goethe


Dieter Borchmeyer
»DuMont Schnellkurs Goethe«

Am Großen Hirschgraben:
Frankfurter Kindheits- und Jugendjahre
(1749-1765)

Goethes Geburtshaus Im Großen Hirschgraben in Frankfurt

 

Frankfurt

 Am 28sten August 1749, mittags mit dem Glockenschlag zwölf,
kam ich in Frankfurt am Main auf die Welt.

So beginnt das Erste Buch von Goethes Lebensbeschreibung Dichtung und Wahrheit (1811). Doch in diesem trockenen chronikalischen Stil fährt der Autobiograph nicht fort, sondern mit ironisch-parodistischen Untertönen beschreibt er sein Geburtshoroskop. Die Sterne meinten es gut mit ihm, so daß er trotz der Ungeschicklichkeit der Hebamme, derzufolge er „für tot“ auf die Welt kam - also vermutlich wegen Sauerstoffmangels kein Lebenszeichen von sich gab -, der Welt zu ihrem Glück erhalten blieb.

Blick in Goethes Geburtszimmer im Zweiten Stock

 

Familie Goethe

 Vom Vater hab ich die Statur,
Des Lebens ernstes Führen,
Vom Mütterchen die Frohnatur
Und Lust zu fabulieren.

Johann Conrad Seekatz, Die Familie Goethe im Schäferkostüm (1762). Quelle: biblintSo lauten die berühmten Verse Goethes über seine Eltern (Zahme Xenien VI). Stammte seine Mutter Catharina Elisabeth aus der alteingesessenen und zu höchsten städtischen Würden aufgestiegenen fränkischen Juristenfamilie Textor – ihr Vater hatte als Schultheiß und Stellvertreter des Kaisers in der reichsunmittelbaren Stadt das höchste Amt im Magistrat inne -, so war der Vater Johann Caspar der Sohn eines aus dem Thüringischen eingewanderten Modeschneiders, der es durch seine weibliche Kundschaft in der Frankfurter Hautevolee zu beträchtlichem Vermögen brachte, das sich noch vermehrte, als er aufgrund seiner zweiten Ehe mit einer begüterten Gastwirtin den Beruf wechselte und sich zum Gastronomen und Weinhändler mauserte. Das reiche Erbe, das er seinem Sohn hinterließ, ermöglichte diesem sein sorgenfreies Leben als Privatier und enthob auch seinen Enkel allen materiellen Nöten.

Johann Caspar studierte auf Weisung des gesellschaftlich ambitionierten Vaters Jura und wurde in Gießen zum Dr. jur. promoviert. 1740 unternahm er eine zweijährige Kavalierstour durch Italien, die er gut zwanzig Jahre später in seinem italienischen Reisebericht Viaggio in Italia nachzeichnete. Hier – und durch seine Sammlung italienischer Stiche, welche die Phantasie seines Sohnes im Elternhaus am Großen Hirschgraben von früher Kindheit an beschäftigten - war der Keim gelegt zur Italien-Faszination seines Sohnes, dessen eigener Italienischer Reise. Von Kaiser Karl VII. erwarb er 1742 den Titel eines „Würcklichen Kayserlichen Raths“ ohne Amt.

Die Bibliothek des VatersBereits mit 32 Jahren zog Johann Caspar sich ins Privatleben zurück und widmete sich seinen umfangreichen Sammlungen von Kunstwerken und Naturalien – auch diese Sammelleidenschaft sollte Goethe mit seinem Vater verbinden – und seiner fast 2000 Bände umfassenden Bibliothek. Für sie schuf er 1755 durch einen aufwendigen modernisierenden Umbau des von der Mutter geerbten dunkel-verwinkelten Bürgerhauses am alten Stadtgraben das gebührende räumliche Ambiente. Die Sammlungen und die Bibliothek bildeten auch die Materialbasis für die Erziehung seiner Kinder, die er nicht den öffentlichen Bildungseinrichtungen überlassen wollte. Er übernahm selber ihren Unterricht, allerdings unterstützt durch mehrere Hauslehrer.

