1800. 
 

Shakespeares Dramen motivierten Komponisten nahezu aller Länder, Epochen und Stilrichtungen zu musikdramatischen Adaptionen: Das fragmentarische Libretto zu Beethovens Macbeth ist der Zielpunkt des vorliegenden Beitrags (III). Um diesen Entwurf historisch zu würdigen, wird zunächst die musikalische Rezeption von Shakespeares Dramen im Deutschland des späten 18. Jahrhunderts skizziert. Leitend sind dabei im wesentlichen zwei Fragen. Zum einen: Wie stark hat die Shakespeare-Begeisterung seit dem Sturm und Drang auf die deutsche Librettistik ausgestrahlt? Und zum anderen: Inwiefern fördert die musikdramatische Shakespeare-Rezeption die Etablierung einer ‘großen deutschen Oper’? Seit dem ‘Sturm und Drang’ werden Shakespeares Dramen in Deutschland auf zweifache Weise musikalisch rezipiert. Strukturell abgrenzen läßt sich die musikalische Rezeption auf dem Sprechtheater (I), also in Gestalt von Inzidenz-, Schauspiel- und Bühnenmusiken, von der eigentlichen ‘Veroperung’ von Shakespeare-Dramen, also der Rezeption auf dem Musiktheater (II).

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08. Oktober 2005

Günter Oesterle:
Friedrich Schlegel in Paris oder die romantische Gegenrevolution

Im Anschluss an den Essai von Ernst Robert Curtius Friedrich Schlegel und Frankreich wird dem 1802 nach Frankreich aufbrechenden Friedrich Schlegel eine bedeutende Mittler- und Vermittlerrolle zwischen deutscher und französischer Kultur zugeschrieben. Das Gegenteil ist der Fall: Durch die bessere Kenntnis der französischen Kultur und ihrer Voraussetzungen soll ihre europäische Vorherrschaft und Vorbildhaftigkeit gebrochen werden. Schlegel beabsichtigt in Paris einen geschichtsphilosophisch dimensionierten, kulturellen Gegenentwurf zu Paris und Frankreich vorzulegen. Diese These wird in drei Schritten belegt: Es werden (1) die Voraussetzungen und Gründe von Schlegels Reise nach Paris geklärt, (2) die Kritik an Paris und der französischen Kultur entwickelt und (3) eine Skizze der Mission entworfen.

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16. September 2005

Claudia Stockinger:
Das Drama der deutschen Romantik – ein Überblick
(Tieck, Brentano, Arnim, Fouqué und Eichendorff)

Der Überblick berücksichtigt das dramatische Werk derjenigen Autoren, die in der Epocheneinteilung deutscher Literaturgeschichte als ‘Romantiker’ ausgewiesen werden. In struktureller Hinsicht ist dem ‘romantischen Drama’ vor allem die Auflösung der klassischen Finalstruktur gemeinsam, die es zu einer ‘Vorstufe’ des ‘modernen Dramas’ werden lässt. Durch seinen episodischen Charakter, die zunehmende „Selbständigkeit seiner Teile“, nähert es sich dem Epos ebenso wie der Malerei, indem der kausale Handlungsverlauf des ‘klassischen Dramas’ durch ein szenisch organisiertes Mosaik einzelner Textbausteine ersetzt wird, deren Zusammenhalt die Einführung vermittelnder Instanzen (auktoriale, spielinterne und spielexterne Erzählerfigurationen etc.) gewährleistet. Dieses Drama ist auf die Darstellung von Totalität angelegt, seine ‘arabeske Struktur’ zielt nicht auf additive Reihung, sondern ergibt sich aus der ästhetischen Integration aller Gattungen (Epik, Lyrik, Dramatik) zu einem neuen Ganzen.

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05. September 2005

Norbert Christian Wolf:
Goethe als Gesetzgeber. Die struktur- und modellbildende Funktion einer literarischen Selbstbehauptung um 1800

In struktureller Analogie zur Funktion Baudelaires und Flauberts im französischen literarischen Feld des 19. Jahrhunderts erweist sich im deutschen Literaturraum etwa achtzig Jahre früher Goethe als prominenter Einzelautor, der kraft seiner feldinternen sowie auch feldexternen ›Notorietät‹ und Wirkungsmächtigkeit eine zentrale Rolle bei der Herausbildung und Durchsetzung der spezifischen ›modernen‹ Normen des Ästhetischen sowie von Autorschaft spielt. Er nimmt damit sogar eine Vorreiterrolle gegenüber den späteren Franzosen ein. Der Beitragt behandelt den jungen Goethe als Vorreiter der ersten Avantgarde und den ›klassischen‹ Goethe als Wegbereiter etablierter Avantgarde. Die Kongruenz zwischen dem neuartigen klassischen Stilideal und dem gerade mit diesem einhergehenden innovativen Effekt im literarischen Feld konterkariert die literatursoziologische Sichtweise, die Goethes Rollenwandel vom (bürgerlichen) Sturm-und-Drang-Autor zum Dichter der (angeblich wieder höfischen) Weimarer Klassik als sozialen Rückschritt verstand.

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27. August 2005

Claudia Stockinger:
Dramaturgie der Zerstreuung. Schiller und das romantische Drama. 

Die Überlegungen gehen von der generischen Vielfalt eines Werkkomplexes aus, über dessen Zuordnung zur ‘klassischen Dramatik’ Schillers Konsens besteht. Dabei liegt das Hauptaugenmerk zum einen auf Die Jungfrau von Orleans, zum anderen auf Wilhelm Tell. Die Dramaturgie der Texte Schillers wird von der sowohl die Literaturkritik als auch die Bühnenbearbeitungen leitenden Poetologie unterschieden, und damit die Textpraxis von einer Dramentheorie, die durch die Autonomisierung der Form im dramaturgischen Experiment, durch die Aufhebung struktureller u. a. Vorgaben im ästhetischen Spiel subvertiert wird. In Material, Mitteln und Intention nähert sich Schillers Dramatik romantischer Universalpoesie. Grundsätzlich soll dabei nicht von Einflußnahme die Rede sein, sondern von Vergleichbarkeit: Schillers Plädoyer für strikte Gattungstrennung beispielsweise widerspricht dem integrativen Charakter der Dramen, die epische und lyrische Elemente einbinden; die Forderung nach absoluter Illusion schließt vermittelnde Instanzen (wie die Chorkommentare der Braut von Messina) oder die Auflösung einheitlicher Sinnzusammenhänge im poetischen Spiel (z. B. in die Vieldeutigkeiten der Jungfrau von Orleans) aus, wenngleich die (dramen-)praktische Anwendung der Theorie des Pathetisch-Erhabenen sich nur darüber realisieren lässt.

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27. August 2005

Ingrid Oesterle:
„Es ist an der Zeit!“. Zur kulturellen Konstruktionsveränderung von Zeit gegen 1800

Nicht primär die Frage wie, sondern zunächst einmal die Tatsache daß gegen 1800 die Zeit und ihre Konstruktion sich ändern, beansprucht Aufmerksamkeit. Speziell die zweite Hälfte der 90er Jahre des ausgehenden 18. Jahrhunderts ist in Deutschland gekennzeichnet durch einen geschärften Zeitsinn, der sich auf die Jahrhundertwende hin zuspitzt. Es kommt zu einer Intensivierung, Pluralisierung und Differenzierung bei gleichzeitig einsetzender Homogenisierung und „Historisierung der Zeit“ in bislang einzigartiger Verdichtung. Die Erfahrung, Wahrnehmung und Veränderung von Zeit wird gegen 1800 in Kunstmärchen von Goethe, Novalis und Wackenroder erzählbar. Ihnen zugesellt ist eine Gespenstergeschichte Jean Pauls zum Jahrhundertwechsel, in der die gemessene, gezählte Zeit in Kollision gerät mit anderen Zeiten: der Lebenszeit, den Zeiten der Geschichte und des Weltalls.

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21. August 2005

Norbert Christian Wolf:
Polemische Konstellationen: Berliner Aufklärung, Leipziger Aufklärung und der Beginn der Aufklärung in Wien (1760-1770).