War Goethes Vater von ernsthaft-strenger, melancholisch eingeschwärzter Gemütsart, so seine Mutter eine überschäumend lebens- und fabulierlustige Frau, welche ihren Mann um 26 Jahre überlebte. Sie nahm stolz Anteil am Weimarer Aufstieg ihres Sohnes und war das Vergnügen der von seinem Dichterruhm in ihr Haus gelockten Freundes- und Bekanntenkreis, zumal der jungen romantischen Generation (Bettina Brentano), die von den Anekdoten der „Frau Aja“, wie sie schon seit 1774 scherzhaft genannt wurde,  gar nicht genug bekommen konnten. Von den fünf Geschwistern Goethes überlebte nur seine Schwester Cornelia das frühe Kindesalter.

Die Verbindung mit seiner schon mit 26 Jahren verstorbenen Schwester war die engste menschliche Beziehung des jungen Goethe. Ihre Ehe mit Johann Georg Schlosser 1773 hat er eifersüchtig beobachtet, und sie selber wurde – wie ihr Mann, der sich stets im Liebesschatten des berühmten Bruders stehen sah - in dieser Ehe nie wirklich glücklich. Cornelia hatte mehr die Melancholie des Vaters als die Frohnatur der Mutter geerbt, eine gefühlsscheue unerotische Natur, vielleicht ein biographisches Urbild jener unsinnlich-ehescheuen Frauen, die in Goethes Werk mit den hocherotischen weiblichen Figuren auffallend kontrastieren: Eugenie in der Natürlichen Tochter und zumal die ganz und gar bruderbezogene, sich in der mythischen Geschwisterliebe zwischen Apollo und Artemis spiegelnde Iphigenie.

 

 

Goethes poetische Begabung

 

 Niemals glaubte ich, daß etwas zu erreichen wäre, immer dacht ich, ich hätt es schon. Man hätte mir eine Krone aufsetzen können und ich hätte gedacht, das verstehe sich von selbst. Und doch war ich gerade dadurch nur ein Mensch wie andre. Aber daß ich das über meine Kräfte Ergriffne durchzuarbeiten, das über mein Verdienst Erhaltne zu verdienen suchte, dadurch unterschied ich mich bloß von einem wahrhaft Wahnsinnigen. Erst war ich den Menschen unbequem durch meinen Irrtum, dann durch meinen Ernst. Ich mochte mich stellen wie ich wollte, so war ich allein.

(Selbstschilderung)

 

Johann Adam Kern: »Der junge Goethe« (1765)Die poetische Begabung Goethes zeigte sich früh. Die Bibellektüre der frommen, am kirchlichen Leben regelmäßig teilnehmenden Familie und die Begeisterung durch die ersten Gesänge von Klopstocks Epos Der Messias inspirierten ihn zu religiösen Gedichten, einem Josephsepos und dramatischen Versuchen unter dem Eindruck des französischen Theaters. Sie fielen jedoch fast sämtlich einem „Autodafé“ zum Opfer, das Goethe im Herbst 1767 am Herd seiner Leipziger Zimmerwirtin Straube inszenierte. Die eigentliche Laufbahn des Schriftstellers Goethe sollte erst mit den Leipziger Studienjahren beginnen. 

  

Zeitgeschichte

Die für die Kinder fast autarke Welt des Goetheschen Elternhauses blieb von den Ereignissen der Zeit nicht unberührt. 1755 erschütterte das Erdbeben von Lissabon das Gemüt und Gottvertrauen des streng lutherisch, mit bürgerlich-aufgeklärtem Einschlag von seiten des Vaters, pietistischer Färbung von seiten der Mutter, erzogenen Johann Wolfgang.