Die Diskursformation ‚Aufklärung‘ im 18. Jh. entstand nicht allein aus einem freundschaftlichen Wettstreit um die Wahrheit, sondern ebenso aus einer (von der unterlegenen Seite als demütigend empfundenen) Konkurrenzsituation. Dabei ging es auch und nicht zuletzt um die Gewinnung, Infragestellung und Verteidigung von diskursiven Machtpositionen. Ein anschauliches Beispiel dafür ist die in den sechziger Jahren zwischen Berliner und Leipziger Aufklärern einsetzende Diskussion um die und mit der sich allmählich etablierenden Aufklärung in Wien. Die Verwerfungen zeitigten desintegrative Folgen für eine überregionale deutschsprachige Gelehrtenrepublik um 1760/70 sowie insbesondere für die Stellung der Wiener Aufklärung in ihr.

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19. August 2005

Claus Michael Ort:
»Es gibt doch wohl auch Juden, die keine Juden sind«.
Zur Konstitution des literarischen Frühantisemitismus
im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert.

Je stärker unter den Prämissen der Aufklärung die Einheit der Unterscheidung von ›jüdisch‹ und ›nicht-jüdisch‹ im ›Menschlichen‹ betont und die Differenz der Religionen marginalisiert wird, desto öfter sind Versuche zu beobachten, das vermeintlich ›Jüdische‹ sichtbar zu machen. Forderungen nach zuverlässigen ›jüdischen‹ Differenzmerkmalen stimulieren Detektionsversuche, die auf vermeintlich ›letzte‹, unveränderliche Unterscheidungskriterien abzielen, die es hinter der Maske der Assimilierung zu entlarven gelte. Diese „Nachtseite der Judenemanzipation“ begleitet die Geschichte der Integration der Juden in Deutschland seit dem späten 18. Jahrhundert. Dem Früh-Antisemitismus, insbesondere in der Auseinandersetzung mit der Figur des Nathan, ist die Studie gewidmet.

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15. August 2005

Norbert Christian Wolf:
"Fruchtbarer Augenblick" – "prägnanter Moment": Zur medienspezifischen Funktion einer ästhetischen Kategorie in Aufklärung und Klassik (Lessing, Goethe)

Erst das gefestigte Wissen um die kategorialen Gemeinsamkeiten der Künste und die Differenzen zwischen ihnen erlaubt ihren reflektierten morphologischen Vergleich und damit auch einen fruchtbaren wechselseitigen Austausch. Worin diese nun aber in Goethes Konzeption tatsächlich bestehen und inwiefern er das zeichentheoretisch begründete Gattungskonzept Lessings übernimmt oder modifiziert, ist angemessen nur zu diskutieren, wenn man den unterschiedlichen epistemologischen und kunsttheoretischen Rahmen berücksichtigt, innerhalb dessen die beiden Autoren argumentieren. Die Überlegungen versuchen, diese Fragen zu klären, indem sie die theoretischen Begründungsverhältnisse sowie die ästhetischen Konsequenzen der jeweiligen Konzeption vom 'prägnanten Moment' in den zentralen Beiträgen zur Laokoon-Debatte mustern, um sie einander direkt gegenüberstellen zu können.

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19. Juli 2005

Wolfgang Braungart:
„Veredelte, lebendige, darstellende Volkspoesie“. Bürgers Ballade „Die Entführung, oder Ritter Karl von Eichenhorst und Fräulein Gertrude von Hochburg“ und ihr Kontext


Über seine 1778 entstandene Ballade ,Die Entführung’ schreibt Bürger in einem Brief an Boie: „Die Entführung kommt dem Ideal meines Geistes von veredelter, lebendiger, darstellender Volkspoesie sehr nahe. Indessen steht es doch nur halb auf dem Papier. Die andere Hälfte muß der Rhapsodist durch Deklamation hinzufügen.“ Bürger sieht also von vornherein, daß diese Ballade die Realisierung durch einen Rhapsoden, einen Balladensänger, also durch die Deklamation braucht. Sie wird demnach erst ,lebendig’ und ,wirklich’, wenn sie realisiert wird. Das meint auch das Attribut ,darstellend’. Der schriftliche Text muß in den mündlichen Vortrag zurückgeholt werden. Dieser mündliche Vortrag, den Bürger sucht und braucht, ist eine Kunstleistung. Und darum ist auch die „lebendige, darstellende Volkspoesie“ in ihrer schriftlichen Gestalt des gedruckten Textes schon entsprechend eingerichtet und künstlerisch durchgearbeitet: Die ganze vermeintliche Natürlichkeit der Volkspoesie ist künstlich.
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19. Juli 2005

Wolfgang Braungart:
Naturverhältnisse. Zur poetischen Reflexion eines Aufklärungsproblems beim jungen Goethe.

Schon der junge Goethe setzt sich mit der Problematik eines einseitigen, rationalistischen Naturumgangs auseinander; und ,löst’ sie weder in der Weise, dass er Irrationalität und Emotionalität, unvermittelte und unvermittelbare Subjektivität des Sturm und Drang aufklärerischer Verstandesklarheit entgegensetzt, wie das ein alter Topos der Literaturgeschichtsschreibung will, noch durch ein eindeutiges Bekenntnis zu einem etwa spinozistisch inspirierten Pantheismus oder magisch-hermetischen Naturvitalismus. Die Frage nach Goethes Position in den naturtheoretischen Kontroversen um die Aufklärung lässt sich nicht allein durch eine Analyse seines Naturbegriffs beantworten. Dies wird aufgezeigt an den Balladen Der Fischer und Erlkönig und am Briefroman Die Leiden des jungen Werthers. Die beiden Gedichte stehen am Beginn einer Tradition naturmagischer Kunstballaden, die sich nicht von ungefähr im 19. Jahrhundert entwickelt, weil sie das Problem der scheinbar beherrschten, der verdrängten und sich deshalb rächenden Natur thematisiert.

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18. Juli 2005

Wolfgang Braungart:
Das Ur-Ei. Einige mediengeschichtliche und literaturanthropologische Anmerkungen zu Goethes Balladenkonzeption

In Goethes Definition ist die Ballade die integrative Gattung schlechthin, sie hat das Potential zur poetischen Synthese. In ihr schließt sich noch einmal zusammen, was sich funktional im Prozess der Gattungsentwicklung differenziert. „Ur-Ei” heißt soviel wie: Die Ballade ist eine Art poetischer Ursprache. An ihr lässt sich erfahren, was Poesie alles sein kann, ja sein soll. Solche elementare ‘Volkstümlichkeit’, wie sie Goethe in seiner eigenen Ballade exemplifiziert, versteht sich jedoch nicht mehr von selbst. Sie muss kommentiert werden, der Zuhörer muss zur elementaren Einfachheit der poetischen Formen erst wieder erzogen werden.

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18. Juli 2005

Wolfgang Braungart:
„Aus denen Kehlen der ältsten Müttergens.“ Über Kitsch und Trivialität, populäre Kultur und Elitekultur, Mündlichkeit und Schriftlichkeit der Volksballade, besonders bei Herder und Goethe. 

Den Vorwurf des Kitsches erhebt man erst da, wo das Naive professionell inszeniert, reproduziert und verwaltet wird. In der Geschichte der Literatur ist eine Schaltstelle dafür die Konstituierung der Volkspoesie durch Herder und Goethe in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Diese programmatische Neuorientierung der Literatur berührt sich mit der Frage, ob, wie und wann sich Elite-Kultur und Volks- bzw. neutraler: populäre Kultur differenzieren, insofern sich entsprechende Wahrnehmungsmuster herausbilden. Sie berührt sich auch mit dem komplizierten Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Zuge der allmählichen Durchsetzung des Buchdrucks. Und sie berührt sich schließlich mit der Frage nach der Entstehung moderner Unterhaltungskultur.

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18. Juli 2005

Steffi Roettgen:
Anton Raphael Mengs in Dresden und Madrid:
Zur Geschichte des Hochaltarbildes in der katholischen Hofkirche. 

Die kurfürstlich-sächsische Kunstpolitik zielte bereits unter August dem Starken, noch deutlicher aber unter der Regierung seines Nachfolgers auf eine Förderung einheimischer Talente. Eines der hoffnungsvollsten Talente war der junge Anton Raphael Mengs. Er erfuhr er seitens des Hofes eine effektive und nachhaltige Förderung. Dies hatte einen ernsthafteren Hintergrund als heute bewußt ist – der Hl. Stuhl zeigte ein reges und unverhohlen gegenreformatorisches Interesse an der Rekatholisierung des protestantischen Sachsenlandes, und er arbeitete gezielt auf die Etablierung einer religiösen Kunst im Stile der römischen Gegenreformation hin. Ausdruck und Ergebnis dieses Bestrebens ist die katholische Hofkirche, die eine Art sächsisches St. Peter sein sollte. Kurz nach der Weihe der Hofkirche 1751 erhielt Mengs den Auftrag für das Hochaltarbild mit der Himmelfahrt Christi und wurde nach Rom geschickt, um sich dort zum deutschen Raffael zu bilden.

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14. Juli 2005

Wolfgang Braungart:
Hyperions Melancholie. 

Hölderlins „Hyperion“ ist in dem Sinne ein Roman-Experiment, als hier Möglichkeiten eines riskanten Lebensentwurfs erprobt und literarisch reflektiert werden. Wie dieses Experiment verläuft, wird unter den Gesichtspunkten ‚Narzissmus’, ‚Lebenshermeneutik’ und ‚Hyperions Melancholie’ untersucht. Hyperion will – wie schon Goethes Werther – alles oder nichts. Er ist ein narzisstischer Held. Als solcher schwankt er ständig zwischen Ohnmachtsgefühlen einerseits und Entgrenzungs- und Allmachtsphantasien andererseits. Seine Lebensgeschichte, die Hyperion seinem Freund Bellarmin erzählt, belegt, daß er nicht fähig ist und es nie war, aus seiner narzisstischen Selbstbezogenheit herauszutreten, Bindungen einzugehen, im anderen den anderen als solchen zu erfahren und zu akzeptieren. Der Rhythmus dieses Lebens, das legen der Schluss und der Anfang des Romans nahe, wird der eines immer fortwährenden, vermeintlichen Findens des Sinns, der dann emphatisch begrüßt wird, und seiner Destruktion bleiben. Hoffnung auf Heilung kann Hyperion nur haben, wenn er sein Leben erzählt. Nur so, erzählend, kommt er über es hinaus.
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11. Juli 2005

Wolfgang Braungart:
„Und was du hast, ist / Athem zu hohlen.“ Hölderlins hymnisches Fragment ‚Der Adler’

Der letzte Vers des ersten Teils des hymnischen Fragments ,Der Adler’ wendet sich an uns: „Wo wollen wir bleiben?“ Die Überlegungen versuchen einen möglichen, weiterführenden Sinn dieses Verses zu entwickeln. Dabei wird davon ausgegangen, dass das Fragment kulturhermeneutisch verstanden werden kann: Es bilanziert den Prozess der Kultur und sucht nach einer Positionsbestimmung für ‚uns’ Menschen in ihm. Nach dieser Lesart kommentiert der zweite Teil die Kulturwanderung, von der im ersten Teil die Rede ist. Dieser zweite Teil lässt sich in einen Zusammenhang mit einer Diskussion bringen, die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts und insbesondere im Zuge der Rousseau-Rezeption einsetzt. Wie sieht denn, so wird gefragt, die ‚Gewinn- und Verlustrechnung’ des Gangs menschlicher Kultur aus? Was ist dabei herausgekommen, dass die beiden damals im Paradies das Tabu gebrochen und damit den Prozess menschlicher Naturbeherrschung und Kultur eingeleitet haben? Die paradoxale Struktur der Spruchweisheiten lässt sich als Antwort auf den skeptisch konnotierten Prozess der Kultur deuten, den der erste Teil des Textes thematisiert.

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03. Juli 2005

Gunter E. Grimm: 
Kunst als Schule der Humanität.
Beobachtungen zur Funktion griechischer Plastik in Herders Kunst-Philosophie

Herder hat die Kunsteindrücke seiner Italienreise in den „Briefen zu Beförderung der Humanität“ (1795) verarbeitet. Die sechste Sammlung beginnt mit einem für die spätere Kunstphilosophie Herders bezeichnenden Satz: „Auch die Griechische Kunst ist eine Schule der Humanität; unglücklich ist, wer sie anders betrachtet.“ Galt ihm früher nur die Geschichte als „Schule der Humanität“, so nimmt jetzt die Kunst mit ihren „ewigen Charakteren“ einen gleichberechtigten Platz ein. Die Plastik gibt „eine sichtbare Logik und Metaphysik“ des Menschengeschlechts „in seinen vornehmsten Gestalten“, eine Typologie idealer Menschen. In ihnen erblickt der Mensch wie in einem Spiegel sein Idealbild, das, was die Menschheit sein soll und sein kann – „das Ideal der Menschenbildung in ihren reinsten Formen“. Kunst wird zum Teilbereich des humanistischen Bildungsauftrags.

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30. Juni 2005

Gunter E. Grimm: 
"Riccaut de la Marlinière, Glücksritter und Franzos"
Die Rezeption einer Lustspielfigur zwischen Gallophilie und Gallophobie.

Die Aufnahme von Lessings Lustspiel „Minna von Barnhelm“ liefert ein sprechendes Beispiel für das Wirken ideologischer Interessen bei der Rezeption. Den Zeitgenossen Lessings galt dieses Stück als Muster des guten Geschmacks; sie nahmen die darin enthaltene soziale und politische Kritik nicht wahr. Ihre ausschließlich ästhetischen Urteilskategorien prädestinieren das Stück als ins Zeitlose enthobenen 'Klassiker'. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts gewann das Drama unerwartete Aktualität. Das Publikum kompensierte die düstere Gegenwart - die Ära der napoleonischen Besetzung - mit dem Interesse für eine bessere deutsche Vergangenheit, insbesondere für die Zeit Friedrichs des Großen als eines deutschen Helden, und so avancierte "Minna" zum patriotischen Stück. Beide Motivationen, historische und gegenwärtige, gehen dabei Hand in Hand. Im Kaiserreich diente das Drama vor allem im Schulunterricht zur Verherrlichung des Preußentums und zur Abwertung des Franzosentums   in deutlichem Rückgriff auf die Positionen der Befreiungskriege. Nicht immer sind die Erklärungsraster so transparent wie bei Erich Schmidt, der in "Minna von Barnhelm" eine Verherrlichung Friedrichs des Großen erblickte, und beim Sozialdemokraten Franz Mehring, der im selben Drama eine "schneidende Satire" auf das friderizianische Regiment sah. Nach den beiden Weltkriegen wurde "Minna von Barnhelm" als Soldaten  und Nachkriegsstück mit der zentralen Figur des Kriegsheimkehrers aktualisiert. Inszenierungen in der Bundesrepublik und in der DDR betonten dagegen den Emanzipationsgedanken oder deckten den "tief antipreußischen Charakter des Stückes" auf.

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28. Juni 2005

Gunter E. Grimm:
„Freundliche Blicke“. Topologische Variationen zur ‚Liebesblick‘-Metaphorik.
 

Psyche und Bewußtsein, Ausdruck und Gestik, Sprache und Bild – diese drei Aspekte eines Sachkomplexes rückten im Zeichen eines neuerwachten Interesses an Anthropologie, Körpersprache und Metaphorik in den letzten Jahren verstärkt ins Blickfeld. Auf der Ebene der Zeichen gilt es das Arsenal sprachlicher Mittel zu untersuchen, die affektische Regungen versprachlichen. Es handelt sich dabei um ein festumgrenztes Bild- und Metaphernrepertoire zur Benennung bestimmter Ausdrucksformen, das in gesellschaftlichen Konventionen steht und in ritualisierter Weise zur Anwendung kommt. In der Literatur freilich werden diese Konventionen erweitert oder durchbrochen; das macht ihren ‚Mehrwert’ gegenüber der ritualisierten Alltagssprache aus. Metaphern sind konzentrierte Semantik, und insofern vermag ihre Analyse auch über historische Mentalitätsprozesse Aufschlüsse geben.

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06. Juni 2005

Günter Oesterle:
Die „schwere Aufgabe, zugleich bedeutend und deutungslos“ sowie „an nichts und alles erinnert“ zu sein. Bild- und Rätselstrukturen in Goethes „Das Märchen“.
 