Für die größten Turbulenzen in Goethes Elternhaus aber sorgte der Siebenjährige Krieg 1756-1763. Nicht nur das Frankfurter Patriziat war in zwei Parteien gespalten, auch in der Familie Goethe bildeten sich Fraktionen: Dem kaisertreuen Großvater Textor stand sein Schwiegersohn als entschiedener Bewunderer Friedrichs des Großen gegenüber. Als die Franzosen am Neujahrstag 1759 Frankfurt besetzten und bis zum Ende des Krieges Quartier bezogen, mußte Johann Caspar Goethe einige Räume seines Hauses für den ranghöchsten französischen Offizier, den Stadtkommandanten Graf François de Thoranc räumen. Der hochgebildete Offizier suchte die Lebensgewohnheiten seiner unfreiwilligen Gastgeber so weit wie möglich zu schonen, er lud die Frankfurter Maler ins Haus, räumte ihnen ein Mansardenzimmer als Atelier ein und beauftragte sie mit Wandgemälden (ganzen vierhundert!) für sein Schloß im südfranzösischen Grasse, wo einige von ihnen noch heute hängen.

Nicht zuletzt auf Thoranc ist Goethes lebenslange Sympathie für den Typus des gebildeten Offiziers zurückzuführen. Der Hausherr aber blieb im Schmoll- und Grollwinkel, und es kam zu provozierenden Auftritten des cholerischen Vaters gegenüber dem weltläufigen Gast. Der junge Goethe verdankte Thoranc die erste eindringliche Begegnung mit französischer Kultur. Die im Troß der Soldaten mitgereiste französische Schauspieltruppe war Goethes fast tägliches Vergnügen. Hier lernte er die Tragödien von Corneille und Racine, die Komödien von Molière und Marivaux in authentischer Gestalt kennen.

 

 

Der Wandel des Goethe-Bildes

Zwischenfall ohne Folgen

„Goethe kann als Grundlage der Bildung eine ganze Kultur ersetzen“, schreibt Hugo von Hofmannsthal 1922 im Buch der Freunde, ja er behauptet: „Wir haben keine neuere Literatur. Wir haben Goethe und Ansätze.“ Das sind Aphorismen mit Widerhaken: einerseits wird Goethe eine absolute Stellung in der deutschen Kultur und Literatur eingeräumt, anderseits pessimistisch konstatiert, daß ohne ihn von einer deutschen Kultur und Literatur in Deutschland kaum die Rede sein kann, daß er allein, ohne ebenbürtige Nachfolge geblieben ist. „Goethe, nicht nur ein guter und großer Mensch, sondern eine Kultur, Goethe ist in der Geschichte der Deutschen ein Zwischenfall ohne Folgen: wer wäre imstande, in der deutschen Politik der letzten siebenzig Jahre zum Beispiel ein Stück Goethe aufzuzeigen!“ hat schon Friedrich Nietzsche 1878 in Menschliches, Allzumenschliches bemerkt. „Nur für wenige hat er gelebt und lebt er noch: für die meisten ist er nichts als eine Fanfare der Eitelkeit, welche man von Zeit zu Zeit über die deutsche Grenze hinüberbläst.“

Nur für wenige hat er gelebt. In der Tat hat Goethe in seinem Gespräch mit Eckermann vom 11. Oktober 1828 gestanden: „Meine Sachen können nicht populär werden; wer daran denkt und dafür strebt, ist in einem Irrtum. Sie sind nicht für die Masse geschrieben, sondern nur für einzelne Menschen, die etwas Ähnliches wollen und suchen, und die in ähnlichen Richtungen begriffen sind.“ So haben etwa Wilhelm Meisters Lehrjahre nie wirkliche Popularität erlangt, doch wurden sie für die ‘in ähnlicher Richtung begriffenen’ Frühromantiker zum poetologischen Erweckungserlebnis.