Goethes „Märchen“ schließt das novellistische Erzählen in den „Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten“ in einem - wie Goethe es selbst prononciert betont - „Übersprung“ ab. Die „Unterhaltungen“ setzen ein mit der Reflexion auf die Bedingung der Möglichkeit von Erzählen angesichts politischer Debatte und Parteienstreit. Die „Unterhaltungen“ beginnen im novellistischen Teil mit einem Erzählvertrag, um in diesem künstlich hergestellten Moratorium zu testen, wie unter schwierigen, „beinahe unmöglichen“ gesellschaftlichen und ästhetischen Bedingungen „unerhörte“, „aber mögliche“ Begebenheiten „als wirklich“ erzählbar sind. Die „Unterhaltungen“ enden als „Märchen“ mit einer Erzählform, in der „unmögliche Begebenheiten unter möglichen oder unmöglichen Bedingungen als möglich“ dargestellt werden. Dieses Paradox, der „Übersprung“ vom Unmöglichen zum Möglichen, entspricht exakt Goethes Märchendefinition. In einer Krisenzeit, in der geglückte Kommunikation zu den Seltenheiten gehört, scheinen Märchen fast religionsersatzbietend an der Zeit zu sein. Märchen machen wenigstens fiktional das Unmögliche möglich. Unter dem Problemdruck, Kommunikation unter gesellschaftlich unmöglichen Bedingungen zu bewerkstelligen, ist das Märchen, befreit vom Ballast bürgerlichen Lebens, gegenüber der Novellistik im Vorteil. Und doch benötigt umgekehrt das Märchen, in der Gefahr sich in der Sterilität bloßer Fiktion zu erschöpfen, eine Gegenseite, die mit dynamischer Kommunikation gesättigten Unterhaltungen.

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06. Juni 2005

Günter Oesterle:
Vision und Verhör. Kleists Käthchen von Heilbronn als Drama der Unterbrechung und Scham.

Heinrich von Kleist ruft fortschrittsabgewandte Momente der frühen Neuzeit auf, Wunder, Visionen, abergläubische Vorstellungen, die die Aufklärung verabschiedet hatte, um mit modernsten ästhetischen Mitteln die Brisanz gegenwärtiger Vergangenheit und vergangener Gegenwart in Wunschprojektionen und Obsessionen, Begehren und Fühlen aufzudecken. Die Schmierenelemente der Trivialromantik werden mit modernsten Tabus, mit Magie, Aberglauben, Blasphemie und Sexualität aufgeladen, um einen gesellschaftlichen Skandal zu inszenieren. Oder ist es etwa kein Skandal, wenn ein Kaiser anonym einer ihm unbekannten ehrbaren Bürgersfrau aus einer Reichsstadt ein Kind macht, ohne sich je wieder darum zu kümmern, und dieses wohlerzogene, begüterte, einem angesehenen Bürgerssohn schon versprochene Kind läuft dann, „funfzehn Jahre alt“, also minderjährig, von zu Hause weg, um einem Adligen, hündisch, knechtisch, als eine „Schamvergessene“, wie eine Figur im Drama formuliert, zu folgen? Die Dramatisierung dieses Skandalons ist ein ästhetisches Experiment.

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24. Mai 2005

Gerhard Lauer:
Klassik als Epoche - revisited Ein Beitrag zur Systematik des Epochenbegriffs

Literatur lässt sich nicht ohne Geschichte denken, und keine Form geschichtlichen Denkens kommt ohne Klassifikationen aus. Das hat mit der Bedeutung von Literatur zu tun. Wer einen Text liest, der identifiziert Zeichen als Zeichen und ordnet ihnen damit Bedeutung zu. Man nimmt an, jemand habe die Zeichen in einer kommunikativen Absicht gebraucht. Um diese uns verständlich zu machen, gebrauchen wir Inferenzen, d.h. Schlussfolgerungsverfahren, die auf unterschiedliche Ordnungen unseres Wissens zurückgreifen. Wir können Dinge mit Worten machen, weil Sprecher wie Hörer über ein gemeinsames Wissen verfügen, wie Zeichen kommuniziert werden können. Das Lesen literarischer Texte setzt sich aus solchen unterschiedlich stabilen Wissensordnungen zusammen. Dazu gehören Wahrnehmungsmuster etwa bei der Personenerkennung bzw. -bewertung, kulturelle Wissensbestände, beispielsweise um die Wirklichkeit einer ständisch gegliederten Gesellschaft, dann auch spezielles Literaturwissen über Gattungen bis hin zu einem gruppengebundenen Wissen um die Geltung bestimmter ästhetischer Anschauungen.

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24. Mai 2005

Steffi Roettgen:
Winckelmann, Mengs und die deutsche Kunst

Seinem Hauptwerk, der Geschichte der Kunst des Alterthums, setzte Winckelmann als Widmung voran: »Diese Geschichte der Kunst weihe ich der Kunst, und der Zeit, und besonders meinem Freunde, Herrn Anton Raphael Mengs. Rom, im Julius 1763.« Hierin die übliche Widmung eines Buches über die Kunst an den Künstler zu sehen, verbietet sich schon deshalb, weil an einer wichtigen Stelle des Werkes ein Satz steht, der wegen seiner allzu dick aufgetragenen Lobrederei auffällt: »Der Inbegriff aller beschriebenen Schönheiten in den Figuren der Alten findet sich in den unsterblichen Werken Herrn Anton Raphael Mengs, ersten Hofmalers der Könige von Spanien und Polen, des größten Künstlers seiner und vielleicht auch der folgenden Zeit. Er ist als ein Phönix gleichsam aus der Asche des ersten Raphaels erweckt worden, um der Welt in der Kunst die Schönheit zu lehren und den höchsten Flug menschlicher Kräfte in derselben zu erreichen ...“. Wie ist diese erstaunliche Aussage zu verstehen? Was hat es mit der Metapher des Phönix auf sich? In welchem Verhältnis steht Winckelmann zu Mengs? Diese und verwandte Fragen stehen im Zentrum des Aufsatzes.

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23. Mai 2005

Friederike Klippel:
Christian Friedrich Falkmann: ein Fremdsprachendidaktiker des frühen 19. Jahrhunderts

Mehr als vierzig Jahre vor der neusprachlichen Reformbewegung, die eine große Anzahl von Schriften hervorbrachte, in denen Fremdsprachenlehrer ihre eigene Unterrichtspraxis reflektiert darstellten, schuf Christian Friedrich Falkmann (1782 bis 1844) als Resultat seines langjährigen Fremdsprachenunterrichts eine fertigkeitsorientierte neusprachliche Methodik. Hauptkennzeichen seines Ansatzes ist die klare Ausrichtung auf das angestrebte Lehrziel: nämlich die rezeptive und produktive Beherrschung einer lebenden Fremdsprache; dazu gehört eine umfassende Unterweisung in Aussprache und Intonation sowie in der Lexik. Als weitere Merkmale stechen Progression und Vielfalt der empfohlenen Unterrichtsverfahren hervor. Der Vergleich mit den methodisch-didaktischen Schriften von Carl W. Mager zeigt, daß Falkmann die modernen Fremdsprachen stärker als nützliche Realfächer unterrichten möchte und sich über die Inhalte und das zu vermittelnde grammatische Wissen, also über den philologischen Aspekt, mit dem Mager sich ausführlich beschäftigt, kaum äußert. Insbesondere Falkmanns Ausführungen zur methodischen Gestaltung des Fremdsprachenlernens zwingen uns dazu, Fehlurteile über das frühe 19. Jahrhundert als einer Zeit der am altsprachlichen Unterricht orientierten monotonen Grammatik-Übersetzungsmethode zu relativieren.

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23. Mai 2005

Gerhard Lauer:
Die Poesie beim Wort genommen.
Das ganz unwunderbare Leben des Dichters Gottfried August Bürger

Alle glücklichen Dichter gleichen einander, jeder unglückliche Dichter ist unglücklich auf seine Art. So ist man mit einer Formulierungsvariante Tolstois versucht zu sagen, wenn von jener besonderen Art des Unglücklichseins zu berichten ist, die sich in Göttingen vor mehr als zweieinhalb Jahrhunderten zugetragen hat. Wie wir es auch wenden, das geglückte Leben im Göttingen des 18. Jahrhunderts will nicht herauskommen bei der Geschichte, die hier zu erzählen ist, vielleicht aber etwas über das Glück der Fantasie. Wer sagt, poetisch unglücklich könne man auch im Moskau der Anna Karenina so gut als in Göttingen sein, hat so unrecht nicht. Aber die Geschichte, die hier zu erzählen ist, hat eben eine besondere Art, warum sich Dichtung, Leben und Liebe nicht so zusammen reimen wollen, wie wir das gewohntermaßen meinen. Das hat mit Göttingen im 18. Jahrhundert durchaus zu tun. Zu berichten ist von der ganz unwunderbaren Lebensreise eines Dichters im Göttingen des 18. Jahrhunderts, die fast geglückt wäre, dann von der „schönen Unordnung“, die im 18. Jahrhundert in die Poesie und in die Köpfe gekommen ist, schließlich von den wunderbaren Ausfahrten der Fantasie und ihren Folgen. Die Rede ist von dem Göttinger Kommilitonen, späteren Amtmann zu Gelliehausen, Landwirt auf Appenrode, Extraordinarius der Georgia-Augusta und dabei immer Dichter Gottfried August Bürger, geboren 1747 im abgelegenen Molmerswende im Ostharz, 1797 kaum 46 Jahre später zu Göttingen verstorben.

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19. Mai 2005

Gerhard Kölsch:
"Königsleutnant" Thoranc als Hausgast am Frankfurter Hirschgraben und als Auftraggeber Frankfurter Maler der Goethezeit

Die Figur des französischen „Königsleutnants“ Thoranc ist durch Goethes Schilderung in „Dichtung und Wahrheit“ bekannt. Er spielte eine führende Rolle bei der französischen Besatzung der Stadt Frankfurt seit 1759 und trat als Hausgast der Familie Goethe am Großen Hirschgraben sowie als Auftraggeber der Frankfurter Maler jener Zeit hervor. Seine Person kann in verschiedener Hinsicht interessieren: Zunächst steht Thoranc für die frühe Begegnung des jungen Goethe mit der französischen Kultur. Ferner sind der Plan des Königsleutnants, das Haus seines Bruders mit Gemälden auszustatten und der daraufhin erteilte, sehr umfas­sende Auftrag an die in Frankfurt ansässigen Künstler nicht nur als Detail der Frankfurter Kunst­geschichte bemerkenswert. Wenn Goethe die Arbeiten der Frankfurter Maler so ausführlich in „Dichtung und Wahrheit“ schildert, so ist dies auf das lebhafte Interesse zurückzuführen, mit dem er als Knabe eben diesen Auftrag verfolgte. Anders formuliert: die für Thoranc ausge­führten Gemälde entstanden mehr oder weniger direkt unter Goethes Augen. Durch den späteren, unwiederbring­lichen Verkauf der väterlichen Kunstsammlung wurden die Gemälde des Grafen Thoranc zu einer primären Quelle, um Kunstkenntnis und die ästhetische Erfahrung des heranwachsenden Dichters werkgetreu zu rekonstruieren.

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08. Mai 2005

Gerhard Lauer:
Der "rothe Sattel der Armuth". Talmudische Gelehrsamkeit oder die Grenzen der poetischen Technik bei Bettine von Arnim. 

In einem mit Bettine von Arnims eigener Hand überschriebenen Konvolut „Auf der Trausnitz bei Landshut 1810 An Goethe“ wird eine Fantasie der guten Regierung entworfen. Erzählt wird von einer romantisch gesteigerten Herrschaft der Aufklärung, einer Erziehung des Menschengeschlechts. Diese könne sich nirgends so entfalten als an den Menschen, denen Bildung vorenthalten wurde: den Juden. Der Entwurf beruft sich für seine Legitimation auf ein rätselhaftes Bild vom „rothen Sattel der Armuth“, von dem die Autorin behauptet, es sei dem Talmud entnommen. Der Aufsatz gibt in einem ersten Abschnitt eine Übersicht über die Thematisierung des Judentums im Werk Bettine von Arnims. In einem zweiten Teil wird anhand der Aufschlüsselung der talmudischen Quellen für die zitierte Stelle Bettines literarischer Umgang mit der Situation der jüdischen Minderheit analysiert. Der dritte Abschnitt gibt eine Antwort auf die Frage, warum Bettine gerade die jüdische Emanzipation zu einem Problem der Literatur macht und nicht etwa zu einem Problem der Politik oder Gesellschaft.

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06. Mai 2005

Günter Oesterle:
Maskerade und Mystifikation im „Tiefurter Journal“:
Prinz August von Gotha – Johann Wolfgang Goethe – Jacob Michael Lenz

Die Herzoginwitwe Anna Amalia in Weimar hat mit der Gründung des „Tiefurter Journal“ 1781 die Tradition der höfischen Maskerade ins Literarische übertragen. Das Journal mit seiner handschriftlich in maximal 20 Exemplaren verbreiteten Auflage ist auf Exklusivität bedacht. Beabsichtigt ist eine kleine, künstlerisch und schriftstellerisch interessierte Gruppe von Adligen und Bürgern abzugrenzen gegen die Hofgesellschaft; zugleich soll allerdings innerhalb dieses Kreises eine möglichst hohe Urbanität und Liberalität zugelassen werden. Diese Doppelstrategie - größtmögliche Abdichtung nach Außen bei größtmöglicher Liberalität nach Innen - schuf eine kleine kurzlebige Utopie, auf die Goethe in der Folgezeit ein Leben lang sich beziehen sollte. Voraussetzung für diesen Freiraum nach Innen und nach Außen war das Ausnutzen aller Möglichkeiten und Schattierungen der Maskerade. Der These dieses Aufsatzes zufolge ist Goethe einer der raffiniertesten Vexierkünstler seiner Zeit. Goethes Poetik des „offenbaren Geheimnisses“ korrespondiert eine Kulturpoetik der Maskierung.

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05. Mai 2005

Günter Oesterle:
Romantische Ausgelassenheiten. Demonstriert an Clemens Brentano: Das Märchen von dem Dilldapp.

Es gibt etliche Berichte über den Ärger, den Zeitgenossen mit romantischen Schriftstellern hatten, weil diese nicht davon abließen, auch noch das Heiligste, Bedeutendste und allgemein Anerkannte zur Disposition zu stellen. Nimmt man die poetische Praxis in den Blick, insbesondere die satirisch-burlesk-grotesken Produkte von Arnim, Brentano, Görres und A. W. Schlegel, so erkennt man, wie der Tiefsinn der Romantik grundiert wird durch den „Schein des Verkehrten und Verrückten oder des Einfältigen und Dummen“ (Schlegel). Schon im Titel des von Brentano publizierten und überarbeiteten italienischen Märchens „von dem Dilldapp“ kommt die Blödigkeit anspielungsreich zum Ausdruck: Ein Dilldapp ist ein „alberner, läppischer, ungeschickter Mensch, der auf der Flur springt und tobt“ (Grimmsches Wörterbuch). Brentano lädt die Geschichte mit Versatzstücken aus anderen Texten und aktuellen Motiven auf, um auf burleske Weise die Genese des „deutschen Michels“ zu demonstrieren. Diese romantische Zurichtung dient dazu, einen poetologischen Kosmos von Auslassungen und Ausgelassenheiten aufzufächern. Er reicht vom exzessiven Prügeln und konvulsivischen Lachen bis zum qualvollen Umschneidern und Ändern von Dilldapps Schwester, einer Modepuppe.

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25. April 2005

Sabine Doff:
Weiblichkeit und Bildung: Ideengeschichtliche Grundlage für die Etablierung des höheren Mädchenschulwesens in Deutschland

Bei den um 1800 bereits weitgehend ausgeprägten ideengeschichtlichen Grundlagen, die für die Gestaltung des höheren Mädchenschulwesens in Deutschland im Verlauf des 19. Jahrhundert maßgebend werden sollten, handelt es sich um die dreifache weibliche Bestimmung durch die Philanthropen, die Geschlechterpolarität der deutschen Idealisten sowie radikal-emanzipatorische Ansätze bei Hippel und Wollstonecraft. Der Beitrag erläutert diese drei Leitbilder  und entwickelt auf dieser Grundlage folgende These: Die Verspätung der Institutionalisierung des deutschen höheren Mädchenschulwesens im Vergleich zum höheren Knabenschulwesen um 100 Jahre ist nicht auf mangelnde ideengeschichtliche Grundlagen zurückzuführen. Der Grund dafür ist vielmehr ein auch im internationalen Vergleich überwiegend rückschrittliches Frauenbild. Damit einher ging ein lange vorherrschendes Desinteresse von Seiten des Staates und der Öffentlichkeit an der höheren Mädchenbildung, das erst durch die Bildungsbestrebungen der deutschen Frauenbewegung im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts wirksam aufgebrochen werden konnte.