Welches Drama hätte seinerzeit freilich größere Popularität genossen als Götz, welcher Roman wäre mehr zum Modeereignis in ganz Europa geworden als Werther. Populär sind auch Faust I und vor allem Hermann und Dorothea geworden, ganz zu schweigen von Goethes Liedern (Heidenröslein) und seiner ‘Erlebnislyrik’. Freilich läßt sich nicht leugnen, daß ihm die eigene Popularität seines Jugendwerks, insbesondere des aus seiner Sicht allzu subjektiv-überspannten Werther, bald verdächtig wurde, ja daß er Wilhelm Meister geradezu als ‘Anti-Werther’ konzipierte. Das Publikum hat ihm das nicht gedankt und sich bis an die Schwelle unseres Jahrhunderts seinem Spätwerk verweigert.

 

1849: keine nationale Identifikationsfigur

Den historischen Tiefpunkt in der Wertschätzung Goethes hat ausgerechnet sein hundertster Geburtstag im Jahre 1849 gebildet, der mitten in den Wirbel des Revolutionsjahrs fiel. Kein Jubiläum konnte unzeitgemäßer, angesichts der aufgeregten politischen Zeitstimmung unpassender sein als die Säkularfeier des großen Antipoden der Revolution und der nationalen Emphase. Den denkbar größten Gegensatz zum Goethe-Jahr sollte das Schiller-Jubiläum zehn Jahre später bilden, das einen beispiellosen nationalen Rausch auslöste, in dem die Erinnerung an Goethe nahezu ertrank.

Nietzsche ist nicht der erste und nicht der letzte gewesen, der vom Mißverhältnis zwischen Goethe und den Deutschen überzeugt war. „Sie mögen mich nicht!“ hat Goethe selber im Gespräch mit Johannes Daniel Falk um 1808 über die Beziehung der Deutschen zu ihm bemerkt. Seine lakonische Replik: „Ich mag sie auch nicht!“ Aus derselben Zeit stammt der von Wilhelm von Humboldt in einem Brief an seine Frau Karoline vom 19. November 1808 mitgeteilte „Rat“ Goethes, „die Deutschen, wie die Juden, in alle Welt zu zerstreuen, nur auswärts seien sie noch erträglich“.

 

1871: Inthronisation als Olympier

Waren die Jahrzehnte zwischen 1832 und 1871 von einer relativen Goethe-Ferne geprägt, so wurde er vom neuen Kaiserreich sogleich als „Olympier“ inthronisiert: aus dem offenkundigen Bedürfnis heraus, ihn zum Kronzeugen der nationalen Identität der Deutschen zu gewinnen. Musterbeispiel dafür sind die im Hochgefühl der Siegernation und des Bismarckschen Einigungswerks gehaltenen Berliner Goethe-Vorlesungen von Herman Grimm, dem ältesten Sohn von Wilhelm Grimm, in den Jahren 1874 und 1875. In ihnen wird Goethe mit beispiellosem nationalem Pathos zum Genius des neuen Reichs erklärt. Die eigentliche germanistische Parallelaktion zur Reichsgründung wurde die im Auftrag der Großherzogin Sophie von Sachsen, der Erbin des Goetheschen Familienarchivs, herausgegebene „Weimarer Ausgabe“ von Goethes Gesamtwerk seit 1787, die mit ihren 143 Bänden in den Jahrzehnten ihres Entstehens alle Höhen und Tiefen des neuen Reichs miterlebte, bis zu seiner bitteren Niederlage. (Der letzte Band erschien 1919.) Zum nationalen Literaturheiligtum schlechthin wurde nun der wegen seines vermeintlich an Altersschwäche krankenden zweiten Teils lange mißachtete Faust.