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18. April 2005

Bernd Hamacher:
»Darf ichs mir deuten, wie es mir gefällt?«
25 Jahre Homburg-Forschung zwischen Rehistorisierung und Dekonstruktion (1973-1998)

Um einerseits die Perpetuierung von Irrtümern zu vermeiden und andererseits die sachlichen Erträge verschiedenster Untersuchungen nicht wieder verloren zu geben, ist eine doppelte Verfahrensweise angezeigt: dort die immer wieder erneute kritische Bemühung um den Wortlaut, hier der möglichst vollständige Überblick über die Forschung. Bewußte oder fahrlässige Blickverengung kann zwar im Einzelfall zu produktivem Perspektivenwechsel führen, mündet jedoch häufig genug bloß in Einseitigkeiten oder Ungereimtheiten der Interpretation. In diesem Sinne möchte der vorliegende Versuch als Einladung verstanden werden, gleich den Figuren des Dramas einen Hügel zu besteigen, um die Perspektive zu erweitern. Einen besseren Überblick zu gewinnen mag als Therapie nicht nur für einen zerstreuten Heerführer, sondern auch für die einen oder anderen Leserinnen und Leser von Kleists Drama und seinen Interpretationen nützlich sein.

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27. Februar 2005

Gunter E. Grimm:
Botschaften der Einsamkeit. Briefe Lessings aus Wolfenbüttel

Briefe sind Zeugnisse der Kommunikation. Sie ersetzen oft das fehlende Gespräch. Lessings Briefe aus Wolfenbüttel sind Botschaften aus der Einsamkeit. Fast ist man versucht, nicht nur die konventionellen Briefe als solche Botschaften, als Versuche zu interpretieren, den "gänzlichen Mangel an Umgang" zu kompensieren, sondern alle Schriften, die Lessing in der Wolfenbütteler Zeit verfasst hat, als Briefbotschaften an die Öffentlichkeit zu deuten. Hat sein Wolfenbütteler Schicksal ihn nicht selbst in die missachtete Riege der hypochondrischen Gelehrten gedrängt, gleichsam gegen seinen Willen? War ihm die Ehe auch ein Remedium gegen die Einsamkeit? Sind die späten Wolfenbütteler Kämpfe nicht auch Versuche, Öffentlichkeit zu erzwingen, um nicht völlig der Sprachlosigkeit anheim zu fallen? Und fand er nicht - paradoxerweise - über Religionsprobleme wieder zum lebendigen Gespräch? Besser ein belebender Streit als lebendiges Begraben-Sein!

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27. Februar 2005

Wolfgang Bunzel:
"Das ist eine heillose Manier, dieses Fragmente-Auftischen". Die Vorabdrucke einzelner Abschnitte aus Goethes 'Wanderjahren' in Cottas 'Taschenbuch für Damen'

Goethe ließ einzelne Partien seines in Entstehung befindlichen Romans Wilhelm Meisters Wanderjahre (1. Fassung: 1821) über einen Zeitraum von über zehn Jahre hinweg im Taschenbuch für Damen seines Verlegers Cotta vorabdrucken. Diese Vorabdrucke waren Bestandteil einer gezielten Publikationsstrategie zur Gewinnung der Leser. Durch eine minutiöse Rekonstruktion der Veröffentlichungsgeschichte läßt sich zeigen, wie der Autor auf dem Weg einer geschickten publizistischen Lesersteuerung versucht, das Interesse an seinem Roman bleibend wachzuhalten. Zugleich wird der Nachweis erbracht, daß Goethe die Wanderjahre nicht – wie die Forschung lange Zeit annahm – nachträglich aus den Almanachdrucken zusammengestellt, sondern daß er im Gegenteil die Beiträge für das Taschenbuch für Damen jeweils aus dem im Entstehen begriffenen Romankomplex ausgekoppelt und im Hinblick auf dessen baldiges Erscheinen vorab veröffentlicht hat.

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21. Februar 2005

Wolfgang Bunzel:
Publizistische Poetik. Goethes Veröffentlichungen in Almanachen und Taschenbüchern

Der Beitrag liefert einen Abriß über Goethes Veröffentlichungen in Musenalmanachen und literarischen Taschenbüchern und rekonstruiert dabei einen bislang weitgehend übersehenen Aspekt von Goethes Poetik. Dabei zeigt sich, daß der Autor von Anfang an darauf bedacht war, nicht nur die generelle Verfügungsgewalt über seine Werke in der Hand zu behalten, sondern auch die Umstände (Zeit, Ort, publizistisches Umfeld, bis hin zu Satzspiegel und Typographie) ihrer Publikation so weit wie möglich zu bestimmen. Er suchte sich jeweils gezielt diejenigen Organe zur Veröffentlichung aus, die seinen Zielen weitgehend entsprachen und machte sie sich derart geschickt dienstbar, daß man von einem regelrecht strategischen Publikationsverhalten sprechen muß. Durch die Verlängerung der dichterischen Aussage in den Bereich der – gelenkten – Veröffentlichung hinein, amalgamieren sich Poetik und Publikation in bisher ungekannter Form.

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21. Februar 2005

Gunter E. Grimm:
Argumentation und Schreibstrategie. Zum Vulkanismus-Diskurs im Werk von Ehrenfried Walther von Tschirnhaus.

Die Begründung der modernen Naturwissenschaft erfolgte aus dem Geiste der Mathematik und der Physik. Descartes und seine Schüler entwickelten das mathematische Schlussfolgerungsverfahren, Bacon und die englische Philosophie betonten dagegen den Wert der Beobachtung und der Empirie. Als ein Repräsentant dieser modernen Tendenzen kann Graf Ehrenfried Walther von Tschirnhaus (1651-1708) gelten, auf den die Verbindung von Beobachtung und logischer Schlussfolgerung als methodisches Vorgehen in der Vulkanologie zurückgeht. Die Novität seiner Erkenntnismethode wird vor dem Hintergrund der Geschichte der Vulkanologie seit der Antike dargestellt. Die Vulkanologie von Tschirnhaus verdeutlicht den prinzipiellen Unterschied, der zwischen den Erklärungsweisen der Humanisten und des ‘Realisten’ Tschirnhaus besteht, und sie dokumentiert die inhaltliche Verschiebung innerhalb der Sachgelehrsamkeit. Der Beitrag führt somit in die Geschichte des Vulkanismus-Diskurses ein, an dem später auch Goethe teilhatte.

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21. Februar 2005

Bernd Hamacher:
„Der unvermeidliche Goethe“: Alexander Lernet-Holenias „Der wahre Werther“ im Kontext der neueren „Werther“-Rezeption

Lernet-Holenias „Wahrer Werther“ (1959) ist eine Montage: Der größte Teil des Buches besteht aus einer Wiedergabe der 1774 anonym erschienenen ersten Fassung von Goethes »Leiden des jungen Werthers«. Vorangestellt ist eine aus Heinrich Gloëls Buch »Goethes Wetzlarer Zeit« (1911) kompilierte Einleitung, in der die stofflich-biographischen Hintergründe des Romans aus Goethes Wetzlarer Zeit erzählt werden. Die Montage belegt, dass die Gegenreaktion gegen den „Werther“ auch in der Mitte des 20. Jahrhunderts noch nicht verstummt ist. Nicht Entgrenzung, nicht Formulierung eines Unbedingtheitswillens – wie im »Werther« –, nein: Ordnung und Begrenzung ist Lernet-Holenias nicht nur poetisches Programm. Die »Brandraketen«, die Goethe noch 1824 im »Werther« fürchtete, bei Lernet-Holenia dürfen sie nicht zünden, sondern werden entschärft.