Goethes Erhebung zur Ehre der nationalen Altäre mußte zumal Nietzsches europäisierendem Bild des Dichters widersprechen. Die Goethe-Ferne der Jahrzehnte vor der Reichsgründung war Nietzsche nur recht gewesen, lag ihm doch daran, Goethe von den Deutschen zu trennen, als den großen Überdeutschen zu definieren. „Goethe stand über den Deutschen in jeder Beziehung und steht es auch jetzt noch: er wird ihnen nie angehören“, hält er in Menschliches, Allzumenschliches den aktuellen nationalen Vereinnahmungsversuchen entgegen. „Wie Beethoven über die Deutschen hinweg Musik machte, wie Schopenhauer über die Deutschen weg philosophierte, so dichtete Goethe seinen Tasso, seine Iphigenie über die Deutschen hinweg.“ Offenkundig spielt Nietzsche hier auf Goethes eigene Idee der Weltliteratur in seinen letzten Lebensjahren an. „Nationalliteratur will jetzt nicht viel sagen, die Epoche der Weltliteratur ist an der Zeit, und jeder muß jetzt dazu wirken, diese Epoche zu beschleunigen.“ So Goethe zu Eckermann in seinem Gespräch am 31. Januar 1831. Dem Nationalismus des neuen Jahrhunderts suchte er durch seine kosmopolitische Kulturidee entgegenzuwirken. Der „Nationalhaß“, bemerkt er am 14. März 1830 Eckermann gegenüber, finde sich „am stärksten und heftigsten“ auf den „untersten Stufen der Kultur“. Es sei aber zu derjenigen Stufe emporzuschreiten, „wo er ganz verschwindet und wo man gewissermaßen über den Nationen steht und man ein Glück oder ein Wehe des Nachbarvolkes empfindet, als wäre es dem eigenen begegnet.“

Das waren freilich Gedanken, die der national berauschten wilhelminischen Goethe-Rezeption denkbar fern lagen. Die in den zurückliegenden Jahrzehnten oft so heftige Goethe-Kritik verstummte seit der Reichsgründung fast vollständig.

 

1919: Beschwörung des „Geistes von Weimar“

Der Zusammenbruch des Kaiserreichs sollte jedoch auch die Desillusionierung Goethes als seines großen Kulturidols zur Folge haben. Im Gegensatz zu der vielfach aggressiven Goethe-Kritik im linken literarischen Milieu der Weimarer Republik hat diese Republik selbst sich jedoch – zum Spott jenes Milieus - dezidiert dem „Geist von Weimar“ verschrieben. War die Reichsgründung 1871 nur von ihren Ideologen, nicht aber von ihren politischen Repräsentanten aus dem Geiste Goethes interpretiert worden, so wurden sein Name und sein Werk nun zum erstenmal als geistige Grundlage des neuen demokratischen Staatsgebildes beschworen. In seiner Rede in der Nationalversammlung zu Weimar am 6. Februar 1919 verkündete der spätere Reichspräsident Friedrich Ebert im Namen der sozialdemokratischen Partei: „Die preußische Hegemonie, das Hohenzollernsche Heer, die Politik der schimmernden Wehr sind bei uns für alle Zukunft unmöglich geworden.“ Jetzt gelte es - „hier in Weimar“ - die Wandlung zu vollziehen „vom Imperialismus zum Idealismus, von der Weltmacht zur geistigen Größe. Es charakterisiert durchaus die nur auf äußeren Glanz gestellte Zeit der Wilhelminischen Ära das Lassallesche Wort, daß die klassischen deutschen Denker und Dichter nur im Kranichzug über sie hinweggeflogen seien. Jetzt muß der Geist von Weimar, der Geist der großen Philosophen und Dichter, wieder unser Leben erfüllen. Wir müssen die großen Gesellschaftsprobleme in dem Geiste behandeln, in dem Goethe sie im zweiten Teil des Faust und in Wilhelm Meisters Wanderjahren erfaßt hat“.