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10. Februar 2005

Wolfgang Bunzel:
Das gelähmte Genie. Versuch einer Deutung von Goethes Gedicht Der Adler und die Taube (1772/73)

Das im Jahrgang 1774 des Göttinger “Musenalmanachs” erstmals erschienene Gedicht “Der Adler und die Taube” nimmt aufgrund seiner fabelähnlichen Struktur eine Sonderstellung in Goethes Sturm-und-Drang-Lyrik ein. Im Unterschied zu fast allen übrigen Texten aus diesem Zeitraum steht hier eine überschaubar wirkende gleichnishafte Situation im Mittelpunkt. Mit dem Bild von Adler und Taube greift Goethe eine Metaphorik auf, die zum einen verschiedene Lebensformen bezeichnet, zum anderen aber auch einander entgegen gesetzte Arten von Dichtung markiert. Das Gedicht reflektiert die Möglichkeit einer Nachahmung der erhabenen, dithyrambischen Stillage eines Pindar unter den Bedingungen der Moderne und kommt zu dem Ergebnis, dass die Voraussetzungen für eine entsprechende Dichtart nicht (mehr) gegeben sind. So spiegelt sich im Bild des angeschossenen, flugunfähigen Adlers der quälende Zwischenzustand des gelähmten Genies.

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07. Februar 2005

Frank Holl:
Alexander von Humboldt - „Geschichtsschreiber der Kolonien”

In zahlreichen Passagen seiner Reisetagebücher aus den spanischen Kolonien beschreibt Alexander von Humboldt das durch den Kolonialismus begangene Unrecht. Wie kam es zu dieser Kritik und auf welche Kritikpunkte - etwa die Willkürherrschaft der Missionsmönche, die Verschleppung der Sklaven aus Afrika nach Amerika - konzentriert sich der Forschungsreisende? Wie unterscheiden sich die offiziellen, gedruckten Äußerungen von den privaten Aufzeichnungen? Wie stand Humboldt zur Unabhängigkeitsbewegung? Diese Fragen stehen im Zentrum des Aufsatzes, der Humboldt mit zahlreichen Zitate selbst zum Sprechen bringt. Dabei wird die „Relation historique“ (1814-1831) als politischer Kommentar zur Geschichte der Unabhängigkeitsbewegung gelesen.
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06. Februar 2005

Thorsten Valk:
Der Dichter als Erlöser. Poetischer Messianismus in einem späten Gedicht des Novalis

Das Gedicht ›Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren‹ gehört in den Kontext des ›Heinrich von Ofterdingen‹ und ist vermutlich in den Sommermonaten des Jahres 1800 entstanden. Wie ein Brennglas bündelt es die geschichtsphilosophischen und dichtungstheoretischen Reflexionen des Novalis: Es schildert den sich stufenweise vollziehenden Anbruch des goldenen Zeitalters und exponiert dabei die soteriologische Funktion der Poesie, die das Übergangsgeschehen initiiert und seinem utopischen Zielpunkt entgegentreibt.

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01. Februar 2005

Reinhard Markner:
Imakoromazypziloniakus. Mirabeau und der Niedergang der Berliner Rosenkreuzerei

Zwei vielbeachtete Enthüllungsschriften brachten 1787–89 die Politik des preußischen Königs Friedrich Wilhelm II. in Zusammenhang mit rosenkreuzerischen Umtrieben in Berlin: die „Histoire secrete de la cour de Berlin“ des Grafen Mirabeau und die „Geheimen Briefe über die Preußische Staatsverfassung“, welche einem Freiherrn von Borcke zugeschrieben wurden, der zuvor als Verteidiger des friderizianischen Tabakmonopols aufgetreten war. Diese Zuschreibung hält Reinhard Markner für ebenso fragwürdig wie die Vorstellung, dass die Gold- und Rosenkreuzer seinerzeit in Preußen die Macht übernommen hätten.

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29. Januar 2005

Claudia Öhlschläger:
„Kunstgriffe“ oder Poiesis der Mortifikation. Zur Aporie des „erfüllten“ Augenblicks in Goethes Wahlverwandtschaften.

Dieser Beitrag zu Goethes "Wahlverwandtschaften" geht von der Prämisse aus, dass dem Roman ein ausgeklügeltes System szenischer, bildlicher und narrativer Rahmungen zugrunde liegt. Im Mittelpunkt der Überlegungen stehen die Tableaux vivants, die als in Szene gesetzte Ein-Bildungen Umgruppierungen der auf der Handlungsebene entworfenen Konfigurationen von Handeln, Lieben und Wissen vornehmen. Der Fokus der Argumentation richtet sich auf die selbstreflexive Funktion dieser ‚lebenden Bilder’: in ihnen spiegelt und reflektiert sich der mediale Zuschnitt der Zeichen, aus denen sich die Begehrens- und Wissensordnungen des Romans konstituieren. Obwohl die Tableaux vivants den "erfüllten Augenblick" in der Stillstellung der Zeit zu verwirklichen vorgeben, überantworten sie diesen doch einer Repräsentationslogik der Mortifikation.

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29. Januar 2005

Claudia Öhlschläger:
Die Macht der Bilder. Zur Poetologie des Imaginären in Joseph von Eichendorffs Die Zauberei im Herbste

Dieser Beitrag verhandelt die poetische Bildlichkeit in Eichendorffs Märchennovelle "Die Zauberei im Herbste". Dabei werden verschiedene Ebenen der Bildlichkeit voneinander unterschieden. Zum einen die Ebene einer rhetorischen Bildlichkeit, die sich in dem erfüllt, was Theodor W. Adorno mit antiökonomische Entgrenzung umschrieben hat. Als ‚zweite Natur’ eröffnet Eichendorffs Sprache eine Dimension des Sinnlichen, die sich aus der Gegenüberstellung stereotypisierter Bildelemente ergibt. Neben dieser rhetorischen Ebene lässt sich eine Ebene der bildlichen Textur ausmachen, die einmal zur bildererzeugenden Tätigkeit des Unbewussten der agierenden Personen ins Verhältnis gesetzt und schließlich in einem poetologischen Ausgriff auf die Selbstreflexivität romantischer Kunstproduktion bezogen wird.

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28. Januar 2005

Franziska Schössler:
Die Resurrektion des Dichterkönigs – Zur Novalis-Rezeption in Botho Strauß' Roman Der junge Mann

Auf welche Weise vollzieht sich der Prozeß einer Rechtswendung im Werk von Botho Strauß'? Wie ist die problematische Poetik des Essays Anschwellender Bocksgesang entstanden und wo sind die Wurzeln dieses Programms zu finden? Über diese Fragen gibt der große Roman der 80er Jahre, Der junge Mann, Aufschluß. In dem dichten intertextuellen Gefüge wird vor allem über die Anspielungen auf Novalis eine Poetik entworfen, die den desavouierten Begriff des Bodens im Namen einer unzugänglichen dichterischen "Pflanzstätte" und eines königlichen Dichters wiederzugewinnen sucht, einer "Pflanzstätte", in der auch das Zwiegespräch und die Liebe ihren Schutzraum finden sollen.

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20. Januar 2005

Anil Bhatti:
Iqbal and Goethe. A Note

The recourse to Goethe plays an important role in the work of Mohammad Iqbal (1873-1938), one of the few important writers from the Indian subcontinent who knew German literature. Iqbal situates his own writing in the context of western colonial expansion and the corresponding world-historical loss of power of Islam in the East. The recourse to Goethe becomes an import reference point in his work. It enables him to stylise himself as a Messenger of the East in reply to Goethe as a representative of the West. By establishing a comparative cultural constellation with his German predecessor Iqbal affirms a cultural position consisting of a mode of historical complaint and cultural revival.