Das Goethe-Jahr 1932 rief - am Vorabend der Machtergreifung Hitlers - noch einmal alle Fraktionen im Streit für, gegen und um Goethe auf den Plan. Die Reichsgedächtnisfeier zum hundertsten Todestag Goethes in Weimar war die letzte kulturelle Selbstdarstellung der auf den Untergang zusteuernden Weimarer Republik, ein Fest der bürgerlichen Mitte unter starker internationaler Beteiligung - von dem sich die Totengräber der Republik, Nationalsozialisten wie Kommunisten, freilich fernhielten. Sie wollten von der Wiederbelebung des „Geistes von Weimar“ nichts wissen, den die europäischen und amerikanischen Besucher dieser „Weltfeier“ als guten Geist für Deutschland herbeiriefen. Ein ganz anderes Weimar zeigte seine Zähne: es war längst eine „Zentrale des Hitlerismus“ geworden, wie Thomas Mann in seinem Vortrag Meine Goethereise feststellte.

 

1949: Goethe als Alibi

Wurde Goethe für Thomas Mann die große Gegenmacht zum Nationalsozialismus, so verhielt dieser selbst sich Goethe gegenüber weithin neutral. Anders als Schiller, Hölderlin, Kleist und die Romantiker, als Nietzsche und Wagner war er kaum je eine Berufungsinstanz der Nationalsozialisten, und so konnten seine Person und sein Werk nach dem Krieg zur Basis einer politischen und moralischen Neuorientierung im Westen wie im Osten Deutschlands werden - unter jeweils rigoros entgegengesetzten Vorzeichen. Anders als hundert Jahre zuvor kam das Goethe-Jahr 1949 genau zum rechten Zeitpunkt. Und wieder war es Thomas Mann, der mit seiner Jubiläumsrede Goethe und die Demokratie das entscheidende Stichwort für die neue Zuwendung zu Goethe gab.

Daß Goethe freilich vielfach als Alibi gebraucht, die Berufung auf ihn zum Manöver der Ablenkung von der eigenen historischen Schuld wurde, darauf haben Emigranten wie Richard Alewyn unnachgiebig den Finger gelegt. „Zwischen uns und Weimar liegt Buchenwald. Darum kommen wir nun einmal nicht herum“, bemerkt Alewyn in seiner Kölner Vorlesung Goethe als Alibi? (1949). „Es gibt Goethe und Hitler, die Humanität und die Bestialität.“ Wobei Alewyn auf das prophetische Diktum Franz Grillparzers über den Weg der Deutschen, und nicht nur ihrer, „von Humanität durch Nationalität zur Bestialität“ anspielt. Von Weimar über Versailles nach Buchenwald! 

Derlei harmoniestörende Töne waren freilich in der Nachkriegszeit nicht gefragt, im westlichen ebensowenig wie im östlichen Teil Deutschlands, in der späteren DDR. In Anknüpfung an Lenins Erbetheorie wurde hier, vor allem inspiriert von Georg Lukács, eine Aneignung der kulturellen Überlieferung mit Goethe als Zentralgestalt propagiert, welche die Arbeiterklasse zur ‘Vollstreckerin’ der humanistischen Ideale des ‘fortschrittlichen’ Bürgertums erklärte. Angesichts der Tradition der linken Goethe-Polemik von Börne über Friedrich Engels bis zu Franz Mehring blieb die autoritäre Ausblendung aller Kritik ein erstaunliches Faktum. Erneut wurde Faust als Nationaldichtung kanonisiert. Fausts Kolonisationswerk, die Zerstörung der Hüttenidylle von Philemon und Baucis, die Vision vom „freien Volk“ auf „freiem Grund“ wurden nun gar im Sinne sozialistischer Bodenreform und Kollektivierung der Landwirtschaft gedeutet.

 

Goethe 1990: kein Thema

Trat in den späteren sechziger Jahren in der Bundesrepublik Deutschland an die Stelle des Goethe-Konsenses der Adenauer-Zeit eine entschieden kritischere Haltung gegenüber Goethe bis hin zu regelrechter Klassik-Schelte - die in der Klassiker-Demontage auf den Bühnen ihr theatrales Pendant fand -, so wurde in den siebziger Jahren auch in der DDR hinter der doktrinären Fassade der Erbepflege mehr und mehr Kritik am sakrosankten Goethe-Bild laut. Gleichwohl fiel mit dem Ende der DDR die letzte Bastion des Goethe-Kults - der sich in der Bundesrepublik längst verabschiedet hatte. Die Wiedervereinigung im Jahre 1990 war der erste Gründungsmoment in der neueren deutschen Geschichte - nach der Reichsgründung 1871, der Weimarer Republik 1919 und der Schaffung der beiden deutschen Staaten nach dem zweiten Weltkrieg -, die ohne Berufung auf Goethes Werk als eines bestimmenden Kulturparadigmas auskam. Symptomatisch dafür die Neutralität der führenden deutschen Politiker gegenüber dem Goethe-Jubiläum 1999. 

Daß ein deutscher Staat auf dem Weg ins vereinigte Europa Goethes Idee der Weltliteratur, seine Verwerfung jeglichen Nationalismus und Nietzsches darauf abgestimmte Europa-Utopie als ideelles Fundament der Politik brauchen könnte - den Politikern selber kam und kommt es nicht in den Sinn, da sie Europa nur als politisch-ökonomische und nicht als Kultur-Einheit zu sehen gewohnt sind. Wieder also scheinen nach dem Wort von Lassalle und Ebert die klassischen deutschen Denker und Dichter nur im Kranichzug über Deutschland hinwegzuziehen.

 

 

 

Exkurs:
Goethe und die Deutschen

Goethe-Denkmal Frankfurt

„Wie wünschenswert ist es nicht, Zeitgenoß eines wahrhaft großen Mannes zu sein! Die jetzige Majorität der kultivierten Deutschen ist dieser Meinung nicht. Sie ist fein genug, um alles Große wegzuleugnen, und befolgt das Planierungssystem. … Daher wird Goethe, der jetzt der wahre Statthalter des poetischen Geistes auf Erden ist, so gemein als möglich behandelt“. 

So scharfzüngig nahm Novalis 1798 das Verhältnis der Deutschen zu ihrem größten Dichter aufs Korn. Wie recht er haben sollte, zeigen die Spuren der kulturellen „Planier“-Raupe bis in die Gegenwart. Und doch dürfte es keine Nation geben, in der ein einziger Name zum Synonym für ihre Kultur geworden ist – die wichtigste kulturpolitische Institution Deutschlands trägt den Namen Goethes –, keine Nation, die ein halbes Jahrhundert ihrer Literaturgeschichte nach einem Autor – als ‘Goethezeit’ – bezeichnet hat. Den Deutschen gilt Goethe fast noch selbstverständlicher als Homer den Griechen, Dante den Italienern, Cervantes den Spaniern, Shakespeare den Engländern oder Puschkin den Russen als ihr größter Dichter.  

 

 

Erdbeben von Lissabon (1755)

Zeitgenössisches Flugblatt vom Erdbeben in Lissabon 1755, Quelle: Zum-Wikipedia, URL: http://www.zum.de/wiki/index.php/Erdbeben_von_Lissabon

1755: Erdbeben von Lissabon.
1756-1763: Siebenjähriger Krieg.
1759 Voltaire: Candide. Geburt Schillers.
1762: Rousseau: Emile und Du contrat social.
1764: Krönung Joseph II. in Frankfurt zum römisch-deutschen König.
Johann Joachim Winckelmann: Geschichte der Kunst des Altertums.

Ansicht der Stadt Frankfurt

Kolorierter Kupferstich von Johann Christian Berndt (1748-1812) nach Johann Jacob Koller (1746-1805). Quelle: Goethe Museum Düsseldorf

Goethes Geburtsort: die Freie Reichsstadt Frankfurt am Main hatte, umschlossen von alten Stadtmauern, mit ihren engen Gassen und verwinkelten Häusern, noch ein ganz und gar mittelalterliches Gepräge, doch die circa 36 000 Einwohner zählende Stadt war, begünstigt durch ihre Verkehrslage an einigen belebten europäischen Geschäftsstraßen, zu einer wichtigen Handelsmetropole avanciert, deren Frühjahrs- und Herbstmessen Händler und Käufer aus vielen Ländern anzogen. Ein selbstbewußtes lutherisches Bürgertum – bestehend zumal aus Bankiers, Kaufleuten und Handwerkern -  prägte das gesellschaftliche Leben der Stadt. Seit 1562 fand jeweils in Frankfurt die Krönung des Kaisers des Deutschen Reichs statt. 1764 erlebte der vierzehnjährige Goethe selber – er hat es ausführlich in Dichtung und Wahrheit geschildert -  die Krönungszeremonien für Joseph II. mit, die wochenlang die Stadt in Atem hielten.