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15. Januar 2005

Gunter E. Grimm:
„Der Kranz des Patrioten“. Nachahmungspraxis und Originalitätsideal bei Herder

"Goethe und Schiller haben Herder vorgeworfen, er stelle das Kunstwerk unter die Vorherrschaft der Moral. In der Tat begegnen in Herders Denken ästhetische und ethische Motive, freilich nicht in disjunktiver, eher in komplementierender Funktion. Auch der junge Herder kann nicht als Vertreter einer rein ästhetischen Richtung gelten. Sein Programm einer >Volksdichtung< dient nationalen Zielen und fördert die Entwicklung einer eigengearteten deutschen Dichtkunst in bewußter Absetzung von Nachbarliteraturen. Die Doktrin der Originalität fungiert als Instrument einer nationalen Argumentation. Der ältere Herder entwickelt dieses nationale, einem Nachholbedürfnis entsprungene Identitätsideal weiter zu einem menschheitlichen Freiheitsideal. Der Gegner heißt nicht mehr Rom oder Frankreich, sondern Absolutismus und Unterdrückung. Originalität und Nachahmung erhalten eine Komplementärfunktion: Alles, was der Emanzipation der Menschheit aus feudalistischen Zwängen dient, ist wert, übernommen und nachgeahmt zu werden."

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13. Januar 2005

Thorsten Valk:
Das dunkle Licht der Dichtung. Zur Kunst des Erinnerns in Friedrich Hölderlins Hymne Andenken.

Obwohl Hölderlins späte Hymnen kein homogenes Dichterbild fixieren, das Amt des Poe­ten viel­mehr auf immer neue Weise zu deuten versuchen, lassen sich einige Konstanten aus­machen: Wie schon die pro­gram­­matischen Titel der beiden letzten Hymnen ›Andenken‹ und ›Mnemosyne‹ be­legen, kehrt der Gedanke eines Gedächtnisses im Medium der Poesie mehrfach wie­der. Als Leit­ka­tegorie ist die Erinnerung zwar in allen Schaffensphasen Hölderlins präsent, doch erst in der spä­ten Hym­nen­dichtung wächst ihr ei­ne spezifisch poetologische Bedeutung zu. Die Schluß­gno­me von ›An­­denken‹ erklärt die Erin­nerung zur zentralen Aufgabe des Dich­ters, der mit seiner Kunst dem Ver­gäng­lichen der Welt ein Blei­bendes ent­gegenstellt. Indem das poetische Gedächt­nis die Grenzen der Zeit über­windet, stiftet es einen universalen Zusammen­hang, der al­les Ver­ein­zelte zu ei­ner spannungsvollen Ganzheit verknüpft.

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12. Januar 2005

Franziska Schössler:
Die Versöhnung von alter und neuer Zeit - Zur Novelle Wer ist der Verräter? aus Goethes Wilhelm Meisters Wanderjahre.

Der Altersroman Goethes „Die Wanderjahre“ geht dem Verhältnis von Vergangenheit und Gegenwart, den Möglichkeiten der Erinnerung wie denen der Mitteilung nach. Die eingeschobene Novelle „Wer ist der Verräter?“ ist aus zweierlei Gründen für Goethes Versuch, das Verhältnis von alter und neuer Zeit auszuloten, relevant. In der lustspielhaften Handlung versöhnen sich nicht nur Vater und Sohn, sondern auch Julie und Lucidor, die, so die These des Aufsatzes, in nahezu allegorischer Manier den Epochen der Mobilität und der Seßhaftigkeit zugeordnet sind. Am Schluß finden die beiden Antagonisten, die mobile Julie und der gemächliche Lucidor zu einem problemlosen Gespräch; sie reichen sich die Hand. Dieses happy-end wird darüber hinaus durch mythologische Anspielungen vorbereitet, die ein zyklisches Zeitmuster heraufbeschwören. Die Kommunikation zwischen den Epochen wird möglich, weil Zeit als Naturzeit, als Zyklus erscheint, weil Mythos Gegenwart wird. Überlieferung als Vergegenwärtigung des Mythos und Mitteilung als Kommunikation der Epochen greifen hier ineinander in einem märchenhaften Gelingen. 

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11. Januar 2005

Gunter E. Grimm:
Das Mädchen von Esslingen. Wandlungen einer Sage

Bei den alljährlichen Fastnachtsumzügen der Stadt Esslingen reitet unter den die Vergangenheit repräsentierenden Figuren auch eine schwarzgelockte Gestalt in Generalsuniform, mit Federhut und Stulpenstiefeln. Sie stellt Ezéchiel Graf von Mélac dar, einen der im südwestlichen Deutschland gefürchtetsten Generale Ludwigs XIV. Um diese Gestalt hat sich im Laufe der Zeit eine Legende gebildet, die sich zu einer fest umrissenen Sage verdichtet hat. Während des 18. und 19. Jahrhunderts hat die Sage vom Mädchen von Esslingen verschiedene literarische Adaptionen erhalten. Der Beitrag zeigt auf, in welchem Maße die Entstehung der Sage und ihr literarisches Fortleben unabhängig von der historischen Realität, und in welchem Grade ihre Ausprägungen den jeweils herrschenden Ideologien unterworfen waren.

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10. Januar 2005

Franziska Schössler:
Aufbrechende Geschlechterrivalitäten und die "Verzwergung" der Frau – Zu Goethes Märchen Die neue Melusine

Am Märchen „Die neue Melusine“, das Goethe den „Wanderjahren“ eingefügt hat, wird der zentrale Paradigmenwechsel in der Geschlechterkonzeption um 1800 abgelesen: die Intimisierung des Hauses, d.h. der „Verschluß der Frau in den Festen des Hauses“, zusammen mit der Universalisierung und Biologisierung der Geschlechterdifferenz. Dieser Paradigmenwechsel wird aus medizingeschichtlicher Perspektive verdeutlicht: „Das Märchen Goethes reflektiert die Ablösung weiblichen medizinischen Wissens durch den sich professionalisierenden Einheitsstand der männlichen Ärzte.“ Des weiteren läßt sich das Märchen als „Dekonstruktion einer romantischen Literatur verstehen, die die neue Rolle der Mutter im intimen Raum, ihr Verschwinden im Haus, mit einem Arsenal an phantastischen Überhöhungen beantwortet“.

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09. Januar 2005

Gunter E. Grimm:
„Elektronische Hirne“. Zur literarischen Genese des Androiden

Der Beitrag gibt einen Überblick über die Maschinenmenschen von der Antike bis heute. Dabei zeichnet er die Stufen von der Mechanisierung über die Elektrifizierung bis zur Elektronisierung nach. Der Autor geht besonders auf literarische Texte (E.T.A. Hoffmann, Villiers de l'Isle Adam, Lawrence Durrell), aber auch auf die Oper (Hoffmanns Erzählungen) und den Film (Metropolis) ein.

"Der Wunsch, einen Menschen selbst zu schaffen, ist wie der Wunsch zu fliegen, ein archetypischer Traum der Menschheit. Während aber der Flugwunsch geschlechtsunabhängig ist, scheint der Wunsch nach Menschenschöpfung spezifisch männlich zu sein. Männer sublimieren ihr organisches Defizit. Frauen können gebären, Männer nur in ihren Fantasien oder auf dem Umweg über die Technik."

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04. Januar 2005

Diana Stört:
„...aus Herz und Hand des Freundes“ – Untersuchungen zu Form und Funktion der handschriftlichen Widmung im 18. Jahrhundert am Beispiel der Gleimbibliothek zu Halberstadt

Erstmals werden in dieser Studie die handschriftlichen Widmungen, die sich in den umfangreichen und noch heute existierenden Beständen der Büchersammlung des Dichters Johann Wilhelm Ludwig Gleim (1719-1803) befinden, einer systematischen Analyse unterzogen. Bevor die Detailuntersuchung der handschriftlichen Widmungen in Gleims Bibliothek einsetzt, definiert die Verf., was sie unter der literaturwissenschaftlichen Textsorte “Widmung“ versteht und gibt eine Präzisierung der zentralen Kategorie ihrer Untersuchung, dem nur unter sozialethischen Aspekten zu erfassendem Phänomen der Freundschaft. Von der sicheren Basis dieser beiden Grundsatzkapitel aus nimmt die Autorin nun die Analyse ihres eigentlichen Untersuchungsgegenstandes vor. Zusammen mit den Passagen über den rituellen Charakter des Widmens bildet dieser Teil der Untersuchung den Kern der Arbeit. Einen wesentlichen Beitrag zur Forschung liefert der Katalog der Gleim zugeeigneten Werke und Widmungstexte.

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Das Fach- und Kulturportal der Goethezeit