 

Goethes Eltern

Johann Caspar Goethe


„Mein Vater ließ mich mit meinen Possen gewähren; obgleich alterthümlicher gesinnt in religiöser Hinsicht, nahm er doch kein Arg an meinen Speculationen und Ansichten, sondern erfreute sich seines Sohnes als eines wunderlichen Kauzes.“

 

 

Catharina Elisabeth Goethe


“Da nun ein großer theil deines Ruhmes und Rufens auf mich zurück fält, und die Menschen sich einbilden ich hätte was zu dem großen Talendt beygetragen; so kommen sie denn um mich zu beschauen - da stelle ich denn mein Licht nicht unter den Scheffel sondern auf den Leuchter.“

Goethes Mutter Catharina Elisabeth 1807 in einem Brief an ihren berühmten Sohn.

Goethes Schwester

Cornelia Goethe


 „Sie, nur ein Jahr jünger als ich, hatte mein ganzes bewußtes Leben mit mir herangelebt und sich dadurch mit mir aufs innigste verbunden. [...] Sie war groß, wohl und zart gebaut und hatte etwas Natürlich-Würdiges in ihrem Betragen, das in eine angenehme Weichheit verschmolz [...;] die Züge ihres Gesichts, weder bedeutend noch schön, sprachen von einem Wesen, das weder mit sich einig war, noch werden konnte. Ihre Augen waren nicht die schönsten, die ich jemals sah, aber die tiefsten, hinter denen man am meisten erwartete, und, wenn sie irgend eine Neigung, eine Liebe ausdrückten, einen Glanz hatten ohnegleichen.“

 

Goethe und seine
Schwester Cornelia

Gemälde von Johann Conrad Seekatz: Goethe und seine Schwester Cornelia

Gemälde von
Johann Conrad Seekatz

 

 

Goethes erste Lyrik

 Erhabne Großmama!
Des Jahres erster Tag
Erweckt in meiner Brust ein zärtliches Empfinden
Und heißt mich ebenfalls Sie jetzo anzubinden
Mit Versen, die vielleicht kein Kenner lesen mag;
Indessen hören Sie die schlechte Zeilen an,
Indem sie wie mein Wunsch aus wahrer Liebe fließen.
Der Segen müsse sich heut über Sie ergießen,
Der Höchste schütze Sie, wie er bisher getan.
Er wolle Ihnen stets, was Sie sich wünschen, geben
Und lasse Sie noch oft ein Neues Jahr erleben.
Dies sind die Erstlinge, die Sie anheut empfangen,
Die Feder wird hinfort mehr Fertigkeit erlangen.

(Zum Neujahrstag 1757)

Goethes Arbeitszimmer

Rückansicht des Goethehauses


Blick aus dem Museumsgarten

 

 

 »Goethehaus Frankfurt«

Heute befindet sich an dieser Stelle das »Goethehaus Frankfurt«
www.goethehaus-frankfurt.de

 

 

Moritz von Schwind
»Die Geburt Goethes« (1844)

Allegorische Komposition mit der astrologischen Konstellation, Musen und den olympischen Göttern

 

 

Thomas Mann in Weimar

Anläßlich einer Festveranstaltung zum 200. Geburtstag Goethes 1949

 

 

Ausstellungsplakat zu den 6. Arbeiterfestspielen 1964 in Jena

Das Fach- und Kulturportal der Goethezeit